Ich arbeite, lebe und schreibe in Bern. Nach der Arbeit spaziere ich vom Eigerplatz Richtung Hausberg und hoffe, ich treffe unterwegs eine Katze oder ein paar Enten an. Ich bekomme gute Laune, da schon wieder Frühling ist und zweifle an meinen Überlebensfähigkeiten in der Wildnis, weil ich keine einzige Pflanzenart beim Namen nennen kann. Wenn ich dann in mein Schreibatelier zurückkehre, schaue ich auf den Gurten und tippe irgendwas Semi-schlaues. Wenn mir nichts einfällt, spaziere ich in der Gegend herum, halte bei einer Gelateria und schaffe es manchmal sogar runter bis zum Marzili, wo im Frühling noch fast niemand badet. Wenn mir nichts einfällt, male ich auch manchmal oder lege mich in meine Badewanne und stelle mir dabei vor, wie die faulen Bären gerade aus ihrem Winterschlaf erwachen. Das sind so meine Prozesse und Rituale, wenn die Muse mich nicht küssen will.
Solche Prozesse und Rituale haben viele Künstler*innen. Gesammelt wurden einige davon im Buch «Mehr Musenküsse: ‚Am kreativsten bin ich, wenn ich bügle‘ – die täglichen Rituale berühmter Künstler» von Mason Currey und Arno Frank, erschienen im Kein & Aber Verlag. Von Stephen King bis hin zu Georgia O’Keeffe sind die Tages- und Arbeitsabläufe verschiedener Künstler*innen darin versammelt. Mein Favorit ist der kürzlich verstorbene David Lynch mit seinen Beschreibungen eines Arbeitstages mit gefühlt zehntausend Tassen Kaffee und einer Tonne Süsswaren. Der ganze Zucker habe ihn dann jeweils in eine Art Rausch versetzt und seine Kreativität angeregt. Gut für uns!
Wer genau von wem profitiert und wer schlussendlich einknickt, ist hier nicht immer klar. Unbedingt lesen!
Eines meiner Lieblingsbücher ist «Die Aufdrängung» von Ariane Koch. Das kann ich mit dieser Bestimmtheit sagen, da ich es seit dem Erscheinen im Jahr 2021 schon drei- oder viermal gelesen habe. Die aus Basel stammende Autorin hat mit ihrem Debütroman eine Sprache geschaffen, in die ich immer wieder und wieder von neuem eintauchen möchte. Die Protagonistin des Buches lebt in einem Haus, das sie von ihren Eltern übernommen hat, in eines der Zimmer zieht schon bald ein Gast ein. Er fühlt sich in Windeseile selbst wie zuhause, verschmilzt mit der Couch, lässt die Hausherrin seine Präsenz spüren. Die Gastgeberin fühlt sich erst erhaben, geniesst es auch ein wenig, wenn der Gast sich um den Haushalt kümmert, aber ihre Gastfreundschaft fühlt sich bald schon etwas strapaziert an. Wer genau von wem profitiert und wer schlussendlich einknickt, ist hier nicht immer klar. Unbedingt lesen!
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David Baddiel ist ein britischer Comedian und Autor, von dem ich vor einigen Monaten das Buch «Jews Don’t Count: How Identity Politics Failed One Particular Identity» gelesen habe. In dem 2021 erschienene Buch geht es um das Thema Antisemitismus, wo dessen historische Wurzeln liegen und wie er heute noch – teilweise auch auf salonfähige Art und Weise – ausgelebt wird. Er berichtet von Doppelstandards im Diskurs über Rassismus, bei dem Diskriminierungen gegen die jüdische Gemeinschaft oftmals ausgeschlossen oder nur am Rande behandelt werden. Das habe auch, so Baddiel, viel damit zu tun, dass diese Gruppierung häufig mit Geld und Macht assoziiert werde und somit selbst als Teil einer unterdrückenden Kraft gesehen wird. Im Buch geht es viel darum, welche Sprache gegenüber gewissen Teilen der Bevölkerung eingesetzt wird und wie das systematische Diskriminierung entlarven kann. Und für die, die nicht so gerne lesen: Das Buch wurde auch als Dokumentation verfilmt. Aber wenn ihr nicht so gerne lesen würdet, würdet ihr auch diese Kolumne nicht lesen, oder?