Von Doppelgängern und Berner Jahreszeiten

von Lea Schlenker 7. November 2024

Literatur Lea Schlenker ist Dichterin, Veranstalterin und leidenschaftliche Leserin. In dieser Kolumne stellt die Wahlbernerin jeden Monat drei Lieblingsbücher vor. Darunter auch immer ein spannender Bern-Tipp.

Ich könnte jetzt eine Einleitung darüber schreiben, wie ich schon als Kind unheimlich gerne gelesen habe und jedes Buch, das ich in die Finger kriegen konnte, zum Frühstück gefressen habe. Aber das wäre ehrlich gesagt gelogen. Als Kind war ich primär daran interessiert, zum Frühstück meine Fernsehzeit möglichst lange auszuschöpfen. Irgendwann bin ich dann aber dem Zauber der Bücher verfallen, den gruseligen Horrorgeschichten von Stephen King, den magischen Parallelwelten Haruki Murakamis, den trotzigen Grossstadt-Abenteuer von Sylvia Plath. Es kann also jeden und jede treffen. Plötzlich schlägt man eine Seite in einem Buch auf, obwohl man eigentlich gar nicht so gerne liest, und dann schlägt es ein wie ein Blitz.

Eines dieser Bücher, das vielleicht auch Nicht-Lesende von sich überzeugen kann, ist das 2016 erschienenen «Outline» von Rachel Cusk. Das Buch ist das erste einer Trilogie mit demselben Titel. In diesem Band reist eine Autorin im Sommer nach Athen, um einen Schreibworkshop zu geben. Die Geschichte beginnt damit, dass die Protagonistin auf dem Hinflug mit ihrem Sitznachbar ins Gespräch kommt. Er erzählt von seinen Kindern, seinen gescheiterten Ehen und seinem Motorboot in Griechenland, für das er indirekt sogar einen prestigeträchtigen Finanzjob in London aufgegeben hat.

Und so geht es dann für den Rest des Buches weiter. Die Hauptfigur nimmt mehrheitlich die Rolle der Zuhörerin ein, die den Geschichten und Erlebnissen ihrer Mitmenschen lauscht. Während ihres Aufenthalts in Athen besucht sie ihren Sitznachbar auf seinem Boot – den sie konsequent das ganze Buch hindurch als «my neighbour» bezeichnet – oder hört ihren Schüler:innen zu, die von den kleinen und  schweren Dinge des Alltags erzählen, oder auch davon, wie es ist, überhaupt gar nichts zu erleben. Für alle, die den Sommer noch einmal auferstehen lassen wollen.

(Foto: Lea Schlenker)

Wie wäre es wohl, ständig mit einer anderen Person verwechselt zu werden – und sich somit für alle befremdlichen Handlungen dieser Person ein bisschen zu schämen? Und haben wir nicht schon alle längst unsere eigenen digitalen Doppelgänger kreiert, über die wir womöglich bereits die Kontrolle verloren haben?

Um diese Fragen geht es in dem Buch «Doppelganger» von Naomi Klein. Die Autorin, die mit Büchern wie «No Logo» zu einer bekannten Stimme einer globalisierungskritischen Bewegung wurde, schreibt in ihrem 2023 erschienenen Buch über Identität und darum, wie wir während der Covid-Pandemie alle ein wenig verrückt wurden. Vordergründig geht es darum, wie sie in der digitalen Welt immer wieder mit ihrer vermeintlichen Doppelgängerin verwechselt wird: Naomi Wolf, einst bewunderte feministische Autorin und Beraterin in demokratischen Präsidentschaftswahlkämpfen, heute aber Gefangene in einem Netz von Verschwörungstheorien.

Für die Autorin eine eher unangenehme Situation. Wenn Wolf sich einen peinlichen Fauxpas leistet, muss Klein dafür sorgen, dass die beiden nicht verwechselt werden, wenn nötig auch mit einer kleinen Eselsbrücke («If the Naomi be Klein / you’re doing just fine / If the Naomi be Wolf / Oh, buddy. Ooooof.») Das führt dazu, dass Klein ihre Doppelgängerin auf allen digitalen Plattformen in obsessiver Manier verfolgt. Absolut lesenswert!

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Für grosse Autorinnen müssen wir aber nicht ins Internet, um fündig zu werden, wir finden sie bei uns gleich um die Ecke. Wir Berner*innen haben die Bären, wir haben die Aare, wir haben die Gelateria di Berna, und wir haben Meral Kureyshi! Mein Lieblingsbuch von ihr ist das 2020 erschienene «Fünf Jahreszeiten». Die Hauptfigur hat ihr Studium abgebrochen, arbeitet im Kunstmuseum und spaziert wie ein Geist durch die Stadt. Es geht um Entscheidungen, sie steht zwischen zwei Männern, vermisst ihre Eltern und wartet. Worauf, kann ich nicht sagen – aber dafür lest ihr das Buch am besten gleich selbst.