Globale Bewegungsfreiheit für alle. Das fordert in seinem soeben erschienen Buch der Philosoph Andreas Cassee. Letzte Woche war er bei einem Atelier über freie Migration dabei, das im Rahmen des Reclaim-Democracy-Kongresses in Basel abgehalten wurde. Und das Interesse war gross, der Saal bis auf den letzten Platz besetzt, die Stimmung gut. Die aus christlichen Kreisen lancierte Migrations-Charta, die biblisch-theologisch unterfuttert ist, erhält Sukkurs aus der Philosophie und das erst noch von einem so sympathischen und wunderbar klar argumentierenden Menschen wie Cassee.
Sogar in der grossen Besprechung, die die NZZ dem Buch widmet, bleibt seine Argumentation unbestritten, wonach es keine moralische Rechtfertigung gebe, Menschen daran zu hindern, sich dort niederzulassen, wo sie wollen. Ja, die NZZ macht aus der globalen Niederlassungsfreiheit sogar ein Postulat des Liberalismus. Warum dann aber Cassees Plädoyer für die globale Bewegungsfreiheit dennoch nur „ein schönes, aber letztlich vergebliches Gedankenspiel“ bleibe, wie die NZZ schreibt, das hat seine Gründe nicht in der Philosophie, sondern in der harten Wirklichkeit des menschlichen Egoismus. Unsere modernen Staaten bieten ihren Bürgern sehr viel: Sicherheit, Infrastruktur, Sozialwerke, und sie privilegieren mit diesen Leistungen ihre Bürgerinnen und Bürger gegenüber Menschen, die das Pech hatten, am falschen Ort auf die Welt zu kommen in einem Staat, der nichts für sie tut, und mit dessen Pass sie nur in Staaten reisen können, die ebenfalls nichts zu bieten haben. Die Bürgerinnen und Bürger der reichen Staaten wollen ihre Privilegien nicht teilen, und nirgends ist eine politische Kraft in Sicht, die sie dazu zwingen könnte, es doch zu tun.
Am Schluss des Ateliers wies Verena Mühlethaler, Pfarrerin an der City Kirche St. Jakob, auf die Sans-Papiers in Zürich hin, die mit neuen behördlichen Verfügungen noch mehr schikaniert werden. Und das ist der Schatten, der über dieses Atelier fiel: realpolitisch eröffnen sich mit dem Plädoyer für offene Grenzen im Moment kaum neue Möglichkeiten, es bleiben Solidaritätsbekundungen im harten Gegenwind der herrschenden politischen Kräfte.
Wie düster es werden kann, wenn man sich auf Realpolitik einlässt, das zeigte dann die Nachmittagsveranstaltung von Reclaim Democracy. Es stand eine Plenarveranstaltung mit Srécko Horvat auf dem Programm. Horvat ist ein brillanter Kopf, gehört in seinem Heimatland Kroatien zu den führenden linken Intellektuellen und ist gesamteuropäisch sehr gut vernetzt, kennt also die Diskurse und Probleme des Kontinentes und hatte und hat Gelegenheit mit vielen Leuten zu reden und zusammenzuarbeiten. Und so einer kommt dann also zum Schluss, dass in Europa alle Zeichen auf Krieg stünden. Warum die Situation heute so sehr derjenigen Europas vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gleicht, dafür blieb er zwar die schlagenden Argumente schuldig, und man darf also hoffen, dass sich Horvat in diesem Punkt schlicht in seine Untergangsstimmung verrannt hat. Aber sein Statement bleibt trotzdem symptomatisch für die Gegenwart, in der die Vision einer besseren Welt je länger je mehr zur Flaschenpost wird für eine Zeit in unbestimmter Zukunft, von der uns Rückschläge und Katastrophen trennen, an deren Möglichkeit wir bis vor kurzem nicht geglaubt haben.
Buch: Andreas Cassee: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Suhrkamp 2016