Gerade habe ich Urs Mannharts Roman Bergsteiger im Flachland zu Ende gelesen, die letzten 70 Seiten an einem Stück, atemlos, wie es heisst. Was macht das Buch so grossartig und aussergewöhnlich?
Nun, es lässt mich als Bewohner der Komfortzone Welten erleben, mit denen ich nichts zu tun habe, ja von deren Existenz ich nicht einmal weiss. Damit tut das Buch das gleiche wie sein Held Thomas Steinhövel, der zwar in Langenthal wohnt, der durchschnittlichsten und langweiligsten Schweizer Stadt, der aber auch Journalist ist und herumreist, um aus seinen Eindrücken und Erlebnissen Reportagen zu machen. Aber der Roman ist keine Reportagensammlung, auch wenn man auf seinen über 600 Seiten weit herumkommt, von Rumänien bis zu den Erdbeerfeldern in Südspanien, von Finnland bis Rom, von Moskau bis Langenthal und von Den Haag nach Serbien und in den Kosovo.
Schon eher könnte man sagen, der Roman sei eine Sammlung von Geschichten, die dadurch verbunden sind, dass sie alle ins Leben von Thomas Steinhövel und seiner Schwester Marlene hinein spielen. Die beiden sind zwar Schweizer, allerdings, wenn nicht unzeitgemässe, so doch wenig repräsentative Schweizer. Sie ziehen sich nicht zurück in ihre Wohlstands- und Sicherheitsblase und haben Angst vor allem, was sich ausserhalb dieser Blase abspielt und sie bedroht. Nein, sie halten sich durchlässig für das, was da draussen passiert, durchlässig für das Schicksal von Menschen, deren Leben von Krieg, Armut oder schlicht von fehlenden Papieren verwüstet wird. Er tut das als Reporter, sie als Juristin, zuerst bei Amnesty International in Bern, dann am internationalen Gerichtshof in Den Haag. Für beide ist der Beruf auch Berufung. Sie sind betroffen vom Leiden der anderen, und sie engagieren sich im Versuch, auf dieses Leiden aufmerksam zu machen oder es zu lindern.
Ich weiss nicht, wie sehr Wörter wie „betroffen sein“ oder „sich engagieren“ heute noch antiquiert wirken, wie sehr man noch verpflichtet ist, Entwarnung zu geben mit der Versicherung, das Buch sei aber nicht moralisch oder moralinsauer – die fröhlichen Jahre des Anythings goes sinken immer weiter in die Vergangenheit zurück, Moral ist wieder Thema und ganz bestimmt ist es das Gewicht der Wirklichkeit.
Trotzdem: Bergsteiger im Flachland ist kein moralisches Buch. Es ist immer wieder auch witzig, und es ist auch Liebes- und Abenteuerroman. Aber es ist ein Buch über die Wirklichkeit und über das wirkliche Leben. Und das ist das beste am Buch. Wie es der Autor schafft, der politischen und sozialen Wirklichkeit Europas mit seinen Geschichten Leben einzuhauchen.
In keiner Szene fehlt das Detail, das einem das Gefühl gibt, wirklich dabei zu sein, und jede der Figuren, denen man im Roman begegnet, ist wie aus dem Leben gegriffen, und das heisst, ein ganz normaler Mensch und in seinem Handeln verständlich ohne ein Gran Exotismus. Auch dann, wenn es sich bei diesem Menschen um einen Berufskiller handelt. Aber gerade das ist das Anliegen des Buches, und das macht es so packend und anrührend, dass es ganz normale Menschen zeigt, die nichts anderes wollen, als ein normales Leben führen. Und dies nicht können, weil Krieg herrscht, weil sie arm sind, weil ihr Pass sie nicht schützt.