Er kam als junger GI mit der US-Armee nach Europa und in den Fünfzigerjahren zufällig nach Bern. Hier lebte er, bis zu seinem frühen Tod 30 Jahre lang, arbeitete als Englischlehrer bei der Migros-Clubschule, war Musikredaktor im Radiostudio Bern und als Flaneur war er vor allem eine stadtbekannte Persönlichkeit. Er sprach Berndeutsch, war ein Teil der hiesigen Kulturszene, schrieb, malte und zeichnete und nannte sich gerne «the first Negro in Town»: Vincent O. Carter würde dieses Jahr 100-jährig.
Der Limmat-Verlag, der vor drei Jahren die erste deutsche Übersetzung von Carters «Bernbuch» («Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch») herausgab, doppelt jetzt nach: Carters Erinnerungen an seine Kindheit in Kansas City erscheinen unter dem Titel «Amerigo Jones» erstmals auf Deutsch. Das Original unter dem Titel «Such Sweet Thunder» wurde in Carters Heimat (wie zuvor auch das Bernbuch) von der Kritik als literarische Entdeckung gefeiert. Man ist gespannt, wie es dem Werk im deutschen Sprachraum geht.
Am 23. Juni würde Carter (*1924 in Kansas City – † 1983 in Bern) 100-jährig. Mit der Buchvernissage von «Amerigo Jones» und der Aufnahme von Carters Nachlass ins Schweizer Literaturarchiv wird der Wahlberner gefeiert. Und Bern wird auch ein wenig zu einem Ort der Schwarzen Literatur. Dank einem Schwarzen, der im letzten Jahrhundert die Stadt zu seiner Wahlheimat machte, und auch dank zweier Bernerinnen: seiner Lebenspartnerin Liselotte Haas und der Literaturagentin Katharina Altas.
Die Lebenspartnerin
Ein verwinkeltes Haus an der Aare, ein grüner Hinterhof mit einem plätschernden Brunnen. Hier wohnt Liselotte Haas. Die Neunzigjährige mit dem schlohweissen Haar begrüsst den Besuch im Garten mit einem ansteckenden Lachen und steigt flink die Treppe zu ihrer Dachwohnung hoch. Seit 50 Jahren wohne sie hier und würde nie freiwillig ausziehen, wie sie sagt: Die nahe Aare, der Spazierweg, die Vorbeispazierenden vor dem Fenster («i weiss geng, was grad Mode isch»). Sie geniesse jeden Tag. Inmitten von kunstvoll dekorierten Wänden und deckenhohen Bücherregalen setzt sie sich in die Sofaecke und taucht ein in die Geschichte, die sie mit Vincent O. Carter verbindet.

Es ist eine Geschichte aus einer – scheinbar – fernen Epoche. Bern ist eine verschlafene Beamtenstadt, eine Stadt, in welcher der Schwarze Mann aus den USA auf Misstrauen, Ablehnung und Vorurteile stösst. Wie lange er bleiben wolle, wann er wieder zurückfahre, warum er ausgerechnet nach Bern gekommen sei und ob er hier nicht kalt habe im Winter, wird er immer wieder gefragt. Wenn er mit seiner Berner Freundin der Aare entlang spaziert oder in der Altstadtbeiz den Feierabend geniesst, dann ernten sie beide irritierte Blicke. «Bern war ziemlich fremdenfeindlich», sagt Liselotte Haas und verschweigt nicht, dass auch ihre Eltern zuerst nicht wollten, dass sie mit ihrem Freund im kleinen Dorf erscheint. «Aber,» beeilt sie sich zu sagen, «er hat sie dann sofort im Sturm erobert. Er war ja so kultiviert, liebenswert und herzlich zu allen.»
Seine Eltern waren bei seiner Geburt selber noch Teenager, aber sie haben ihn so geliebt. Ich denke, das war das grösste Geschenk, das sie ihm machen konnten.
Kennengelernt hat sie Carter, weil sie einen Englischlehrer brauchte. Als Musikredaktorin musste sie immer öfter englische Titel im Radio ansagen. Das wollte sie korrekt machen. Vincent O. Carter, der neben seinem Job als Englischlehrer auch Musiksendungen im Radiostudio Bern betreute, schien ihr der geeignete Lehrer. Aus den Englischstunden wurde mehr. Die beiden wurden ein Paar, das allerdings immer zwei Wohnungen behielt, wie sie heute noch stolz betont.
Die Kindheit in Kansas City
Carter habe die Skepsis ihm gegenüber meist nachsichtig zur Kenntnis genommen. Einmal allerdings habe er sich schrecklich geärgert: ein Verkaufsleiter der Migros wollte ihm einen Job am Früchtestand anbieten. Ein Schwarzer, der Bananen verkauft, das wäre doch passend, fand er. «Da ist Vincent wirklich fast ausgerastet.» Carter, der in Kansas City in armen Verhältnissen aufwuchs, war hochgebildet, hatte ein immenses Wissen über klassische Musik und Literatur und sprach mehrere Sprachen. Es sei ihr immer ein Rätsel gewesen, wie und wo er das alles erworben habe.
Liselotte Haas steht auf, geht zum grossen Wechselrahmen mit Fotos aus ihren gemeinsamen Berner Tagen: die beiden beim Kochen, mit Familienmitgliedern, Freundinnen und Kollegen im Restaurant Commerce und bei Festen. Und mittendrin eine fast 100jährgie Aufnahme: ein Schwarzes Baby mit grossen Augen. Daneben zwei unscharfe Bilder eines Schwarzen Ehepaars. «Seine Eltern waren bei seiner Geburt selber noch Teenager, aber sie haben ihn so geliebt. Ich denke, das war das grösste Geschenk, das sie ihm machen konnten.»
Das war – so vermutet Liselotte Haas heute noch – der Grund, wieso das Manuskript vorerst keinen Verleger fand. Zu wenig kritisch, zu wenig Schwarz, zu versöhnlich-nostalgisch sei der Ton, fanden die Lektoren in den Sechzigerjahren.
Im Buch «Americo Jones» beschreibt Carter seine Kindheit. Ausführlich, detailreich und voller Melancholie schildert er den Alltag des aufgeweckten Jungen im Schwarzenviertel von Kansas City. Es ist eine Welt zwischen Mülltonnen und Hinterhofveranden, eine Welt voller kauziger Nachbarn und liebevoller Onkel und Tanten, eine Welt, in der das Kind von strengen, aber liebenden Eltern in Geborgenheit aufwächst und zu Anstand, Respekte und Ehrlichkeit erzogen wird.

Man kann es fast nicht glauben: Carter hat das Buch viele Jahre später in Bern geschrieben. Hier liess er ihn nochmals aufleben, diesen Alltag zwischen harten Arbeitstagen und fröhlichen Tanzabenden, zwischen Schulstunden und unbeaufsichtigter Freizeit. Der Rassenhass ist allgegenwärtig, aber im Text nicht tonangebend. Hier herrscht eine Welt vor, die im Rückblick liebevoll und schillernd beschrieben wird. Das war – so vermutet Liselotte Haas heute noch – der Grund, wieso das Manuskript vorerst keinen Verleger fand. Zu wenig kritisch, zu wenig Schwarz, zu versöhnlich-nostalgisch sei der Ton, fanden die Lektoren in den Sechzigerjahren. Kämpferische Literatur von Schwarzen war gefragt, es waren die Jahre der Bürgerrechtsbewegungen, der Rassenunruhen. Carter aber erzählte von einem kleinen Schwarzen Jungen, der einem weissen Lokalreporter erzählt, er wolle Präsident von Amerika werden.
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Seine Botschaft erreicht den Lesenden unterschwellig. Nie schwarz/weiss. Symbolisch dafür seine Ausdrücke für die Hautfarbe der Menschen in seiner Umgebung. Da glänzen Gesichter wie altes Sattelleder oder wie nasse schwarze Steine, da sind einige milchbraun, andere kakaofarben bis violett. Für weisse Haut gibt es längst nicht so viele Nuancen.
Späte Ehre und Glück
Carter hat die Übersetzungen seiner Bücher ins Deutsche nicht mehr erlebt. Er starb 1983. Einzig die Veröffentlichung des Bernbuchs erlebte er, seine Jugenderinnerungen und andere Texte hatten zu seiner Lebzeit keinen Verlag gefunden. Umso mehr freut sich seine Lebenspartnerin, dass nun so viele Jahre später seine Bücher sogar auf Deutsch erscheinen. Und dass Carter ins Schweizer Literaturarchiv kommt.
Seine Botschaft erreicht den Lesenden unterschwellig. Nie schwarz/weiss. Symbolisch dafür seine Ausdrücke für die Hautfarbe der Menschen in seiner Umgebung.
22 Jahre lang war Liselotte Haas die Lebenspartnerin und Vertraute von Vincent O. Carter. Sie teilten ihre Leidenschaft für Musik, Literatur, Meditation und für ein Leben in der Kunstszene im Bern der Nachkriegszeit. Liselotte Haas, die später in Bern das erste Yogastudio eröffnete, hob jahrelang die Manuskripte und die Zeichnungen von Carter auf, bis ein US-amerikanischer Verleger zu Beginn des Jahrhunderts nach den guten Kritiken für das Bernbuch auf sie aufmerksam wurde. Das war Chip Fleischer, der Verleger von Vincents zweitem Buch. In der Literaturagentin Katharina Altas hat sie eine Seelenverwandte gefunden. Wie sie selber sei Katharina von Anfang an begeistert gewesen von Carters Texten, erzählt Liselotte Haas, «und sie hat sich dann beim Limmatverlag und beim Literaturarchiv für die Werke eingesetzt.»
Dass Vincent sie 1983 «so früh» verlassen habe, sei ein Riesenverlust gewesen, sagt sie, «aber dass er jetzt auf diese Art in Bern zu Ehren kommt, macht mich so glücklich. Es ist das schönste Geschenk, das ich je erhalten habe».
Im zweiten Teil erzählen wir, wie Katharina Altas dazu beigetragen hat, dass Carters Werke nun auf Deutsch zu lesen sind. Hier geht es zum zweiten Teil.