Bern ist überall

Bekanntlich liegt der Teufel im Detail. Deshalb müsste Jean Ziegler in dem Tagi-Gespräch mit Res Strehle genauer werden, wenn er behauptet, positive soziale Impulse würden heute nur aus Süd-Amerika kommen. Für Normalsterbliche ist das in Anbetracht der dort vorherrschenden Zustände irgendwie nicht nachvollziehbar. Aber sonst ist der junge Mann von 80 Jahren in dem über Ostern erschienenen Interview schwindelerregend präsent und in seiner Direktheit schlicht bewundernswert!

Unbestritten ist dagegen, dass Kalifornien jener Teil der Welt ist, der uns absolut gnadenlos mit Impulsen bombardiert. Von dort soll, gemäss einer anderen Zeitung, demnächst auch ein elektrischer Lastwagen von Tesla auf uns zurollen, was unter Umständen ein Geschenk an die Menschheit werden könnte.

Warum allerdings ausgerechnet in Berkeley, wie die gleiche Zeitung meldet, kalifornische Wissenschaftler meinen herausfinden zu müssen, warum sich unsere Schuhbändel immer wieder lösen, ist eine andere Frage. Man kann das mit den Details nämlich auch übertreiben. Ich würde einfach auf den Rat meiner Mutter an uns Kinder zurückgreifen: Besser binden!

Ich schreibe dies übrigens in einem Hotel in Banja Luka in Bosnien und fühle mich deshalb berechtigt, zu behaupten, dass man auch auf Reisen eigentlich ins Detail geht. Zusammen mit meinem Freund und Kollegen Guy Krneta bin ich unterwegs in den Kosovo, wo wir für ein schweizerisch-kosovarisches Literaturprojekt ein bisschen vorsondieren wollen. Unter anderem haben wir gestern in Details mitbekommen, was man im sonstigen Europa ziemlich verlernt hat: Wie man im Auto über eine wirklich kontrollierte Grenzen kommt! Uniformierte Gestalten hinter kleinen Luken in eigenartigen, vermutlich schusssicheren Zöllnerhäuschen. Besonders in Regen und Schnee alles ein bisschen kompliziert, alles ein bisschen bedrohlich, eigentlich grotesk und kafkaesk. Und die DDR lässt grüssen.

Sogar diesen grünen Zettel mussten wir im Handschuhfach suchen. Dass es den überhaupt noch gibt, hatte ich schon fast vergessen.

Und was hat Alexander Egger damit zu tun?

Auch dieser versierte Berner Fotokünstler geht gerne ins Detail und produziert mit seinen neusten Bildern eine Schärfung des Hinschauens, die auch Blicke in neue, sogar sehr schöne Welten ermöglicht. Einzelne Motive verwandeln sich dabei sogar in etwas grundlegend Neues. Plötzlich wächst aus einer Erdnussschale ein kleiner Palmenwald wie hier im Bild.

To behold the world in a grain of salt! Um es mit William Blake zu sagen. Auch in einem Salzkorn ist die Welt zu sehen. Mehr davon gibt es vom 21. April bis zum 6. Mai in der galerie 9a am stauffacherplatz.

Meinungsbausatz

von Gerhard Meister 5. April 2017

Ab dem ersten Mai sind in der Schweiz drei Insektenarten offiziell zum menschlichen Verzehr freigegeben: Die Wanderheuschrecke, der Mehlwurm und das Heimchen (eine Grillenart).

Die Wanderheuschrecke schmeckt nach Poulet, der Mehlwurm nach Nuss, das Heimchen wiederum erinnert mit seinem Geschmack an Popkorn und wird deshalb gerne im Zuckermantel serviert. Insekten sind reich an Proteinen, der Chitinpanzer fördert als Ballaststoff die Verdauung.

Soweit die fakefreien Fakts (sofern es sowas heute überhaupt noch gibt). Aber natürlich tun sich auch Fragen auf. Wollen die Schweizerinnen und Schweizer überhaupt Insekten essen? Werden sie sich nicht ekeln beim Biss in den Hamburger, der mit Mehlwürmern gespickt ist, von denen dann das eine oder andere Beinchen an der Zunge hängen bleibt? Was sind die Gründe dafür, dass sich Frauen vor dem Verzehr von Insekten mehr ekeln als Männer? Ist das biologisch bedingt oder werden Mädchen, wie unbewusst auch immer, eher zu diesem Ekel hin erzogen? Ist es ethisch geboten, Insekten zu essen, weil deren Produktion ja weniger Ressourcen verbraucht als die Produktion von Fleisch? Aber sind nicht auch Insekten Fleisch? Und kann man die Trennlinie zwischen zu Leid fähigen Säugetieren und den sechsbeinigen Biorobotern wirklich sauber ziehen? Ist das Essen von Insekten also noch vegetarisch? Und wie geht der Veganer damit um, dass er zwar Bedenken hat, Bienen auszubeuten und deshalb auf Honig verzichtet, die Spinne, die über die Bettdecke kriecht, dann aber trotzdem totschlägt? Und wie steht es mit den anderthalb Kilo Fliegen und Mücken und den rund zwanzig Spinnen, die jeder Mensch, ob Veganer oder nicht, im Lauf seines Lebens im Schlaf oder auf eine andere Weise unfreiwillig verschluckt? Wäre es vielleicht nicht doch angebracht, die Insekten, was ihre Stellung als Nahrungsmittel angeht, eher zu den Pflanzen zu schlagen? Aber woher, um Gottes Willen, sind wir so sicher, dass Pflanzen keine Gefühle haben? Wo sie doch besser wachsen, wenn man beim Giessen lieb mit ihnen spricht? Ist nicht jedes Lebewesen heilig? Aber wie heraus aus der Zwickmühle, dass wir uns nun einmal nicht wie die Pflanzen von Sonnenlicht ernähren können? Und die Sonne hat jetzt sicher wirklich nichts dagegen, dass die Pflanzen ihr Licht in ihre Blätter saugen, oder? Müsste der Bundesrat eigentlich nicht schon längst – statt die armen Insekten, nachdem wir sie schon totschlagen und vergiften, auch noch zum Zermalmen zwischen unseren Zähnen freizugeben –  Forschungsprojekte fördern mit dem Ziel, in unsere Schädeldecke Sonnenzellen einzubauen? Und so ein Zeitalter einläuten, in dem unser Stoffwechsel mit der Umwelt endlich in die Phase seiner ethischen Unbedenklichkeit tritt?

Natürlich fehlt es nie an guten Gründen, sich in einen klassischen russischen Roman zu verkriechen, aber heuer jähren sich auch noch jene Revolutionen zum hundersten Mal, die bekanntlich die Welt erschütterten. Auch deshalb verbringe ich schon seit einem Monat einen beträchtlichen Teil meiner Zeit staunend und tief beeindruckt an einem sehr schönen Fluss im revolutionären Russland. Ich lese «Der Stille Don» von Michail Scholochow. Das sind weit über tausend klein bedruckte Seiten in zwei dicken Bänden.

Dass man da auch mal Grund hat, an Karl Marx zu denken, versteht sich von selbst. Ganz nebenbei vernimmt man beim Lesen nämlich zum Beispiel auch, dass ausgerechnet «Das Kapital» von der zaristischen Zensur unbehelligt in das aufgewühlte Land gelangen konnte. Man nahm schlicht und einfach an, für diesen dicken, theoretischen Schinken aus England würde sich sowieso kein Mensch interessieren. Weit gefehlt!

Aber dann sitzt man im Zug und hört wie ein Tourist aus Süd-Afrika mit dem Namen Marx ein Hotel reservieren will und nicht verstanden wird: Sogar zweimal muss er ihn in sein Telefon buchstabieren: M – A – R – X! Nein: M wie Müller! A wie Achtung! R wie Roger und X wie Xylophon! Marx!

Wie tief der Bekanntheitsgrad und wohl auch der Marktwert dieses Namens aber tatsächlich gesunken ist, erfuhr ich ein paar Tage später.

Natürlich gab ich bei einem Bier mit Kollegen im Falken die kleine Anekdote aus dem Zug zum Besten und natürlich schmunzelte man. Und ein Kollege machte mich darauf aufmerksam, dass gerade an diesem Tag in der «Zeit» wieder mal ein Artikel erschienen sei mit dem Titel: «Hatte Marx doch recht?» Auch sei sein Abbild gross, aber rot und blond vorne drauf auf der Zeitung!

Als ich kurz darauf bei dem Kiosk an der Kramgasse vorbeikam, sah ich «Die Zeit» mit dem blonden Marx schon von weitem, nahm sie aus dem Regal und legte sie vor der Kioskverkäuferin auf die Ablage. Sieben zwanzig, sagte sie, und während ich die Münzen eine nach der andern hervor suchte und auf das bärtige Gesicht des alten Marx legte, das fast die ganze Titelseite beanspruchte, fragte ich die junge, schon mit geöffneter Hand wartende Frau, ob sie den kenne? Sie sagte, nein, schaute ihn aber länger genau an, dann schaute sie mich an und fragte: Das syt aber nid dir? Nein, sagte ich, das ist Karl Marx! Sie schüttelte den Kopf! Ich sagte noch, das müssen Sie sich unbedingt anschauen! Sie habe leider wenig Zeit zum Lesen, aber sie werde daran denken. Tun Sie das! sagte ich, wünschte einen schönen Abend und nahm meinen Marx unter den Arm!

Und was hat Iwan Albertowitsch Puni damit zu tun?

Dieser avantgardistische russische Maler mit italienischen Wurzeln malte mit «Armed workers in a Motorcar» wohl eines der wenigen humorvollen Bilder zu der russischen Revolution, die zu der angeblich marxistischen Sowjetunion führte. Es ist ein herrliches Bild, weiss man doch nicht, ob diese bewaffneten Revolutionäre fahren, fliegen oder schwimmen. Sicher ist, dass sie dem Betrachter etwas verloren vorkommen. Verloren war wohl auch Puni selbst, denn er emigrierte schon bald nach Berlin und dann nach Paris.

Weil er aber auch sonst grosse Verdienste hat, auch andere, sehr sehenswerte Bilder malte, ist zu hoffen, dass er an der Ausstellung vertreten sein wird, die demnächst  im Zentrum Paul Klee und im Kunstmuseum Bern aufgeht. Die Ausstellung trägt den schönen Titel: «Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!»

Wer schreibt hier? Zwei Menschen lernen sich in einem Blog kennen, separieren sich und schreiben sich ausführlich verschlungene E-Mails. Der Basler Schriftsteller Rudolf Bussmann hat einen Briefroman in digitalen Zeiten verfasst.

Die digitalen Zeiten ermöglichen das Rollenspiel zweier Menschen, die sich leibhaftig, wie es scheint, nie begegnen. Erwartet werden rasche Antworten, die gelegentlich über Tage ausbleiben und umso sehnsüchtiger erwartet werden. Wie im Briefroman loten die Schreibenden innere Zustände aus, missbrauchen das «andere Du» als namenlosen Adressaten. Und als die digitalen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, bleibt der Wechsel zum handschriftlichen Brief, der uns Mitlesenden wiederum verborgen bleibt.

Zu Anfang scheinen die Verhältnisse klar: Ein Student der Vergleichenden Literaturwissenschaft sitzt in Kopenhagen an einer Dissertation zu Hans Christian Andersen. Er wechselt E-Mails mit einer fotografierenden Künstlerin, die sich von ekligen Liebhabern aushalten lässt. Doch nach und nach zerbröckeln die Identitäten, kommen neue zum Vorschein, die kaum glaubhafter scheinen, wird Mann zu Frau, Männerfreundschaft zu gescheiterter Ehe, Künstlerin zu Sans-Papiers. Am Ende könnte das «andere Du» auch ein «anderes Ich» sein, das sich als ein anderes braucht, um erzählt werden zu können.

Die ähnliche, um nicht zu sagen gleiche Sprache der Schreibenden irritiert zu Anfang. Und die Frage, was die Beiden überhaupt verbindet, über das Schreiben aneinander hinaus. Doch nach und nach weichen die Irritationen dem Sog, den einzelne Erzählstränge auszulösen vermögen. Und immer wieder blitzen Bussmanns lakonisch-vertrakte Sätze auf, Passagen wie funkelnde Kurzprosa, die den versierten Autor, Herausgeber, Übersetzer und Literaturvermittler erkennen lassen. «Das andere Du» ist Bussmanns vierter Roman, neben etlichen Lyrik- und Erzählbänden.

Während 25 Jahren gab Rudolf Bussmann zusammen mit Martin Zingg die Literaturzeitschrift «Drehpunkt» heraus und setzte sich kenntnisreich für zahllose Kolleginnen und Kollegen ein. Auch als Leiter von Schreibseminaren und Lesezirkeln, Jurymitglied und Präsident des internationalen Lyrikfestivals in Basel ist Bussmann ein Förderer, Vermittler und kulturpolitisch engagierter Zeitgenosse. Dies lässt in der öffentlichen Wahrnehmung sein eigenes literarisches Schaffen gelegentlich etwas in den Hintergrund treten. Im Roman «Das andere Du» zeigt sich Bussmann als leichtfüssig verschmitzter Erzähler, der Fragen nicht abschliessend beantwortet.

 

Rudolf Bussmann, Das andere Du, edition bücherlese, Hitzkirch 2016

autos et totos

von Antoine Jaccoud 18. März 2017

Quatre qui jouent aux cartes. Deux qui passent de l’italien au suisse-allemand avec virtuosité. Un qui est plongé dans les tests du Auto Bild et qui ne dit rien. Un gros qui dort depuis Palézieux, on le réveillera à Genève-Aéroport. Un avec sa femme, elle a des tatouages sur les seins. Un qui se fait du mouron pour ses bêtes qu’il a laissées à l’aide polonais ce matin. Un qui se fait du mouron pour son bureau de ferblanterie qu’il a laissé à son contremaître ce matin. Trois qui disent des phrases avec souvent le mot BMW dedans. Plusieurs avec du ventre.  Plusieurs aussi avec des chaussures Mephisto couleur café au lait. Un avec un superbe décolleté du camionneur quand il s’est levé pour aller aux toilettes. Beaucoup avec des bières. Certains avec le Blick.  Plusieurs en train pour la première fois, plein tarif, sans GA ni Halbtax.  Un visiblement pour la toute première fois en route pour Genève, peut-être même en Suisse romande. Passé Rolle, il contemple le Mont-Blanc, le trouve de toute beauté et se demande ce que c’est cette montagne.  On les retrouvera tous et toutes ce soir avec des catalogues Subaru, des prospectus Kia, une offre de leasing avantageuse et des casquettes du Touring Club Suisse. A Genève, c’est le salon de l’Auto, pour les totos aussi. 

Es geht hier nicht um Goethe, er ist nur der Anlass für ein paar Gedanken über  die Länge des menschlichen Lebens im Verhältnis zur historischen Zeit. Wie ich dazu komme, mir solche Gedanken zu machen? Keine Ahnung. Aus mir unbekannten Gründen kam ich vor dem Einschlafen plötzlich in ein Spiel mit Jahreszahlen hinein und dies, so scheint mir wenigstens, mit erstaunlichem Resultat.
Goethe, dies der Ausgangspunkt, stirbt 1832 im Alter von 82 Jahren. Goethe hatte für seine Zeit ein sehr langes Leben, heute sind 82 Jahre, wenigstens in der Schweiz, die durchschnittliche Lebenserwartung.

Nun die kleine Rechnerei, die ich anstellte: Wie manches solches durchschnittliche Leben ist Goethe von uns entfernt? In meiner Vorstellung lag die Zeit Goethes immer in wirklich  weit vergangener Zeit. Erst durch eine lange Kette von Ururur- und nochmal Urgrosseltern, so schien es mir, gelangt man zu den Vorfahren, die damals gelebt haben, als es noch kein Telefon gab, keine Eisenbahn, die Fotografie kaum erfunden war und fast überall in Europa noch der Adel herrschte.
Aber in heute durchschnittlichen Leben gemessen, sind es nicht viel mehr als zwei Lebensspannen, die uns von Goethe trennen. Jemand mit Jahrgang 1832, der mit 82 stirbt, tut das im Jahr 1914. Jemand mit Jahrgang 14, der mit 82 Jahren stirbt, tat das 1996.
Mit den Jahren von zwei heute durchschnittlichen Leben gelangt man aus der Zeit Goethes in die Zeit des Internets.

Ist das nur für mich kontraintuitiv? Ist es nur mein Gefühl, dass da viel mehr dazwischen liegen müsste? Und woher kommt dieses Missverhältnis zwischen meiner Vorstellung und dem, was die Zahlen sagen? Ich denke, es gibt auf diese Frage nur eine plausible Antwort. In der Zeit, die zwischen uns und Goethe liegt, hat sich das Tempo des historischen Wandels derart erhöht und ist geradezu ins Galoppieren geraten, dass im Vergleich dazu ein menschliches Leben zu etwas unglaublich langem geworden ist, das mehrere historische Epochen überdauert.

In allen Jahrhunderten vor Einbruch der Moderne hat man die Kürze des menschlichen Lebens beklagt, das ja damals tatsächlich an Jahren viel kürzer war. Aber noch wichtiger ist wohl: man wurde damals in eine Welt hinein geboren, die sich in ihren Grundgegebenheiten im Lauf des eigenen Lebens kaum veränderte.

Blickt aber heute ein Mensch, der in der sogenannten Mitte seines Lebens steht, auf die Zeit seiner Geburt, so sieht er in eine Welt zurück, die so weit entfernt ist von seiner Gegenwart und von dieser so verschieden, dass es ihm seltsam und etwas unwirklich vorkommt, dass er damals auch schon unter den Lebenden war. Und dieser Mensch hat , wenn er bekommt, was ihm die statistische Wahrscheinlichkeit verspricht, noch einmal die gleiche Zeitspanne an Leben vor sich. Er wird also am Ende seines Lebens auf die jetzige Gegenwart zurückblicken als eine unglaublich weit zurückliegende, längst historisch gewordene Zeit. Zu diesem Blick zurück wird vielleicht ein Gefühl von Bitterkeit gehören darüber, welch schlechte Wendung die Geschichte in der zweiten Hälfte seines Lebens genommen hat. Oder dann, auch wenn das heute niemand zu hoffen wagt, blickt dieser Mensch mit einem Gefühl von Erleichterung zurück auf die finsteren Zeiten, denen die Menschen seither entronnen sind. Niemand weiss das heute zu sagen. Diese Zukunft ist nur ein halbes Leben entfernt und liegt trotzdem hinter jeder Ahnung verborgen.

Vorgestern erschien in der NZZ unter dem Titel Die letzte Reiterschlacht Europas ein Rückblick auf die Abschaffung der Kavallerie vor 35 Jahren. Offensichtlich gab es mehr Widerstand als man heute annehmen würde. Eines der eher abenteuerlichen Argumente der Gegner der Abschaffung  lautete, man kenne bei der Kavallerie weder Dienstverweigerung, noch Langhaarprobleme. Die stolzen Dragoner galten als Elitetruppe. Nach anhaltendem Ringen zwischen National- und Ständerat siegte dann doch die Vernunft und die Kavalleristen wurden zu Panzergrenadieren umgeschult.

Was in diesem Zusammenhang selten erwähnt wird, ist die Tatsache, dass die «Eidgenossen», wie man die vom Bund gestellten Kavalleriepferde nannte, im Grauholz akklimatisiert und dann in der EMPFA (Eidgenössische Militärpferdeanstalt) in Bern für ihre Aufgabe zugeritten wurden. Um sie an Verkehr und Lärm zu gewöhnen, wurden die Pferde auch durch die Strassen und Gassen der Stadt geritten und prägten den öffentlichen Raum, vor allem die Quartiere rund um die Allmend, in einem Ausmass, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann.

Auf der Allmend sah man sie im Galopp, auf den Strassen in kleinen und grossen Gruppen und weil sie auch zu Zugpferden ausgebildet werden mussten, oft vor kleine Wagen gespannt, auf welchen oben ein Kutscher sass und hinten sicherheitshalber ein Bremser stand, der an einer Kurbel drehte und notfalls einem scheuenden Pferd an den Zaum greifen konnte.

Noch gibt es unter Berns traditionellen Musikgesellschaften als Überbleibsel die Bereiter Musik, wenn auch nur als Abglanz einer einst aufsehenerregenden berittenen Kapelle. Wenn, um ein bisschen in Nostalgie zu schwelgen, das Trommeln der Hufe und die Fanfaren der Bereitermusik zu hören waren, war grosser Zirkus angesagt. Ein vorausreitender Tambourmajor vollführte mit seinen Schlegeln wilde Kapriolen, während er seinen mächtigen Schimmel mit den an den Füssen befestigten Zügeln führte und auf zwei grossen, dem Pferd seitlich aufgeschnallten Pauken, wirbelte.

Nichtsdestotrotz, mit den Pferden verschwand auch der Berufstand des Bereiters. Ja, man sagte «Bereiter» und nicht «Beryter». Und es waren viele. In meiner Sekundarschul-Klasse nannten immerhin zwei Mitschüler «Bereiter» als Beruf ihres Vaters. In einer Parallelklasse sass auch der Sohn des vielleicht berühmtesten Bereiters aller Zeiten. Er hiess Henri Chammartin und hatte an den Olympischen Spielen in Rom 1960 ein Goldmedaille im Dressurreiten gewonnen. Und zwar in militärischer Uniform. Immerhin.

Und was hat Kasimir Malewitsch damit zu tun?

Dieser grosse Russe hat sich nicht nur durch sein berühmtes Schwarzes Quadrat verdient gemacht, er ist schlicht ein grosser Maler und hat das einzige schöne Kavalleriebild gemalt, das mir bekannt ist.

Mein Leben als Zucchini

von Guy Krneta 22. Februar 2017

«L’autobiographie d’une courgette» von Gilles Paris soll bereits nach Erscheinen 2002 ein Bestseller geworden sein. 2004 erschien das Buch in deutscher Übersetzung: «Autobiografie einer Pflaume». Das Buch ist, wie ich lese, in kindlich naiver Sprache verfasst, die von den Einen als berührend und überzeugend, von Anderen als konstruiert und unglaubwürdig beschrieben wird.

Hätte ich das Buch damals in die Hände bekommen, hätte mich der Titel vermutlich abgeschreckt. Und wenn ich dann noch erfahren hätte, dass es sich beim Autor um den Pressechef eines grossen Pariser Verlagshauses handelt, hätte ich das Ganze als kalkuliertes Machwerk abgetan: Sozialkitsch in Kindersprache.

Nun aber begegnet mir der Stoff in verblüffend verfremdeter Form im Animationsfilm «Ma vie de Courgette» – «Mein Leben als Zucchini» von Claude Barras. Der Film sei mittels Slow-Motion-Technik Bild für Bild geschaffen worden, lese ich. Die Wirkung, die dabei entsteht, Kinder im Jugendheim mit grauenhaften Biografien als phantastisch verzerrte Playmobilfiguren auftreten zu lassen, ist erschütternd.

Barras scheint Erzählton und Stoff gleichzeitig verlassen und verschärft zu haben. Schon die neue Titelung gibt Hinweise auf die Eingriffe: «Mein Leben als Zucchini» führt auf assoziative Fehlspuren, ist verquer poetisch und schwächt das Selbstdemütigende des ursprünglichen Titels. Wenn die Hauptfigur «Icare» im Jugendheim darauf besteht, als «Courgette» angesprochen zu werden, schwingt darin auch eine Form von Stolz und Trotz mit. Warum die Mutter ihr Kind lebenslang als «Zucchini» bezeichnet hatte, bleibt gewissermassen offen.

Während im Original die Mutter versehentlich vom Kind mit einem Gewehr erschossen wurde, ist es bei Barras die Tür zum Dachstock, die das Kind zuschlägt – was zum Tod der Mutter führt. Und während das Kind bei Gilles Paris einsam mit Äpfeln spielt, spielt es bei Barras mit den leeren Bierdosen der Mutter.

Barras sei es, lese ich, ein Anliegen gewesen, den Stoff auch für Kinder zu öffnen. Durch die künstlichen Figuren sind die im Roman neun- oder zehnjährigen Kinder alterslos geworden, sie schicken sich Zeichnungen statt Briefe und erklären sich gegenseitig die Sexualität. Das ist für Kinder ab Schulalter eben so nachvollziehbar wie für Teenager und Erwachsene.

Dabei wird das Jugendheim gegen unsere Erwartung als freundlicher, heimischer Ort erzählt. Und wenn am Ende zwei der Kinder vom sympathischen Polizisten adoptiert werden, ist die Zwiespältigkeit des Happy Ends offensichtlich: Warum werden die Kinder gerade jetzt getrennt, wo sie eine solche Vertrautheit und Solidarität entwickelt haben?

«Ma vie de Courgette» ist ein ausserordentlicher, bemerkenswerter Film. Wäre ich Lehrperson, ginge ich mit allen meinen Klassen sofort ins Kino.

Der Film «Ma vie de Courgette» läuft aktuell im Kino Movie sowie in den Kitag Cinemas Gotthard und dem Pathé Westside.

Eros & Thanatos

von Antoine Jaccoud 15. Februar 2017

On voit des fêtes et des rituels disparaître tandis que d’autres semblent prospérer sur l’humus de la sécularisation et du marché  généralisé.

Noël part en sucettes sous des décoration de plus en plus sinistres, les lapins de Pâques en chocolat sortent éprouvés des tests menés par les associations de consommateurs, et personne ne m’a plus invité depuis des lustres à manger une tarte aux pruneaux le jour du Jeûne Fédéral (dont tout le monde ou presque ignore le sens et l’origine). Pentecôte, les Rameaux et l’Ascension sont devenus des jours fériés plus propices à la visite des châteaux de la Loire ou à une sortie à vélo dans les Franches-Montagnes qu’à la fréquentation de la paroisse de son quartier (me voici adoptant soudain un ton pastoral, que se passe-t-il?).

La Saint-Valentin en revanche se porte bien. On aime célébrer ici, et de plus en plus dirait-on, l’amour, ou le spectacle de celui-ci, sous toutes ses formes. Chacun semble en effet vouloir tirer parti de cette belle et saine opportunité d’ aimer, ou à tout le moins déclarer son amour, encouragé en cela par des medias décidés à se parer de rose pour la journée, et à livrer leurs colonnes aux experts du commerce amoureux. La maîtresse encore allongée à côté de son mari en proie à de pénibles apnées du sommeil envoie une nuée d’émoticônes à son amant, le sachant déjà dans sa voiture. Le mari en costume Hugo Boss qui travaille à Berne revient avec des roses dans sa villa de Romont.

Beate Uhse fait, on parle ici de la caisse des boutiques, sa plus belle journée de l’année. Boulangers, confiseurs et même mon boucher travaillent à donner une forme de coeur à leur marchandise, du carac au hamburger. Cependant que les bus de la ville où je réside alternent sur leurs divers écrans messages d’information pure et slogans du type “vive les amoureux”. Voilà la vie transformée: l’amour est partout, le coeur est l’organe principal au service de nos comportements, Eros triomphe.

Derrière la porte, je vois, moi qui suis pessimiste, Thanatos attendre au volant de son camion-balai, décidé à ramasser confettis et condoms avant même le lever du soleil. 

Ist Gott ein Verb?

von Ruth Loosli 14. Februar 2017

Wir werben mit einem Nomen

das nur einen Namen hat

und viele gingen verloren.

 

Das Verb hingegen

vervielfältigte sich:

 

Schöpfen schustern

lispeln lavatern.

 

Auf dem Berg standen wir

die Grenze war Luft

war Wort (egal welcher Herkunft)

war Himmel und Aussicht.

 

Der Himmel hob seinen Rock

um uns zu verführen

zu bezirzen und bewirten und

 

ja um die Frage ganz oben zu

beantworten: ein Verb im Infinitiv

 

Zum Tod von Kurt Marti, Februar 2017

Globale Bewegungsfreiheit für alle. Das fordert in seinem soeben erschienen Buch der Philosoph Andreas Cassee. Letzte Woche war er bei einem Atelier über freie Migration dabei, das im Rahmen des Reclaim-Democracy-Kongresses in Basel abgehalten wurde. Und das Interesse war gross, der Saal bis auf den letzten Platz besetzt, die Stimmung gut. Die aus christlichen Kreisen lancierte Migrations-Charta, die biblisch-theologisch unterfuttert ist, erhält Sukkurs aus der Philosophie und das erst noch von einem so sympathischen und wunderbar klar argumentierenden Menschen wie Cassee.

Sogar in der grossen Besprechung, die die NZZ dem Buch widmet, bleibt seine Argumentation  unbestritten, wonach es keine moralische Rechtfertigung gebe, Menschen daran zu hindern, sich dort niederzulassen, wo sie wollen. Ja, die NZZ macht aus der globalen Niederlassungsfreiheit sogar ein Postulat des Liberalismus. Warum dann aber Cassees Plädoyer für die globale Bewegungsfreiheit dennoch nur „ein schönes, aber letztlich vergebliches Gedankenspiel“ bleibe, wie die NZZ schreibt, das hat seine Gründe nicht in der Philosophie, sondern in der harten Wirklichkeit des menschlichen Egoismus. Unsere modernen Staaten bieten ihren Bürgern sehr viel: Sicherheit, Infrastruktur, Sozialwerke, und sie privilegieren mit diesen Leistungen ihre Bürgerinnen und Bürger gegenüber Menschen, die das Pech hatten, am falschen Ort auf die Welt zu kommen in einem Staat, der nichts für sie tut, und mit dessen Pass sie nur in Staaten reisen können, die ebenfalls nichts zu bieten haben. Die Bürgerinnen und Bürger der reichen Staaten wollen ihre Privilegien nicht teilen, und nirgends ist eine politische Kraft in Sicht, die sie dazu zwingen könnte, es doch zu tun.

Am Schluss des Ateliers wies Verena Mühlethaler, Pfarrerin an der City Kirche St. Jakob, auf die Sans-Papiers in Zürich hin, die mit neuen behördlichen Verfügungen noch mehr schikaniert werden. Und das ist der Schatten, der über dieses Atelier fiel: realpolitisch eröffnen sich mit dem Plädoyer für offene Grenzen im Moment kaum neue Möglichkeiten, es bleiben Solidaritätsbekundungen im harten Gegenwind der herrschenden politischen Kräfte.

Wie düster es werden kann, wenn man sich auf Realpolitik einlässt, das zeigte dann die Nachmittagsveranstaltung von Reclaim Democracy. Es stand eine Plenarveranstaltung mit Srécko Horvat auf dem Programm. Horvat ist ein brillanter Kopf,  gehört in seinem Heimatland Kroatien zu den führenden linken Intellektuellen und ist gesamteuropäisch sehr gut vernetzt, kennt also die Diskurse und Probleme des Kontinentes und hatte und hat Gelegenheit mit vielen Leuten zu reden und zusammenzuarbeiten. Und so einer kommt dann also zum Schluss, dass in Europa alle Zeichen auf Krieg stünden. Warum die Situation heute so sehr derjenigen Europas vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gleicht, dafür blieb er zwar die schlagenden Argumente schuldig, und man darf also hoffen, dass sich Horvat in diesem Punkt schlicht in seine Untergangsstimmung verrannt hat. Aber sein Statement bleibt trotzdem symptomatisch für die Gegenwart, in der die Vision einer besseren Welt je länger je mehr zur Flaschenpost wird für eine Zeit in unbestimmter Zukunft, von der uns Rückschläge und Katastrophen trennen, an deren Möglichkeit wir bis vor kurzem nicht geglaubt haben.

 

Buch: Andreas Cassee: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Suhrkamp 2016

Da meint man doch tatsächlich, mich darauf aufmerksam machen zu müssen, dass es Menschen gibt, die demnächst an sieben Tagen auf sieben Kontinenten sieben Marathons laufen wollen, worauf ich mir sofort die Frage stelle: Warum eigentlich nicht acht Marathons an acht Tagen auf acht Kontinenten? Oder noch besser: Neun Marathons an neun Tagen auf neun Kontinenten? Und warum eigentlich nicht 20 Marathons an 20 Tagen auf 20 Kontinenten und dazu möglichst noch je drei Doppelmarathons auf dem Mond?

Ähnlich ergeht es mir mit Berichten aus der Welt des Bergsteigens. Das heisst, aus einer Welt, die mich einst tatsächlich zu interessieren und zu faszinieren vermochte. Wenn ich aber mittlerweile höre, wie jemand innert kürzester Zeit sieben Viertausender besteigen will, frage ich mich sofort, warum nur sieben? Wenn es doch ums Zählen geht, dann kann man sich auch 20 oder 50 Viertausender vorstellen. Warum also nur sieben?

Und wenn es aus irgend einem Grund besser ist, in zwei bis drei Stunden die Eigernordwand hinaufzuseckeln, anstatt in einem ganzen Tag oder gar in jenen vier Tagen, welche die Schlafmützen von Erstbesteigern benötigt haben sollen, dann soll mir jemand erklären, warum es nicht noch viel besser wäre, die Eigernordwand in weniger als einer Stunde hinter sich zu bringen? Oder noch besser: So schnell, dass man die Bergsteiger gar nicht mehr sehen kann, damit die Welt nicht mehr zuschauen muss, wie sich die armen Extremisten abrackern, als wären sie Sklaven in einer Tretmühle oder Hamster in einem Hamsterrad und nicht freie, vernunftbegabte Menschen.

Was hat das mit Dieter Seibt zu tun?

Der zwar in Lausanne wohnhafte, der Stadt Bern aber seit Jahren verbundene Maler, Zeichner und Musiker ist ein Statthalter jener Form von Empfindsamkeit, die sich im Leerlauf einer hirnrissigen Eventkultur in der Kunst eine Insel der Menschlichkeit und der Ruhe zu bewahren sucht. Widerständig, aber auch der Schönheit, dem Glück des gelungenen kleinen Moments verpflichtet. Bescheiden, aber gewissenhaft ehrlich auf der Suche nach Auswegen, auch wenn dieser Ausweg nur eine kleine Lichtvision in Form eines kleinen Fensters ist, wie hier in diesem Aquarell auf Japanpapier im stolzen Eigenbesitz.

Wo der Zeitgeist mit dem Vorschlaghammer des so fantasielosen Noch eins drauf und noch eins drauf daherkommt, kann man sich an Dieter Seibts feinen Strichen und seinem Gefühl für die Anmut und für das Gleichgewicht der Farben laben.

Gewinnsteigerung mit Burka

von Guy Krneta 25. Januar 2017

Noch selten haben sich bei einem Urnengang die beiden Gesichter der SVP so ungeschminkt übereinandergeschoben wie im Vorfeld der Abstimmungen vom 12. Februar.

Einerseits macht die Partei mit Burka-Plakaten Stimmung gegen ein Anliegen, das ihr schnurzpiepegal ist. Anderseits geben sich die «konservativen Revolutionäre», wenn es um Steigerung ihrer eigenen Aktionärsgewinne geht, als angeblich besonnene Systemerhalter.

Bei der erleichterten Einbürgerung von Eingewanderten dritter Generation geht es um Menschen wie beispielsweise mich (in jüngeren Jahren), die als SchweizerInnen hier geboren sind, deren Eltern bereits als SchweizerInnen hier geboren wurden… was mich zufälligerweise zum Nichtbetroffenen macht, ist die Tatsache, dass meine Grossmutter als ausgebürgerte Schweizerin bereits 1953 mit ihren Söhnen erleichtert eingebürgert wurde, während nur der Grossvater staatenlos blieb.

Unter diesen paar tausend Nicht-Papierlischweizern also werden sich ähnlich viele SVP-AnhängerInnen finden wie in der übrigen Stimmbevölkerung. Und eine Annahme des Anliegens führt höchstens dazu, dass die statistische Zahl von NichtschweizerInnen im Land leicht sinkt.

Mit ihrem absurden Abstimmungskampf treibt die SVP ihre Symbolpolitik auf die Spitze, bereitet die nächste Burka-Abstimmung vor, erinnert ein bisschen an ihre nicht umsetzbare Masseneinwanderungsinitiative, empfiehlt sich weiterhin als zuverlässig fremdenfeindliche Kraft und verschleiert mit viel Geld, worum es ihr tatsächlich geht.

«Was tipp topp läuft an der aktuellen Gehässigkeit im Zusammenhang mit der ‚Erleichterten Einbürgerung` – es redet kaum noch jemand von der UStR3…», postete denn auch der Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Schmid bei Facebook. Während Magdalena Martullo Blocher in der «Südostschweiz» betont unaufgeregt an die soziale Verantwortung der Bevölkerung appellierte: «Mit der Unternehmenssteuerreform sichern wir unsere Zukunft und attraktive Arbeitsplätze für unsere Jugend. Machen Sie mit!»

Eine Ahnung, wieviel Geld Unternehmen und Aktionäre künftig auf Kosten von Gemeinden und Kantonen nicht versteuern müssten, ergibt ein kleines Rechenbeispiel, dessen Zahlen von Frau Martullo stammen: «Neben den (…) Hochschulen wenden die Unternehmen selber rund 13 Milliarden Franken jährlich für Forschung und Entwicklung auf», schreibt sie. Diese Aufwendungen sollen künftig bis zu 150% steuerlich abgezogen werden können, das wären neu also gegen 20 Milliarden Franken. Bisher wurden – gemäss Martullo Blocher – «rund die Hälfte der privaten Schweizer Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen (rund 6 Milliarden Franken)» steuerlich privilegiert.

Bezogen auf ihren eigenen Betrieb schreibt Martullo Blocher: «Mit der Steuerreform III wird die Ems-Chemie zwar zunächst mehr Steuern, mit der Spezialbesteuerung jedoch etwa gleich viel Steuern bezahlen wie heute. Die Ems-Chemie wird mit der Reform aber mehr am Standort Domat/Ems investieren können.» Wie diese wundersame Geldvermehrung im Detail zustande kommt, verrät uns Martullo Blocher indes nicht.

In der Zwischenzeit haben sich andere bürgerliche Stimmen zu Wort gemeldet, wie die ehemalige Finanzministerin Eveline Widmer Schlumpf oder der frühere Präsident der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren FDP-Mann Christian Wanner. Sie warnen vor Millionenlöchern bei Gemeinden und Kantonen, insbesondere wegen unabsehbarer fiktiver Zinsen am eigenen Vermögen, die künftig in Abzug gebracht werden sollen.

Vielleicht – hoffen wir es – wurde diesmal ein bisschen zu viel unter die Burka gepackt.

Orientales

von Antoine Jaccoud 17. Januar 2017

Je regarde la nouvelle affiche lancée par l’UDC, ou plutôt par « un comité proche » de ce grand parti suisse. Celle qui nous montre une femme supposément diabolique qu’il faut à tout prix tenir éloignée des procédures de naturalisation facilitée. Dans l’espace du visage laissé visible par la burka, je vois toutefois un visage harmonieux, aux traits fins, des yeux en amandes et des sourcils admirablement dessinés ; et je devine sous l’étoffe un nez bien proportionné, et une bouche d’égale beauté. Je me demande dès lors pourquoi cette personne, que je devrais assimiler à une terroriste ou à tout le moins à une islamiste fanatique totalement inadéquate aux mœurs qui dominent dans mon pays, est représentée sous une si désirable apparence; et si le propagandiste qui a mis son agence et sa plume au service de la communication des « proches » de l’UDC s’en est rendu compte. Je me demande alors si cet homme – car je ne peux pas imaginer ces “proches” confier leur propagande à une femme – n’est pas sujet à des fantasmes orientalistes, ou coloniaux. Comme le furent avant lui les légionnaires, les préfets français des wilaya de l’Algérie française ou Michel Sardou chantant « Musulmanes ». Je me demande aussi si cet homme rêve de soulever délicatement cette burka et d’embrasser cette femme sur des lèvres à la saveur de dattes. Je me demande encore si cet homme a des photos de femmes arabes dans le casier qu’il loue à l’année au fitness, et s’il tape « arabian woman» sur son clavier à chaque fois qu’il va sur you porn. Je me demande enfin s’il goûte aux danses du ventre des palaces de Casablanca, ou aime aller aux poules lorsqu’il séjourne à Istanbul avec ses collègues proches de l’UDC. Et voilà que je finis par le trouver presque sympathique. Il a voulu me faire peur avec sa veuve noire. Il m’a plutôt dit à son insu qu’il kiffait les femmes orientales. Qu’elles le fascinaient peut-être. Et m’a convaincu que l’UDC pourrait être un tigre de papier – si on se payait sa tête un peu plus souvent.

Gerade habe ich Urs Mannharts Roman Bergsteiger im Flachland zu Ende gelesen, die letzten 70 Seiten an einem Stück, atemlos, wie es heisst. Was macht das Buch so grossartig und aussergewöhnlich?

Nun, es lässt mich als Bewohner der Komfortzone Welten erleben, mit denen ich nichts zu tun habe, ja von deren Existenz ich nicht einmal weiss. Damit tut das Buch das gleiche wie sein Held Thomas Steinhövel, der zwar in Langenthal wohnt, der durchschnittlichsten und langweiligsten Schweizer Stadt, der aber auch Journalist ist und herumreist, um aus seinen Eindrücken und Erlebnissen Reportagen zu machen. Aber der Roman ist keine Reportagensammlung, auch wenn man auf seinen über 600 Seiten weit herumkommt, von Rumänien bis zu den Erdbeerfeldern in Südspanien, von Finnland bis Rom, von Moskau bis Langenthal und von Den Haag nach Serbien und in den Kosovo.

Schon eher könnte man sagen, der Roman sei eine Sammlung von Geschichten, die dadurch verbunden sind, dass sie alle ins Leben von Thomas Steinhövel und seiner Schwester Marlene hinein spielen. Die beiden sind zwar Schweizer, allerdings, wenn nicht unzeitgemässe, so doch wenig repräsentative Schweizer. Sie ziehen sich nicht zurück in ihre Wohlstands- und Sicherheitsblase und haben Angst vor allem, was sich ausserhalb dieser Blase abspielt und sie bedroht. Nein, sie halten sich durchlässig für das, was da draussen passiert, durchlässig für das Schicksal von Menschen, deren Leben von Krieg, Armut oder schlicht von fehlenden Papieren verwüstet wird. Er tut das als Reporter, sie als Juristin, zuerst bei Amnesty International in Bern, dann am internationalen Gerichtshof in Den Haag. Für beide ist der Beruf auch Berufung. Sie sind betroffen vom Leiden der anderen, und sie engagieren sich im Versuch, auf dieses Leiden aufmerksam zu machen oder es zu lindern.

Ich weiss nicht, wie sehr Wörter wie „betroffen sein“ oder „sich engagieren“ heute noch antiquiert wirken, wie sehr man noch verpflichtet ist, Entwarnung zu geben mit der Versicherung, das Buch sei aber nicht moralisch oder moralinsauer – die fröhlichen Jahre des Anythings goes sinken immer weiter in die Vergangenheit zurück, Moral ist wieder Thema und ganz bestimmt ist es das Gewicht der Wirklichkeit.

Trotzdem: Bergsteiger im Flachland ist kein moralisches Buch. Es ist immer wieder auch witzig, und es ist auch Liebes- und Abenteuerroman. Aber es ist ein Buch über die Wirklichkeit und über das wirkliche Leben. Und das ist das beste am Buch. Wie es der Autor schafft, der politischen und sozialen Wirklichkeit Europas mit seinen Geschichten Leben einzuhauchen.

In keiner Szene fehlt das Detail, das einem das Gefühl gibt, wirklich dabei zu sein, und jede der Figuren, denen man im Roman begegnet, ist wie aus dem Leben gegriffen, und das heisst, ein ganz normaler Mensch und in seinem Handeln verständlich ohne ein Gran Exotismus. Auch dann, wenn es sich bei diesem Menschen um einen Berufskiller handelt. Aber gerade das ist das Anliegen des Buches, und das macht es so packend und anrührend, dass es ganz normale Menschen zeigt, die nichts anderes wollen, als ein normales Leben führen. Und dies nicht können, weil Krieg herrscht, weil sie arm sind, weil ihr Pass sie nicht schützt.

Weiter geht es mit Heinz Egger

von Beat Sterchi 22. Dezember 2016

Es ist ein grauer Morgen vor Weihnachten. Der Nebel hat sich eben erst gelichtet. Ich stehe an der Brüstung der Münsterplattform, atme tief, spüre die kalte Luft und schaue hinunter auf die Aare. Verhalten und mager kommt sie daher, ihr Rauschen ist verstummt, die Schleusen sind geschlossen. Die Kiesbänke zeigen ihre im Fluss des Jahres gewonnenen Konturen. Fischreiher ist keiner zu sehen, aber kurz zuvor hatte ich eine Krähe aufgescheucht, die mich ziemlich respektlos in hochmütigem Flug umkreiste und dazu, wie es sich für eine Krähe gehört, dreimal krähte.

Gegenüber in der Englischen Anlage kläfft jetzt ein Hund und vom Münster her rückt eine kleine Gruppe von Asiaten an. Sie fuchteln mit ihren Selfie-Sticks ein bisschen herum und verschwinden ebenso schnell wie sie gekommen sind. Im Sandkasten liegen ein paar bunte Spielzeuge, ein Obdachloser, der seine Sachen auf einer Bank geparkt hat, geht auf und ab, um sich warm zu halten. Auf dem Weg zum Café an der Ecke höre ich einen Wortwechsel auf Französisch zwischen einem Mann und einer Frau, die sich streiten, sich dann umarmen und lachen.

Ich trinke einen Kaffee, esse dazu ein Gipfeli, die Zeitungen an der Wand stören mich nicht. Der Kellner bedankt sich höflich, als ich zahle und gehe. Auf dem Vorplatz der Plattform kommt U. aus seinem Hauseingang. Er setzt sich einen Helm auf den Kopf und steckt einen Schlüssel in das Schloss seines dort stehenden Velos. Ich wünsche einen schönen Tag. «Merci, glychfaus», sagt er. «Dir o no ä schöne Tag!» Und im Weitergehen nehme ich mir vor, mich genau daran festzuhalten.

Mehr Welt brauche ich im Augenblick gerade wirklich nicht.

  

Und was hat Heinz Egger damit zu tun?

 

Durch die Umschlagbilder und Zeichnungen für die Bücher von Klaus Merz ist der Burgdorfer Heinz Egger vielen vertraut. Dieses Burgdorfer Urgestein ist ein hochsensibler Zeitgenosse, der immer wieder verblüfft durch die Leichtigkeit, mit der er der Brüchigkeit unserer Zeit Form zu geben versteht. In dem kleinen Bild «Müdigkeit» sehe ich meine eigene Überforderung in diesen wieder mal besonders finstern Zeiten und sehe darin auch die Notwendigkeit, den eignen Kern zu schützen, sich selbst möglichst rein- und rauszuhalten. Eine andere Möglichkeit scheint es auch kurz vor Weihnachten leider nicht zu geben. Trotzdem: Kopf hoch, frohes Fest und alles Gute für das neue Jahr!

Fuck Fake Fakte

von Guy Krneta 14. Dezember 2016

Fakte sy Fakte. U Fake isch Fake. U Fake sy keni Fakte. U Fakte sy ke Fake. U gfakti Fakte sy Fake. U Fake blybt Fake. O we d Fakte-Faker dr Fake zu Fakten erkläre. U d Fakte zum Fake.

We d Fakte-Faker erkläre, Fakte syge scho geng numen e Fake gsi. U ds Fake vo Fakte deck dr Fake vo Fakte numen uuf. Es gäb keni Fakte, nume Fake. U gfakti Fakte syge nid weniger faktisch aus Fakte, wo sech für Fakte hauti.

We sech dr Fake vrbreit wi Fakte, schaff’r Fakte. U de müessi d Fakte gäge d Fakten aaträte. Die Zyte syge vrby, wo me gmeint heig, es gäb Fakten u Fake. Hüt git’s Fakten u Fakte. U de chönn me luege, wär sech meh vrbreit. D Fakten oder Fakte. Öb me meh de Fakte gloub, wo sech für Fakte haute. Oder de Fakte, wo d Fakte für Fake hauti.

Fuck Fake-Fakte. Fakte sy Fakte. U Fake isch Fake. U blybt Fake. U Fakte blybe Fakte.

 

(Die Aufführung IN FORMATION hat am 17. Dezember in der Schiffbau Box in Zürich Premiere)

A Zwierzynec (extrait)

von Antoine Jaccoud 8. Dezember 2016

….On se leva. Les chaises raclèrent le sol. Les verres furent vidés. Les smartphones enfournés dans les poches et tout le monde sortit. J’examinai mes camarades. Le distributeur tchèque semblait en pleine forme. Les responsables des cinéclubs de Biélorussie aussi. Les dames d’Ukraine étaient certes un peu rougissantes mais marchaient droit. Le vieux coq de Tbilissi semblait avoir 30 ans. Quelle santé, me dis-je.

Le mini-zoo de mon ennemi personnel l’aubergiste portait bien son nom, ce n’était pas celui du Bronx ou le Jardin des Plantes, mais tout son charme provenait de l’audacieux mélange des espèces. Les autruches coexistaient avec les vaches. Les ânes fréquentaient les émeus. Des zèbres, enfin, coexistaient avec des porcs. Aucun de nous, malgré nos voyages à Cannes, Locarno ou San Sebastian, n’avait jamais rien observé de pareil. On vit donc les animateurs du ciné club de Minsk se pencher avec curiosité sur les grillages accouplant les émeus et les ânes, les Ukrainiennes tenter de lancer du pain aux zèbres (que les porcs, plus rapides, saisirent avant eux), et l’adolescent de Damas, fils du cinéaste, faire un selfie devant un agressif (elles peuvent se servir de leur bec comme d’un marteau pour vous fracasser la tête) troupeau d’autruches….

On trouvera la suite, et le début, et d’autres textes de voyages de divers auteurs romands, à pied, à cheval ou en voiture, dans « le monde est un village » ouvrage collectif et nomade qui sortira, aux éditions de l’Aire, d’ici quelques jours.

Wiese werden

von Gerhard Meister 1. Dezember 2016

Erlauben Sie mir, liebe Leserin, lieber Leser von einem Buch zu schwärmen, das ich noch gar nicht gelesen habe?

Ich weiss, mein Schwärmen könnte Sie dazu verleiten, sich das Buch anzuschaffen, und natürlich würde ich es der Autorin gönnen, wenn sich der Verkauf ihres Buches steigert.

Für eine allfällige Enttäuschung, die sich aus der Lektüre ergibt, möchte ich mich aber nicht verantwortlich fühlen.

Es war ja nur so, dass der Tag trüb war, da November, und ich mir etwas Aufheiterung verschaffen wollte, und dabei auf die Idee verfiel, etwas zu tun, was ich noch nie zuvor in meinem Leben getan habe. Und für ein Buch, dass ich noch nicht gelesen habe, schwärme ich hiermit zum ersten Mal in meinem Leben.

Ich weiss, es ist es ein ganz verfehlter Gedanke, die Stimmung lasse sich dadurch aufheitern, dass man etwas zum ersten Mal in seinem Leben tut. Ich kann mir ohne Mühe Dutzende von Dingen vorstellen, die ich noch nie getan habe und die, würde ich sie jetzt zum ersten Mal in meinem Leben tun, meine Stimmung ganz bestimmt keinen Millimeter in die Höhe brächten.

Es muss ja schon eine irgendwie positive, lebensbejahende, Freude bringende Tätigkeit sein, zu deren erstmaligen Ausführung man ansetzt.

Allerdings möchte ich als nächstes behaupten, dass Schwärmen, ganz egal, in welcher Form und für was da geschwärmt wird, zu eben diesen positiven, das Gemüt aufrichtenden Tätigkeiten gehört. Und genau dazu habe ich hier ja angesetzt, zum Schwärmen. Nur weiss man eben nie, was so ein Schwärmen auslöst.

Am Schluss ist Schwärmen etymologisch mit Charme verwandt und wäre also eine Form von Zauber, vor dem man sich besser in Acht nimmt. Immerhin ist das Buch auf französisch geschrieben, dies zu meiner Beruhigung. Wer liest diesseits der Saane schon Bücher auf französisch?

Zwar wird das Buch ziemlich sicher übersetzt werden, Antoinette Rychner hat es geschrieben, und sie gehört zu den bekannten Autorinnen und Autoren in der Romandie.

Aber das Übersetzen dauert seine Zeit, und bis dahin wird diese kleine Schwärmerei hier längst vergessen sein. Das beruhigt mich. Gerade an Novembertagen wie heute einer ist, möchte ich keine zusätzlichen Verantwortlichkeiten auf meine sowieso schon saisonal geschwächten Schultern laden.

In der deutschen Übersetzung wird der Titel des Buches übrigens noch schöner klingen als im Original, aus Devenir Pré wird ein sanft alliterierendes Wiese werden werden.

Was aber hat es mit diesem Wiese werden auf sich? Und wer ist es, der zu Wiese wird?

Ich weiss nur so viel: Ein Jahr lang hat sich Antoinette Rychner jeden Tag in einen winzigen blau gestrichenen, mit Ofen und Kaminrohr ausgestatteten Planwagen gesetzt. Und zwar vor das einzige Fenster des Wagens und die Aussicht, die es von dort gab, die Aussicht auf eine Wiese. Und hat geschrieben, was sie sieht. Und das war eben diese Wiese.

Tag für Tag die gleiche Wiese, die natürlich nicht die gleiche Wiese blieb, so wie sie selber nicht die gleiche Antoinette, die sich vor sie hinsetzt. Aber eben fast die gleiche. Und von diesen minimalen Differenzen und Wandlungen in Zeitlupe handelt das Buch.

Ist man nicht sofort wahnsinnig gespannt und muss unbedingt wissen, wie sie das anstellt?

 

Antoinette Rychner, devenir pré, éditions d’autre part, 184 Seiten, 21 Franken.

Nein, ich habe mich anders entschieden: Kein Wort mehr zu den amerikanischen Wahlen! Auch kein Wort zu den Medien, die nachträglich nun wieder alles verstehen.

Stattdessen will ich mich der alten Welt zuwenden, genau genommen sogar dem Herz der alten Welt. Irgendwie bildete ich mir nämlich schon das ganze Jahr über ein, ich müsste unbedingt wieder mal nach Rom. Jawohl, nach Rom! So viel hatte ich wieder gelesen über die ewige Stadt und die mir in meinem Kopf verbleibenden Bilder kamen mir so vergilbt und unscharf vor, dass die Reise nicht länger aufgeschoben werden durfte. Mittlerweile geht das ja auch im Zug ruckzuck wie in einem Rausch. So ein italienischer Roter Pfeil katapultiert einen in knapp drei Stunden von Milano Centrale über den halben Stiefel hinunter nach Roma Termini.

Aber dann ist es passiert!

Die Katastrophe!

Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet! Mit einer Reservation für drei Nächte in einem schönen Hotel mitten im Römertopf ist man plötzlich Extrem-Tourist! Und zwar einer unter Hunderttausenden! Geht man auf die Gasse, ist da gleich die Spanische Treppe, um die Ecke natürlich das Caffè Creco und bald kommt man schon zum zweiten Mal beim Pantheon und zum dritten Mal beim Trevi Brunnen vorbei! Nun sind das alles keine üblen Orte, im Gegenteil, alles Prunkstücke abendländischer Kunst und Kultur. Aber sogar jetzt, Ende November ist der Andrang so deftig und so heftig, dass er einen innerlich abschwören lässt, je wieder eine solche Reise zu unternehmen.

Geht man hin, wo alle hingehen? Nein!

Für Kunstliebhaber gibt es wohl wenige vergleichbare Orte, aber was habe ich in der der Sixtinischen Kapelle zu suchen, wenn ich mir doch vorkomme wie in der Welt schönstem bemalten Lavabo, durch welches meinesgleichen täglich zu Tausenden hindurchgespült wird?

Sorry Michelangelo!

Und was hat Shahzia Sikander damit zu tun?

Diese pakistanische Künstlerin bewegt sich verblüffend elegant zwischen verschiedenen Formen, Religionen und Kulturen. Sehr Grosses und sehr Kleines war im MAXXI, dem Nationalen Museum der Künste des 21. Jahrhunderts in Rom zu sehen. Alles war sehr schön und hatte dazu noch den Vorteil, dass es anders als die klassischen Werke Roms in Ruhe, also völlig ungestört und unbehindert betrachtet und bewundert werden konnte.

Trump. Le grand, le petit

von Antoine Jaccoud 16. November 2016

Je ne suis pas de ceux qui se font du souci. Je suis un optimiste. Je me dis qu’il va s’ennuyer parce que c’est embêtant la politique, il faut discuter avec des gens, il faut écouter, il faut s’intéresser à des sujets ennuyeux, il faut des fois annuler une partie de golf, ou un repas avec une miss, ou même se coucher tard parce que la réunion s’est éternisée.

Je me dis aussi que ça ne va pas aller de toute façon, à cause de son caractère de cochon, qu’il va s’engueuler avec le cuisinier, les femmes de ménage, les bodyguards, les jardiniers, les spécialistes de l’islam, du réchauffement climatique, et même le peuple tout entier pour finir par sortir, la queue basse, par la petite porte de l’impeachment.

Je me dis enfin qu’il n’avait pas envie, au fond, d’y être, d’y parvenir, de se retrouver pour de vrai dans cette pièce ovale, dans cette grande maison, avec Air Force One et sa salle de bain volante à disposition, que c’était la campagne surtout qui l’intéressait, l’excitation de la campagne, là tu peux gueuler, tu peux dire n’importe quoi, tu peux insulter tout le monde, mais après, après tu es dans un bureau, tu es tout le temps dérangé – par des militaires, des ambassadeurs, des experts de ceci ou de cela, des conseillers, des gens qui qui viennent te parler de trucs aussi chiants et compliqués que la bande de Gaza, ou le destin de la Crimée, ou même l’Europe, alors je me dis: il va démissionner, ou partir en burn out, ou alors faire une énorme connerie (pas trop énorme quand même).

Et puis je me dis enfin qu’ici aussi on élit parfois des gens borderline, imprévisibles et volontiers obscènes. Prenez par exemple ce conseiller d’Etat en charge de la formation et de la sécurité se rendant à une conférence d’extrémistes de droite à Berlin tandis que sa police interdisait dans le même temps un meeting de néo-nazis dans son canton.

Moi qui suis également en charge de la formation et de la sécurité, celles de mes enfants, ça me troue littéralement le cul d’entendre des choses pareilles.  On a tous son Trump, au fond, le grand ou le petit modèle.

Vor ein paar Jahren schrieb ich ein Theaterstück über einen Supergau in der Schweiz und beschrieb darin den Untergang der Schweiz. Das Echo auf das Stück war verhalten, und das hat mit Fukushima zu tun.

Mein Stück kam ein knappes Jahr vor dem Supergau in Japan auf die Bühne und damit zu einer Zeit, wo es einen Supergau in einem schweizerischen Atomkraftwerk noch gar nicht geben konnte. Jedenfalls in den Köpfen der Atomkraftbefürworter und ihrer Experten. Für diese Leute, ich erinnere mich an die Medienauftritte des Nuklearexperten Horst-Michael Prasser, war in Fukushima etwas passiert, was diese tatsächlich für unmöglich hielten und ihnen jetzt den Schweiss ausbrechen liess.

Fukushima hat alles geändert.

Tschernobyl, das war Kommunismus und damit ein verrottetes System, in dem natürlich auch die Kernanlagen verrottet sind. Für das Risikobewusstsein hier hat diese Katastrophe deshalb nie eine Rolle gespielt. Dass Japan zum zivilisierten, hochentwickelten Teil der Welt gehört, dass konnte niemand abstreiten. Seit Fukushima ist ein Supergau auch in der Schweiz ganz offiziell etwas Mögliches und nicht mehr – wie vor Fukushima – etwas, wovor Leute Angst haben, die nicht draus kommen und nicht differenzieren können (zwischen sicheren und verrotteten Atommeilern zum Beispiel).

Heute schreibt der Bundesrat den Kantonen vor, eine Evakuierung nicht nur im Umkreis von zwei Kilometern, sondern von 20 Kilometern zu planen. Das zwingt den Kanton Bern dazu, die Evakuierung der Stadt Bern zu planen. Nun, wie evakuiert man eine Stadt wie Bern? Niemand hat darauf eine Antwort, konsequenterweise hat der Kanton Bern entschieden, dass zur Evakuierung der Stadt Bern keine Pläne ausgearbeitet werden.

Nun kann sich ein Supergau je nach Windrichtung auf eine viel grössere Entfernung als 20 Kilometer auswirken. Auch das ist mittlerweile ganz offiziell zugegeben. Die Jodtabletten gegen den Schilddrüsenkrebs aus der radioaktiven Wolke werden mittlerweile in einem Umkreis von 50 Kilometern verteilt. Als Bewohner der Stadt Zürich erhalte ich Jodtabletten zugestellt, weil ausser Mühleberg alle schweizerischen Atomkraftwerke näher als 50 Kilometer an die grösste Stadt der Schweiz heran gebaut wurden. Aber müsste es für Orte, wo Jodtabletten verteilt werden, nicht auch Evakuierungspläne geben? Müsste deshalb, weil fast im ganzen Mittelland diese Tabletten in den Briefkästen lagen, die Frage nicht lauten: Wie evakuiert man das Schweizerische Mittelland? Und damit fast die gesamte Schweiz? Sollen wir nach Frankreich flüchten? Oder nach Deutschland und darauf hoffen, dass Frau Merkel auch zu Millionen von Schweizerinnen und Schweizern, die in ihrem Land um Asyl bitten, sagt: Wir schaffen das?

Diese Überlegungen sind absurd, aber sie ergeben sich zwingend daraus, wie heute in der Schweiz ganz offiziell das Risiko von Atomkraftwerken eingeschätzt wird. Die offizielle Einschätzung des Risikos vor Fukushima war zwar falsch, hatte aber den Vorteil, dass man damit den Betrieb von Atomkraftwerken als vernünftig hinstellen konnte. Jetzt hat die offizielle Schweiz die Möglichkeit eines Supergaus auch hier in unserem Land eingestanden. Eigentlich ist die Atomkraft damit erledigt. Eigentlich ist ganz klar, was als nächster Schritt nun zwingend folgen muss. Doch die offizielle Schweiz kann diesen Schritt nicht tun, es lässt sich mit alten Atomkraftwerken einfach zu viel Geld verdienen. Deshalb braucht es die Hilfe von uns allen.

Gehen wir Ende Monat an die Urne, helfen wir unserem Land bei diesem wichtigen Schritt.

Chantiers du futur

von Antoine Jaccoud 14. Oktober 2016

…d’abord un mur entre les Tessinois et les ritals puis un autre mur entre les romands et les frouzes puis un autre mur entre les totos et les boches puis un autre mur entre les musulmans et les chrétiens puis un autre mur entre les riches et les pauvres puis un autre mur entre les noirs et les blancs puis un autre mur entre les grands et les petits puis un autre mur entre les bien-portants et les mal foutus puis un autre mur entre les carnivores et les végétariens puis un autre mur entre Eux et Nous tout simplement et puis encore deux trois coups de truelle sur les centrales de Mühleberg et Beznau et Gösgen et Leibstadt et puis là je crois qu’on sera bon alors je vous enverrai la facture pour le béton.

In Dürrenmatts Panne wird der Handlungsreisende Traps von einer feuchtfröhlichen Gruppe pensionierter Richter dazu gebracht, den Tod eines Konkurrenten, obwohl er ihn nicht direkt verursacht hat, als seine Tat anzusehen. Trap meinte, er sei ein gewöhnlicher Mann, nun muss er feststellen, er ist ein Mörder.

Eine Einsicht, die er in der Hörspielvariante am andern Morgen, nachdem sein Rausch ausgeschlafen ist, vergessen hat. In der Erzählung mit dem gleichen Titel aber richtet er sich für die Schuld, die das alkoholisierte Spiel an den Tag gebracht hat, am Fensterkreuz mit einem Strick um den Hals.

Eine Variante des Dürrenmattschen Schauspiels konnte ich vor kurzem im Bistro des Intercitys Zürich-Bern beobachten. Es war Stosszeit, auf den Autobahnen standen die Fahrzeuge in reglosen Schlangen, auch der Zug war überfüllt, und vielleicht kam gerade daher die aufgeräumte Stimmung im Bistro.

Man hatte sich seinen Platz erobert, zu dem sogar noch das Feierabendbier vor sich auf dem Tisch gehörte. Mein Gegenüber am Tischchen, ein Mann in den mittleren Sechzigern, hatte sein Telefonat beendet und sagte zu den beiden Damen am Nebentisch: So eini isch würklech e Chue. Und meinte damit seine Ehefrau, die er gerade am Handy gehabt hatte.

Die zwei Frauen, Walliserinnen in ihren Fünfzigern, die gerade vier Tage Münchner Oktoberfest hinter sich hatten und sichtlich noch unter Einfluss der dortigen Stimmung standen (und natürlich weiter am Bier trinken waren), schnappten nach dem Ball, der ihnen der Mann hingeworfen hatte. Und der spielte mit. Erzählte von seiner Frau, und wie die ihm alles missgönne. Dass er, wenn er nach Hause komme, seine Katze streichle, denn die habe ihn noch gern.

Und später bestellt er ein Kafi Doppelrahm mit einem Biberli. Es ist sein Nachtessen, von der Frau wird er nichts bekommen. Und im Bett nur die AHV-Stellung: Füdle gäge Füdle. Eine Scheidung komme leider nicht in Frage, weil er ihr in diesem Fall Hunderttausende aus seinem Geschäft auszahlen müsste. Und das wirft sowieso so wenig ab, dass er bis in seinen Tod weiter arbeiten muss. Das muss ein rechter Drachen sein, sagt die eine Walliserin, und die andere fragt: Wartet sie zuhause mit dem Nudelholz hinter der Port?

Und dann plötzlich dieser Satz: Sein Schwiegersohn habe ihm schon geraten, sie auf eine Wanderung mitzunehmen und dann an einer geeigneten Stelle ein Stoss in den Rücken und Adieu.

Jetzt sind die Walliserinnen nicht mehr zu bremsen. Sie sind aus den Bergen. Sie kennen die geeigneten Stellen, wo man elegant seine Ehefrau loswerden kann und alles wie ein Unfall aussieht. Dem Mann kann geholfen werden. Sie reden auf ihn ein. Bern naht, vielleicht tauschen sie noch die Handynummern, dann steigt der Mann aus, während die Frauen für die Fahrt durch den Lötschberg ein weiteres Bier bestellen.

Und wie bei Dürrenmatt gibt es zwei Varianten. Der gute Mann geht nach Hause, streichelt seine Katze, schläft dann in der AHV-Stellung ein und hat am anderen Morgen alles vergessen.

Oder das mörderische Gedankenspiel, in das ihn die lustigen Walliserinnen verwickelt haben, frisst sich hinein in seine Hirnwindungen, und er bekommt es dort nicht mehr heraus, bis aus dem Spiel die Tat wird. Wenn er die Ratschläge aus dem Wallis genau befolgt, bleibt sie ungesühnt.