Lea liest

Bücher für Nichtwissen und Privilegien

von Lea Schlenker 3. Dezember 2024

Literatur Im Dezember empfiehlt unsere Kolumnistin ein Buch über wichtige Volksentscheide. Ausserdem einen Essayband übers Sein, Haben und Wollen. Und zu guter Letzt ein Roman von Vincent O. Carter.

In der Schweiz lieben wir unsere Besonderheiten, unsere Errungenschaften, unsere Berge. Wir ignorieren kleinere Makel und schauen nur selten mit Neid auf unsere Nachbarländer. Wieso auch? Wir machen ja schon alles so gut. Wir haben die direkte Demokratie, die Migros und wir leben in Einigkeit in vier Landessprachen.

Das viele dieser Errungenschaften in einem Prozess von intensiver, politischer Arbeit entstanden sind und es auch schon gedauert hat, die Schweizer Stimmbevölkerung von ihrem Glück (Frauenstimmrecht! Gurtenobligatorium!) zu überzeugen, geht manchmal vergessen. Dass zum Beispiel ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten erst seit 2002 legal ist und dass die offizielle viersprachige Schweiz erst 1938 entstand, wissen viele vielleicht gar nicht. Bei Nichtwissen gibt es aber zum Glück Bücher.  Und da auch mein Nichtwissen nicht ganz ohne ist, habe ich mir das Buch «Heute Abstimmung!» von David Hesse und Philipp Loser gekauft. Das Buch ist im November dieses Jahres erschienen und behandelt dreissig Volksentscheide, die die Schweiz langfristig geprägt haben. Dazu gehören unter anderem das Schächtverbot, das mit antisemitischen Plakaten den politischen Diskurs prägte oder die Annahme der mittlerweile in der Verfassung verankerten Schuldenbremse, von der sich auch einige andere Länder inspirieren liessen. Ich empfehle dieses Buch allen die sich für politische Diskurse, Demokratie und die Schweizer Geschichte interessieren. Ich empfehle dieses Buch aber auch allen anderen, da es dafür sorgen könnte, dass eben diese Interessen geweckt werden könnten. Denn es folgen noch viele weitere Abstimmungen, und wer weiss – die nächste grosse soziale Revolution nach der AHV steht vielleicht schon bald vor der Tür.

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Ein Freund hat mir mal ein Buch empfohlen – und obwohl es schon mehrere Monate her ist, seit ich es gelesen habe, fühle ich mich fast schon verpflichtet, es hier in dieser Kolumne weiterzuempfehlen. Die amerikanische Schriftstellerin Eula Bliss hat mit «Was wir haben» ein hervorragendes Buch geschrieben, das ich wieder und wieder lesen möchte. In meist eher kurzen Essays beschreibt die Autorin das Haben, das Sein und das Wollen auf eine ergreifende und unheimlich vertraute Art und Weise. Es geht um den Einkauf in Möbelläden und Dinge, die nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Es geht um Wohnungen ohne heisses Wasser und Slumtourismus, manchmal auch um die Suche nach der richtigen Wandfarbe – denn es gibt mehr verschiedene Weisstöne, als das ungeübte Auge vielleicht ahnen mag. Und darüber, wie es ist, ein Spion im eigenen Leben zu sein. In einem dieser Essays schreibt sie: «Niemand versteht das Prinzip der Privilegiertheit besser als die Leute, auf die es nicht zutrifft.» Dieses Buch hat mich auf so vielen verschiedenen Ebenen abgeholt, und ich gehe schwer davon aus, dass ich nicht die Einzige bin.

Vor einer Weile habe ich in der Republik einen Beitrag über Vincent Carter gelesen. 2021 erschien das «Bernbuch» in neuer Übersetzung, in dem er die Stadt und ihre Einwohner*innen mit kritischen Augen betrachtete. Ich war gespannt auf die Analyse eines mir unbekannten Berns und habe das Buch bestellt. Er schreibt darüber, wie es war, als einziger Schwarzer Amerikaner in einer Stadt von hunderttausend Menschen zu leben, die ihn nicht gerade willkommen hiessen. Sogar fast zu Auffahrunfällen soll es gekommen sein, weil die Berner*innen so damit beschäftigt waren, den Autoren schamlos anzustarren. Auch eine Stelle in einem Supermarkt in der Obstabteilung wurde ihm angeboten, weil er sich doch so gut als Bananenverkäufer eignen würde. Diese Anekdoten sind nur unschön zu lesen. Auch, weil sie nicht, wie man denken mag, aus dem 17. Jahrhundert stammen, sondern Bern in den 1950er-Jahren widerspiegeln, ein Jahrzehnt, das eigentlich nicht so weit entfernt scheint. Dennoch werden in dem Buch Gefühle beschrieben, die auch im Jahr 2024 wohl vielen Menschen bekannt sind. Absolut lesenswert! Für die wohlverdiente Auszeit über die Festtage habe ich mir auch seinen Roman «Such Sweet Thunder» bestellt. Ich bin gespannt! «Such Sweet Thunder» ist übrigens diesen Sommer erstmals in der deutschen Übesetzung erschienen. Journal B hat in zwei Teilen darüber berichtet.

 

 

 

 

Von Doppelgängern und Berner Jahreszeiten

von Lea Schlenker 7. November 2024

Literatur Lea Schlenker ist Dichterin, Veranstalterin und leidenschaftliche Leserin. In dieser Kolumne stellt die Wahlbernerin jeden Monat drei Lieblingsbücher vor. Darunter auch immer ein spannender Bern-Tipp.

Ich könnte jetzt eine Einleitung darüber schreiben, wie ich schon als Kind unheimlich gerne gelesen habe und jedes Buch, das ich in die Finger kriegen konnte, zum Frühstück gefressen habe. Aber das wäre ehrlich gesagt gelogen. Als Kind war ich primär daran interessiert, zum Frühstück meine Fernsehzeit möglichst lange auszuschöpfen. Irgendwann bin ich dann aber dem Zauber der Bücher verfallen, den gruseligen Horrorgeschichten von Stephen King, den magischen Parallelwelten Haruki Murakamis, den trotzigen Grossstadt-Abenteuer von Sylvia Plath. Es kann also jeden und jede treffen. Plötzlich schlägt man eine Seite in einem Buch auf, obwohl man eigentlich gar nicht so gerne liest, und dann schlägt es ein wie ein Blitz.

Eines dieser Bücher, das vielleicht auch Nicht-Lesende von sich überzeugen kann, ist das 2016 erschienenen «Outline» von Rachel Cusk. Das Buch ist das erste einer Trilogie mit demselben Titel. In diesem Band reist eine Autorin im Sommer nach Athen, um einen Schreibworkshop zu geben. Die Geschichte beginnt damit, dass die Protagonistin auf dem Hinflug mit ihrem Sitznachbar ins Gespräch kommt. Er erzählt von seinen Kindern, seinen gescheiterten Ehen und seinem Motorboot in Griechenland, für das er indirekt sogar einen prestigeträchtigen Finanzjob in London aufgegeben hat.

Und so geht es dann für den Rest des Buches weiter. Die Hauptfigur nimmt mehrheitlich die Rolle der Zuhörerin ein, die den Geschichten und Erlebnissen ihrer Mitmenschen lauscht. Während ihres Aufenthalts in Athen besucht sie ihren Sitznachbar auf seinem Boot – den sie konsequent das ganze Buch hindurch als «my neighbour» bezeichnet – oder hört ihren Schüler:innen zu, die von den kleinen und  schweren Dinge des Alltags erzählen, oder auch davon, wie es ist, überhaupt gar nichts zu erleben. Für alle, die den Sommer noch einmal auferstehen lassen wollen.

(Foto: Lea Schlenker)

Wie wäre es wohl, ständig mit einer anderen Person verwechselt zu werden – und sich somit für alle befremdlichen Handlungen dieser Person ein bisschen zu schämen? Und haben wir nicht schon alle längst unsere eigenen digitalen Doppelgänger kreiert, über die wir womöglich bereits die Kontrolle verloren haben?

Um diese Fragen geht es in dem Buch «Doppelganger» von Naomi Klein. Die Autorin, die mit Büchern wie «No Logo» zu einer bekannten Stimme einer globalisierungskritischen Bewegung wurde, schreibt in ihrem 2023 erschienenen Buch über Identität und darum, wie wir während der Covid-Pandemie alle ein wenig verrückt wurden. Vordergründig geht es darum, wie sie in der digitalen Welt immer wieder mit ihrer vermeintlichen Doppelgängerin verwechselt wird: Naomi Wolf, einst bewunderte feministische Autorin und Beraterin in demokratischen Präsidentschaftswahlkämpfen, heute aber Gefangene in einem Netz von Verschwörungstheorien.

Für die Autorin eine eher unangenehme Situation. Wenn Wolf sich einen peinlichen Fauxpas leistet, muss Klein dafür sorgen, dass die beiden nicht verwechselt werden, wenn nötig auch mit einer kleinen Eselsbrücke («If the Naomi be Klein / you’re doing just fine / If the Naomi be Wolf / Oh, buddy. Ooooof.») Das führt dazu, dass Klein ihre Doppelgängerin auf allen digitalen Plattformen in obsessiver Manier verfolgt. Absolut lesenswert!

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Für grosse Autorinnen müssen wir aber nicht ins Internet, um fündig zu werden, wir finden sie bei uns gleich um die Ecke. Wir Berner*innen haben die Bären, wir haben die Aare, wir haben die Gelateria di Berna, und wir haben Meral Kureyshi! Mein Lieblingsbuch von ihr ist das 2020 erschienene «Fünf Jahreszeiten». Die Hauptfigur hat ihr Studium abgebrochen, arbeitet im Kunstmuseum und spaziert wie ein Geist durch die Stadt. Es geht um Entscheidungen, sie steht zwischen zwei Männern, vermisst ihre Eltern und wartet. Worauf, kann ich nicht sagen – aber dafür lest ihr das Buch am besten gleich selbst.