Bern ist überall

Seit einigen Tagen lese ich Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus von Swetlana Alexijewitsch. Die Erschütterung ist gross und die öffentlich diskutierte Frage, ob diese Autorin den Nobelpreis für Literatur 2015 verdient habe, hat für mich längst jegliche Bedeutung verloren.

Das Buch verfolgt mich, ich sehe plötzlich die ganze Welt durch einen neuen Filter. Es ist, als ob bei allem Interesse für die äusserliche Geschichte Russlands und der Sowjetunion, mein eigentliches Gefühl für diese Menschen dort im Schnee des Ostens bis anhin bei meinem geliebten Tschechow stecken geblieben wäre. Sicher, ich hatte auch anderes gelesen von Gogol bis Tolstoi, aber vor Jahren sah ich einmal eine Inszenierung des Kirschgartens von Peter Stein in Berlin und war danach fest überzeugt zu wissen, was erstens wirklich grosses Theater ist und zweitens was die Russische Seele ausmacht. Und jetzt Alexijewitsch!

Vom schönen Traum des langsamen zivilisierten Untergangs zur brutalen, ja bestialischen Wirklichkeit der Gegenwart. Ich bin so erfüllt von Bildern und Stimmen, dass ich den Eindruck habe, ich könnte hier und jetzt Vorträge über Russland halten. Nicht häb chläb!

Dank Swetlana Alexijewitsch ist mir, als könnte ich stundenlang weitererzählen von den Menschen, die dieses Land aufbauten und ausmachen und von dem Preis, den sie für seine vergangene Grösse bezahlt haben. Zum grossen Teil willig und in Überzeugung bezahlt haben! Dies vielleicht die tragendste Erkenntnis.

Längst muss ich aufpassen, dass ich nicht allen dauernd mit meinem «Russland» komme, habe mir aber eine Flasche Wodka gekauft, habe mir Dokus und unzählige Bilder angeschaut, wieder Schostakowitsch gehört und bilde mir ein, besser zu verstehen, warum aus dem Kreml nur das kommt, was kommt. Aber ich kann keine Bäckerei mehr betreten, ohne in Anbetracht des herrlichen, knusperigen, an der Wand aufgestapelten Brotes, das mir mit einem Handschuh und begleitet von einem freundlichen Lächeln gereicht wird, wieder vor mir zu sehen, was ich alles gelesen habe über die Bedeutung von Brot, von Mehl, ja von Krümel im Leben unzähliger Menschen, die es meistens entbehrten und entsprechend verehrten.  

Und was hat Kasimir Malewitsch damit zu tun?

Kürzlich war sein berühmtes Schwarzes Quadrat in Basel zu sehen. Zusammen mit dem schwarzen Kreis und dem schwarzen Kreuz, wie es sich gehört. Man kann darin so etwas wie die Ikonen der endgültigen Formen sehen, vielleicht ist das schwarze Quadrat aber auch eine Ikone der Verweigerung. Vielleicht ist es die Summe aller möglichen Bilder im Kopf. Alle schön übereinander gelegt. Versucht man nämlich, sich dies vorzustellen, wird einem unausweichlich schwarz vor den Augen.

La Patrouille

von Antoine Jaccoud 3. Februar 2016

Janine raconte une histoire aux enfants, fait la prière avec eux, les embrasse et éteint la lumière:”Bonne nuit mes amours, dormez bien“.

Elle retourne ensuite dans la cuisine. Il faudrait débarasser, mais elle se contente de regarder un instant les assiettes vides dans le silence revenu.

Tout à l’heure, Michel a envoyé un SMS:

Rémy a oublié ses peaux à la maison, Grégoire heureusement en avait une paire supplémentaire dans sa voiture, on attaque la montée. A toute…

Ils sont donc partis. Si tout va bien, ils devraient être au sommet vers 22 heures. Ils vérifieront alors leur altimètre, mangeront un farmer, boiront une goutte de thé puis redescendront. Si tout va bien, Michel sera vers minuit à la maison.

Janine a un moment de découragement. Il y avait un écrivain français à la bibliothèque ce soir. Elle serait bien allée l’écouter. Et puis peut-être que le prof de yoga aurait été là aussi. Elle l’aime bien, Jonathan. C’est un type sensible, un peu marginal, qui sait écouter.

Elle a envie de sortir tout d’un coup, de laisser les gosses et d’aller fumer une cigarette dehors. Elle repense aussi à ce truc  qu’ils avaient acheté chez Beate Uhse avec Michel mais qu’ils n’ont jamais vraiment utilisé et soudain elle se demande à quoi ça rime tout ça…

Où est-ce qu’il est d’ailleurs, ce machin?

Les pleurs du petit la ramènent brutalement au réel.

Janine soupire, sort de la cuisine, va voir: “qu’est-ce qu’il se passe, Sammy, tu as mal quelque part?“.

Ce sera comme ça deux mois encore. Le temps qu’il faudra à Michel pour effectuer, à côté de son travail, les 18 000 mètres de dénivelé nécessaires.

Comprenez, cette année, c’est Patrouille des Glaciers…

 

was kommt nach dem tod?

nach dem tod

kommen die rechnungen

für sarg begräbnis und grab

 

was kommt nach dem tod?

nach dem tod

kommen die wohnungssucher

und fragen ob die wohnung erhältlich

 

was kommt nach dem tod?

nach dem tod

kommen die grabsteingeschäfte

und bewerben sich um den auftrag

 

was kommt nach dem tod?

nach dem tod

kommt die lebensversicherung

und zahlt die versicherungssumme

 

was kommt nach dem tod?

 

Kurt Marti (leichenreden, 1969)

 

 *  *  *

 

was kommt vor der geburt?

vor der geburt

kommen die rechnungen

für babywagen wickeltisch und kinderbett

 

was kommt vor der geburt?

vor der geburt kommt

die besichtigung der grösseren wohnung

und die frage ob sie bezahlbar

 

was kommt vor der geburt?

vor der geburt kommen

die geburtshäuser

und erläutern ihre philosophie

 

was kommt vor der geburt?

vor der geburt kommt

die bank

und hilft bei der eröffnung eines kontos

 

was kommt vor der geburt?

 

Gerhard Meister (Januar 2016)

 

Am 31. Januar wird Kurt Marti fünfundneunzig. Bern ist überall gratuliert ihm und dankt ihm herzlich.

Jetzt lese ich schon das ganze Jahr in einem dicken Buch und staune, wo es mich überall hinführt. Ich war schon im Kosovo, in Serbien, in Finnland und sogar in Langenthal. Eben nahm es mich mit in einen düsteren Wald in der Umgebung von Moskau. Dort sassen illegale Wanderarbeiter um ein Feuer beim Essen. Und hinter Zuckerrüben versteckt, bin ich in einem Güterwagen mitgefahren. Durch ganz Süd-Frankreich bis Genua. Dort habe ich Schwarzarbeiter beim Putzen begleitet.

Ich könnte auch erzählen, womit eine Juristin aus der Schweiz bei ihrem Stellenantritt am Internationalen Gerichtshof in Den Haag in Sachen Zeugenschutz so alles konfrontiert wird oder was man als Erntehelfer in Andalusien erleben kann, könnte ganz genau nacherzählen, was das tonnenweise Pflücken von Erdbeeren den Händen eines Menschen antut.

Ob in Rumänien oder in Serbien, irgendwie bin ich immer verdammt nah an diesem Europa, das gerade wieder mal ächzt und stöhnt, aber der Film in meinem Kopf geht immer noch weiter, mir werden immer weitere Leute vorgestellt, deren Bekanntschaft ich so leicht nicht machen würde, ich werde an Orte geführt, wo ich so leicht nicht hinkommen würde.

Möglich macht das ein ganz moderner Maxim Gorki, der allerlei auf sich nimmt, um mir berichten zu können, aus den verstecktesten Winkeln und finstersten Löchern unseres sonst so schönen Kontinents.

Oh, Sie kennen das Buch auch! Die Hauptfigur ist ein rasender Reporter und das Buch wurde sogar schon mal verboten. Es heisst Bergsteigen im Flachland und der Autor ist natürlich Urs Mannhart.

Ich weiss, es macht keinen grossen Sinn, öffentlich über Bücher zu schwärmen, denn das Privileg, Zeit und Musse zu haben, sich aufwendiger Lektüre hingeben zu können, ist nur ganz wenigen vorbehalten. Ich schwärme jetzt trotzdem.

Übrigens: Wussten Sie, dass es allen Strukturbereinigungen zum Trotz auch neue Buchläden gibt? So zum Beispiel an der Postgasse. Wer hätte das gedacht!

Und was hat William Kentridge damit zu tun? Dieser Johannisburger Star- und Spitzenkünstler ist zwar kein Europäer, aber er ist gerade wieder in der Baumausstellung bei Klee zu sehen und bei der Lektüre von Bergsteigen im Flachland habe ich schon etliche Male an seine Bilder gedacht.

Die leere Telefonzelle

von Gerhard Meister 30. Dezember 2015

Diese Zelle ist leer, niemand braucht sie mehr. Niemandem ist das Licht, das in ihr brennt, eine Verheissung von Kontakt und Gesprächen bis ans andere Ende der Welt. Dass man sich in diese Zelle hinein von der Welt absondern kann, um so mit ihr in Verbindung zu treten, ist ein aus den Köpfen verschwundener Gedanke.

Da steht sie. Noch brennt Licht in ihr, Zeugnis eines Rituals, das niemand mehr ausübt. Relikt aus einer vergangenen Zeit. Die Zelle wird nicht mehr allzu lange dort stehen. Für Relikte aus vergangener Zeit ist im öffentlichen Raum kein Platz. Es sei denn, was nicht mehr gebraucht wird, lasse sich umnutzen.

Aber wie lässt sich diese Zelle umnutzen? Was anstellen auf einem knappen Quadratmeter Fläche?

Für Gymnastik ist das zu klein, verstecken kann man sich darin auch nicht, die Glaswände verraten einen. Als Schutz vor Raubtieren wäre sie zu gebrauchen, ja, wie im alten Witz: zwei Männer im Dschungel, warum hast du eine Telefonzelle bei dir? Damit ich mich, wenn der Tiger kommt, dort hinein retten kann. Aha. Und du, warum trägst du einen Stein mit dir? Damit ich, wenn der Tiger kommt, den Stein fallen lassen und so viel schneller rennen kann. Oder hat einer noch Turnschuhe dabei, die er anziehen will, wenn der Tiger kommt? Um damit zwar nicht schneller zu sein als der Tiger, wie sein Kollege richtig feststellt, aber schneller als dieser?

Ganz kriege ich die Witze nicht mehr hin, und ich befürchte, dass ich sie mir zusammengoogeln könnte auf dem Handy – das dieser Zelle den Garaus gemacht hat. Oder ihr ihren Glanz gegeben.

Erfährt ein Objekt nicht eine Steigerung dadurch, dass es nutzlos ist? Wie schwierig, die Schönheit in Gebrauchsgegenständen zu sehen.

Auch die Schönheit dieser Zelle hätte ich übersehen, wären Zellen wie sie nicht selten und nutzlos geworden. Jetzt, wo es sie nicht mehr braucht, liegt im Licht, das aus ihr scheint, ein Glanz, der unendlich über die Möglichkeit einer telefonischen Verbindung hinaus reicht. Und doch ist manchmal gerade die Stimme im Hörer des Telefons das Unendliche, das wichtiger ist als alles andere.

Die Umnutzung der Zelle zu einem Gebetsraum wäre somit vielleicht eine, die keine ist.

Er ist nur ein Zettel, ein Fötzel, ein quadratisches Stück Papier, abgerissen von einem Block auf dem Küchentisch oder neben dem Telefon. Gesehen habe ich ihn auf einem Spaziergang, zweimal gefaltet lag er schon leicht verschmutzt vor mir auf dem Asphalt. Interessiert hat er mich, weil ich darauf ein paar handschriftliche Buchstaben erkannte. Aufgehoben habe ich ihn, weil handschriftliche Buchstaben heilig sind. Gedacht habe ich auch: Ein Zeichen ist ein Zeichen. Buchstaben sind Zeichen. Und dieser Zettel ist ein Zeichen und Zeichen müssen gelesen werden, dafür sind sie da.

Und jetzt beschäftigt mich dieser kleine, schon leicht verschmutzte Zettel immer von Neuem.

Wenn ich davon erzähle, ernte ich besorgte Blicke. Der Versuch, ihn in eine Geschichte einzubauen, ist schon am ersten Gegenlesen gescheitert. Mein Eindruck, dass es sich bei dem Zettel um Literatur handelt, wurde bis jetzt nicht geteilt. Etwas, das jemand als Gedächtnishilfe ohne jegliche künstlerische Absicht verfasst, sei keine Literatur!

Darauf entgegne ich: Neun Wörter unter dem umrahmten, als Titel dienenden Stichwort Einkaufen müssen nicht unbedingt als Meisterwerk der Dichtkunst betrachtet werden, aber gibt es sprachlich etwas Unverfälschteres, etwas Welthaltigeres, etwas Zweckdienlicheres als eine Einkaufsliste? Nicht in diesem reduzierten Umfang.

Im vergangenen Jahr ist wenig passiert, das sich nicht zu einem der neun Begriffe in Beziehung setzen liesse. Deshalb danke ich der Verfasserin und erkläre diese neun Wörter zu meinem Gedicht des Jahres. Dass es sich um eine Verfasserin handeln muss, sagt mir mein Instinkt wegen des ersten, etwas rätselhaften Doppel-Wortes.


Einkaufen

Weibchen-Stecker

Olivenöl

Sparschäler

Zeitungshalter

Aufbewahrungsdosen Küche

Abflusssieb

Kaffee

 

Und was hat Ricco Wassmer damit zu tun:

Erstens kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser so unschweizerisch frisch und bunt und sachlich daherträumende Künstler die Bedeutung eines leicht verschmutzen, auf dem Trottoir gefundenen Einkaufszettels unterschätzt hätte. Zweitens widmet ihm das Kunstmuseum Bern gerade eine umfassende Retrospektive. Ein Weihnachtsgeschenk zweifellos! Dazu wünscht man dem lieben Leser und der lieben Leserin: Feste Frohtage und ein Jahr Gutes!

Ein Gang durch die nie stattgefundene «Erste Nationale Menschenausstellung»(1999-2004) von Ruedi Häusermann.


Häusermann hatte vor, seine Ausstellung in mehrere Abteilungen und Zwischengänge zu gliedern, deren Reihenfolge vorgegeben gewesen wäre. Das hätte zu einer eigentlichen Ausstellungsdramaturgie geführt, die Häusermann dazu nutzen wollte, kleine theatrale Geschichten zu erzählen, die sich nach und nach verbunden hätten. In jedem Raum wäre – deutlich wiedererkennbar – ein «Betrachterpaar» anwesend gewesen, das sich am Anfang der Ausstellung kennen gelernt und das am Ende der Ausstellung geheiratet hätte. Auch eine Schulklasse sollte immer wieder auftauchen. Einmal hätte der Lehrer die Klasse unterrichtet und die Ausstellung durch seine Erläuterungen ergänzt. In einer anderen Situation hätte die Klasse ein Lied geprobt: den von Ruedi Häusermann für das Projekt komponierten eurovisionstauglichen Ohrwurm «Up on the top of matherhorn». In jedem Raum sollten ausserdem «Experten» auftreten, Darstellerinnen und Darsteller mit theatralen oder musikalischen Aktionen. Schliesslich hätte es in jedem Raum Aufseherinnen und Aufseher gegeben, mit Schildern gekennzeichnet wie «Frau, Schweizerin, 1965». Sie hätten das Publikum informiert und zum Weitergehen aufgefordert.

Die Objekthaftigkeit des Schweizers auf die Spitze treiben

Begonnen hätte die Sache im Foyer. Hier war eine Fotoausstellung geplant, die lange Warteschlangen vor berühmten Museen und Ausstellungen zeigte. Auch Bilder des Eingangsbereichs der «Menschenausstellung» wären zu sehen gewesen. Wir hätten gelernt: Der Mensch wartet in Schlangen. Eine Bar sollte das Publikum verköstigen. Auf Schildern wären verschiedene «Regeln» zu lesen gewesen, wie man sich in der Ausstellung zu verhalten habe. Allgemeine Grundstimmung dieses Vorraums: Angenehm, zum Verbleib auffordernd.

Durch einen niederen, sich zunehmend erhöhenden Gang hätten wir die Ausstellung betreten. Unser Eintreten wäre von den anderen Besucherinnen und Besuchern mit verfolgt worden, so dass wir unfreiwillig Beispiel gegeben hätten, wie der Mensch zum aufrechten Gang kam.

Mensch – Zubehör

«Mensch – Zubehör» wäre die erste Abteilung überschrieben gewesen. Eine Pianistin als «Expertin» hätte den Raum geprägt. Gelegentlich hätte sie den Standort gewechselt und ihren Flügel verschoben. Glasvitrinen hätten gezeigt: «Zubehör 1: Kleidung» (Unterhosen, BH, Kittel, Erwachsenenschuhe, Kinderschuhe etc.), «Zubehör 2: Nahrungsbeschaffung» («Grosswerkzeuge»: Fischernetz, Melkmaschine, Mähdrescher, Kühlschrank etc. sowie «Kleinwerkzeuge»: Gabel, Messer, Spezialgeräte Wasserschalentiere etc.), «Zubehör 3: Hygiene» (Seife, Crème, WC-Schüssel, Taschentuch etc.), «Zubehör 4: primäre Hilfsmittel» (Stuhl, Bett, Tramhandgriff etc.), «Zubehör 5: Mobilität» (Velo, Auto, Vespa, Kickboard, Flugzeug etc.), «Zubehör 6: sekundäre Hilfsmittel» (Verbandstoff, Toupet, Brille, Gebiss etc.).

Auf Täfelchen sollte stehen: «Der Mensch lebt in Temperaturen zwischen -45° und +40° Celsius», «Der Mensch ist im Prinzip Allesverzehrer», «Der Mensch ist durchschnittlich pro Tag 37 Minuten mit der persönlichen Hygiene beschäftigt», «Am Tag bewegt sich der Mensch aufrecht, aber er sitzt auch oft», «Die Fortbewegungsmittel werden auch zu Repräsentationszwecken eingesetzt», «Eine Vielzahl von Hilfsmitteln macht es dem Menschen möglich, auch unter schwierigsten körperlichen Bedingungen weiterzuleben». Mit dem Arbeitsbegriff «pseudowissenschaftlich» war diese erste Abteilung umschrieben.

Eine Aufsicht, die Glaskästen putzend, hin und wieder den Hochzeitsmarsch pfeifend, hätte uns nun dazu aufgefordert, den Raum zu wechseln. Wir wären in einen Zwischengang gelangt. Hier war eine «Schädelausstellung» vorgesehen: Diverse angeblich uralte Schädel, zusammengeklebt aus knöchernen Bruchstücken wie alte Vasen. Ausserdem wäre auf die aktuelle Spezialausstellung «Birchermüesli» hingewiesen worden.

Mensch – Wissenswert

Wir hätten die zweite Abteilung «Mensch – Wissenswert» betreten. Sie sollte an Gewerbeausstellungen wie die Mustermesse erinnern. Doch wäre hier nur sehr leise gesprochen worden. An verschiedenen Ständen referierten «Experten» fast flüsternd über die menschlichen Sinne: Hören, Sehen, Riechen/Schmecken, Tasten. Auch Sprechen, Träumen, Fortpflanzung («Auslage in Vorbereitung») und Menschliche Vielfalt wären Themen von kleinen interaktiven Inszenierungen, Schnellvorträgen und skurrilen Versuchsanordnungen gewesen.

Im Selbstversuch hätten wir beispielsweise erfahren, wie ein Jagdaufseher hört (sehr laut), ein E-Gitarrist (mit Dauer-Pfeifton), ein ungeborenes Kind im achten Monat, ein sterbender Mensch… Und über die «menschliche Vielfalt» sollte uns ein Dia-Vortrag informieren: stehender Mensch – liegender Mensch, trauriger Mensch – fröhlicher Mensch, dummer Mensch – intelligenter Mensch, armer Mensch – reicher Mensch, behaarter Mensch – unbehaarter Mensch etc. Die Dias sollten allesamt Menschen zeigen, denen wir in der Ausstellung bereits begegnet wären. Als «insgesamt sehr lustig» war diese zweite Abteilung charakterisiert.

In einen düsteren, feuchten Zwischengang wären wir daraufhin gelangt. Eine Beschriftungstafel hätte behauptet: «Aus konservatorischen Gründen können Teile der Ausstellung nur durch reduzierte Beleuchtung gezeigt werden». Zu sehen gewesen wären «Spuren» des Menschen: Versteinerter Schädel (4 Mio Jahren), Fuss-Spuren (3 Mio Jahre), Exkremente (400’000 Jahre), Haarbüschel (5’000 Jahre), Moorfunde (2’000 Jahre), Zähne (500 Jahre), Hautfunde (400 Jahre)… Doch die einzelnen Exponate wären kaum zu unterscheiden gewesen: Undefinierbare versteinerte Gebilde. Erst in jüngster Neuzeit wären die «Spuren» auf einmal deutlich geworden: Fleisch (2 Jahre), Fingernägel (1 Jahr), Kot (2 Monate), Erbrochenes (3 Wochen), Urin (2 Wochen), Auswurf/Speichel (6 Tage), Schweissgeruch/Darmgase (5 Minuten), alles präsentiert in Nierenschalen unter Glas.

Himmelschor und Kopfgesang

Nach den leiblichen Überresten wären wir daraufhin zur «geistigen Welt» des Menschen vorgedrungen. Auf einem Rundgang über uns hätten wir einen singenden Himmelschor erkennen können, der in einer Art Prozession seine Runden gedreht und auf Einlass in den Himmel gewartet hätte. Zu hören gewesen wäre eine choralmässige Fassung des Hochzeitsmarschs.

Wir wären in den nächsten dunklen Raum gelangt: Eine ansteigende Miniaturlandschaft, durch die uns ein Gang geführt hätte. Für die jeweils neu Eintretenden wäre dabei der Eindruck einer «Hinterkopfstudie» entstanden: Verschiedene Betrachterköpfe, die nach und nach in der Landschaft untergetaucht wären.

Menschliches Zusammenleben

«Zusammenleben» hätte die dritte Abteilung geheissen. In einer Halle wären lebensgrosse Installationen aufgebaut gewesen. Über einer hätte gestanden: «Menschen leben in Familieverbänden». Zu sehen gewesen wäre eine aufgeschnittene Wohnung, mit Bad, Küche, Esszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer. Gehaust darin hätte eine vierköpfige Familie, die in einer Loop-Szene ihren Morgenalltag spielend-erzählend demonstriert hätte: Der Wecker klingelt, wäre uns gesagt worden und weiter: Die Familie steht auf und betritt das Bad. Der Junge nimmt die Zahnbürste. Die Mutter zieht den Rock an. Sie bereitet das Frühstück vor. Alle Familienmitglieder setzen sich an den Tisch. Nach und nach verlassen sie die Wohnung. Dann hätte der Loop von vorne begonnen.

«Landwirtschaft», «Produktion» und «Dienstleistung» sollte auf nächsten Schildern stehen, welche auf die Arbeitswelt des Menschen («Mensch + Arbeit») verwiesen hätten. Da wäre ein Bauernhof zu sehen gewesen, mit Scheune: Das Tor hätte sich geöffnet und der Bauer wäre mit seinem Traktor aufs Feld hinaus gefahren. Auf dem Feld hätte es naturechte Erde gegeben, die von der Bäuerin beim Gehen in der einen Richtung geackert und beim Zurückgehen geeggt worden wäre. Der Bauer hätte einen Vortrag gehalten über die Vor- und Nachteile des Bauernlebens.

Direkt daneben sollte eine Fabrik stehen, mit Zick-Zack-Dach und zwei Produktionsstrassen darunter. Auf der einen Seite wäre demonstriert worden, wie Aromatpulver hergestellt wird. Auf der anderen wäre parallel dazu die passende Aromatbüchse gefertigt worden. Wieder waren kleine choreografierte Situationen vorgesehen, sich wiederholende Abläufe, musikalische Elemente; aber auch Kürzestszenen, die beispielsweise die Kündigung eines Mitarbeiters geschildert hätten.

Der Dienstleistungssektor wäre dargestellt worden mit einem Einblick in die Arbeit der (damals noch existierenden) Telefon-Auskunft-Zentrale 111. Kleine Szenen hätten vom Alltag in der Zentrale erzählt, den penetranten Anfragen, der Zeitnot, den Kompliziertheiten, die sich u.a. dadurch ergeben hätten, dass nur ein Telefonbuch vorhanden gewesen wäre. Ein Spezialist sollte die Abläufe professionell kommentieren.

Eine weitere szenische Installation hätte «Liebe + Partnerschaft» geheissen. Hier hätten wir also gesehen, wie sich das mehrfach auftgetauchte «Betrachterpaar» in einer intimen Sequenz näher kommt.

Wir wären zu «Mensch + Freizeit» vorgedrungen. Ein kurzes Theaterstück hätte nach dem Prinzip der «Traditionsballung» verschiedene volkskulturelle Phänomene gezeigt: Chor, Jodler, Ländlerkappelle, Trachtentanzgruppe, «1 Mani Matter», eine Fernsehfamilie, Hündeler… Hinter uns sollte eine luftdicht verpackte Blasmusik im Glaskasten spielen.

Und da wäre auch der eingangs erwähnte «Freizeitberg» zu entdecken gewesen, eines der teuersten Objekte der Ausstellung, um dessen hohe Kosten schon im Vorfeld gerungen wurde. «Wander- und Skivergnügen» hätte auf einem Schild gestanden. Auf der einen Seite des Berges hätten wir den Bergsteigern beim Aufstieg zugesehen. Auf der anderen Seite wären die Skifahrer heruntergerast.

Und in einer Art Bunker schliesslich sollte sich die «Sirenenschule» befinden: Ein Soldatenchor imitiert singend verschiedene Sirenentöne, während ein Prüfling zur Bedeutung der Tonfolgen befragt worden wäre. Auch ein «Chlortablettenlager» hätte hier Platz gefunden.

Nach Hochzeitskatalogen, Gesellschaftsspielen und dem «Merkblatt für kantonale Scheidungsraten» wären wir in einen Bahnhofs-Wartsaal  gelangt, in dem die Themen «Mobilität + Reisen» noch einmal hätten vertieft werden können. Durch räumliche Veränderungen sollte sich der Wartsaal schliesslich zum Sääli wandeln. Und wir hätten uns auf einmal mitten in einer Hochzeitsgesellschaft befunden: als Gäste an der Hochzeit des «Betrachterpaars». Der Hochzeitsmarsch wäre gespielt worden. Die Schulklasse hätte ihr «Matherhorn»-Lied gesungen. Und der im «Matherhorn»-Lied besungene «Willy» hätte als Tischmajor erzählt, wie sich das Hochzeitpaar kennen gelernt hätte. Auf dem Tisch wäre frisch produziertes Aromat gestanden. Und während sich die Gesellschaft zum Tanz erhoben hätte, wären wir in den nächsten Raum geschoben worden – in die Innenwelt des Menschen.

Mensch innen, der Lebensbogen

Stockdunkel wäre es nun gewesen: «Mensch innen». Wir hätten uns in einer Art Operationssaal befunden, der anatomischen Abteilung. Und hätten erfahren, dass der Mensch sich für sein Innenleben interessiert. Im Gegensatz zum Hund, der sich nicht darum kümmert, wohin die Wurst gelangt, die er isst.

Von da aus wäre es weitergegangen in den «Lebensbogen»: Eine unendliche Landstrasse mit einer sich verjüngenden Perspektive. Rechts davon hätten Männer gesessen, links davon Frauen. Sie wären beschriftet gewesen: «5 Jahre», «10 Jahre», «15 Jahre»… Menschen im Alter von 5 bis 90 Jahren hätten hier gesessen. Sie hätten in Büchern gelesen, gelegentlich aufgeschaut. Es hätte kleine choreografierte Synchronitäten unter ihnen gegeben. Ein weiteres Schild hätte verhindert, dass die Darstellenden belästigt worden wären: «Bitte nicht mit dem ausgestellten Personal sprechen.» hätte es geheissen.

Am Ende der Strasse wäre dann der Ausgang gewesen. Wir wären ins Freie gelangt und hätten etwas versteckt weiter hinten das Grab jenes «Willy» entdeckt, der uns im «Matherhorn»-Lied und unterwegs mehrfach begegnet wäre.

Knapp zwei Stunden hätte dieser Rundgang gedauert. Das Publikum sollte gruppenweise in zeitlichen Intervallen die Ausstellung betreten. Von 17.00 bis 23.00 Uhr wäre sie geöffnet gewesen sein. So hätten im Verlauf eines Abends – wie bereits vorhandene detaillierte Berechnungen zeigen – rund 600 Personen die Ausstellung besuchen können. Es hätten sich jeweils mehr Beteiligte in der Ausstellung aufgehalten als Besucherinnen und Besucher.

Ausserhalb der Ausstellung schliesslich sollte es einen Aussichtsturm geben, von dem aus wir auf die Ausstellung heruntergesehen hätten. Und hier hätte gestanden: «Menschen besuchen gerne Menschenausstellungen». – Wenn sie denn stattfinden.

Geschrieben für das eben im Verlag «Theater der Zeit» erschienene Buch «Umwege zum Konzert».

Die Buchpremiere mit Ruedi Häusermann und Herausgeberin Judith Gerstenberg findet am 13. Januar 2016 um 18.30 Uhr im Schauspielhaus Zürich Schiffbau / Matchbox statt.

Zu Ruedi Häusermanns vier Mal gescheiterter «Ersten Nationalen Menschenausstellung» (1999-2004).

 

Vielleicht wäre es Ruedi Häusermanns Hauptwerk geworden: Jenes dadaistisch-philosophische Gesamtkunstwerk, das in Form einer Ausstellung alle Gattungen vereinigt und zu einem Erlebnis eigener Art gestaltet hätte. Ein leises Spektakel mit über 500 Beteiligten zur Jahrtausendwende, bestehend aus liebevoll gearbeiteten Szenen, Installationen, Musikstücklein, Objekten. Und vielleicht hätten sich die Bewohner dieses Landes noch Jahrzehnte später lachend erzählt vom Blasorchester im Glaskasten, dem aufrechten (Ein-)Gang, dem wenige Meter hohen «Freizeitberg», an dem die Wanderer auf der einen Seite hochgekrabbelt und die Skifahrer auf der anderen Seite heruntergerast wären, vom «Lebensbogen», bestehend aus 40 lesenden und fein choreographierten Statistinnen und Statisten unterschiedlichsten Alters.

Nein, Menschen sollten hier nicht ausgestellt werden. Doch mit der Erwartung wurde gespielt, den Assoziationen an kolonialistische Menschenzoos, plastinierte «Körperwelten», «Weltausstellungen» und die Landschaften von «Suisse miniature». Die Idee dazu hatte Ruedi Häusermann, als er mit einem seiner Söhne eine Kanarienvogelausstellung besuchte. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügte er dem Titel gleich die ironische Klammer «nur Einheimische» an. Häusermann hatte nicht vor, Vorurteile zu bewirtschaften. Er wollte den «Einheimischen» die befremdliche Art der «Einheimischen» zeigen. Oder um es in seinen Worten zu sagen: «Wir gehen von der naiven Annahme aus, dass der Besucher von der Spezies Mensch überhaupt noch nichts weiss. Wir inszenieren eine vorsichtige Annäherung an dieses Wesen.» Und der Besucher hätte dann erlebt, wie er selber zum Objekt der Ausstellung geworden wäre.

Mehrfach gescheitert

Zur Eröffnung des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL), in Zusammenarbeit mit dem Luzerner Theater, hätte die «Menschenausstellung» 1999/2000 ein erstes Mal stattfinden sollen. Dann brach der Fussboden ein, die Eröffnung des KKL war gefährdet. Auf der Strecke blieb die «Menschenausstellung». Ein zweiter Anlauf wurde 2001 am Zürcher Schauspielhaus unternommen. In Zusammenarbeit mit Gérald Mortiers Ruhrtrienale sollte das Grossprojekt Christoph Marthalers Schiffbau mit eröffnen. Die Kosten wurden auf 3,66 Mio Franken veranschlagt. Es fehlten 1,26 Mio Franken, bei einem ohnehin schon angespannten Theateretat und dem Defizit beim Schiffbau-Umbau. Die Leitung zog die Notbremse. In der Zwischenzeit hatte sich auch die Expo 02 für das Projekt interessiert. In Zusammenarbeit mit dem Kanton Aargau und dem Luzerner Theater war die «Menschenausstellung» als zweimonatiges Gastspiel auf der Arteplage Yverdon-les-Bains geplant. Wieder scheiterte die Sache an der Finanzierung. Schliesslich wagte Gérard Mortier einen Befreiungsschlag. In der Vorschau auf das Programm 2003/2004 kündigte die Ruhrtrienale frisch-fröhlich an: «Das komische und traurige Phänomen des Homo sapiens in einem spektakulären Ausstellungs-Event von Ruedi Häusermann mit 900 Mitwirkenden.» Doch auch diesmal blieb die Realisierung im Stadium der detallierten Sitzungsplanung stecken.

Dadurch dass Häusermann vier Mal Anlauf genommen hat, ist seine «Menschenausstellung» bestens dokumentiert, fast so, als hätte sie tatsächlich statt gefunden. An der Grundkonzeption ändert sich wenig über die Jahre, je nach räumlichen Gegebenheiten wechselt die Abfolge der einzelnen Räume, der Grad der Konkretisierung nimmt weiter zu. Pläne, Skizzen, Modelle, Fotos und Ideensammlungen zeugen davon, wie intensiv Häusermann und sein Team – zu nennen sind vor allem die Bühnenbildnerin Marie-Isabel Vogel, der Architekt Alain Rappaport und der Lichtdesigner Uli Schneider – in all der Zeit grösstenteils unbezahlt gearbeitet haben. Auch erste szenische Proben haben bereits stattgefunden.

So wenig Häusermann seine Musik auf dem Papier zuende komponiert – um mit den Musikerinnen und Musikern an den realen Instrumenten jene schwebenden Zwischentöne zu entdecken, denen er auf der Spur ist –, so sehr braucht Häusermann in der szenischen Arbeit das Gegenüber der Darstellerinnen und Darsteller. Die Idee war, sämtliche szenischen Vorgänge mit einem Kernteam von Profis zu entwerfen, zu dokumentieren und dann mit den vielen hundert Beteiligten einzustudieren.

Arbeiten für etwas, das im Kopf bleibt

Ruedi Häusermann ist einer, der sich bei der Projektentwicklung Klaviaturen schafft, auf denen er im Weiteren immer virtuoser zu spielen beginnt. Seine Projekte sind gestaltete Prozesse, die er bis in die Arbeit am kleinsten Detail als Spielfeld begreift. Die Frage, ob die «Menschenausstellung» nicht auch billiger zu haben gewesen wäre, beantwortet er mit einem selbstverständlichen «Nein»: «Dienicht, aber etwas Anderes schon.» Er verweist darauf, dass er viele kleine Projekte realisiert habe und dass sich das Wesen der «Menschenausstellung» eben nur in der geplanten Grösse entfalten würde. Der liebevoll gestaltete Überfluss hätte das Projekt zu dem gemacht, was es gewesen wäre.

Ruedi Häusermann arbeitet aus der Vielzahl an Möglichkeiten heraus und erweitert sie bis in die praktische Unmöglichkeit. Das macht die Faszination an seinen nicht realisierten oder wie er sagt «gescheiterten» Projekten aus: Hier zeigt sich seine Arbeitsweise exemplarisch. – «Zuletzt vermischt sich das, was du gemacht hast, und das, was du nicht gemacht hast. Gedacht hast du beides ». So gehört das «Gescheiterte» mit zum Werk und bildet – nach einer schmerzhaften Phase des «Entliebens» – Keimzellen für nächste Projekte. Häusermanns Arbeiten speisen sich aus dem sich stets erweiternden Ruedi-Häusermannschen Bilder-Töne-Räume-Sätze-Kosmos, auf den die Arbeiten ihrerseits wieder zuwirken. Und es könnte eine eigentliche Werkgeschichte der gescheiterten Projekte Häusermanns verfasst werden, von denen erstaunlich viele in Berlin (nicht) stattgefunden haben: Von der Bespielung des leerstehenden Staatsratsgebäudes der abgewickelten DDR am Alexanderplatz (Scheitergrund: «Höhere Gewalt») über die Eröffnung der Spielstätte Prater an der Kastanienallee (Scheitergrund: «Menschliches Versagen») bis zur Neujahrsproduktion an der Deutschen Oper unter dem später wieder und anders verwendeten Titel «Vielzahl leiser Pfiffe» (Scheitergrund: «Intendant abgesetzt»).

Etliche Ansätze und Ideen, die bei der «Menschenausstellung» entwickelt wurden, tauchen in späteren Arbeiten auf: Im Beitrag zum Projekt «X-Wohnungen» in Fribourg 2007 – Häusermann stellte den Bewohner einer Zweizimmerwohnung aus, dessen Lebensspuren beobachtet werden konnten, während der Bewohner selber in der Küche sass, Gitarre spielte und per Fernseher mit leichter Verzögerung die Ausstellungsbesucher beobachtete –, in «Ängelrain», dem Lenzburger «Bevölkerungstheater» (2006), oder auch im Ländler-Stück «Eidg. Moos» (2011). Das mag ein wenig darüber hinwegtrösten, dass es die «Menschenausstellung» in dieser Form nie gab, lässt aber auch erahnen, welches Glück es gewesen wäre, wenn Ruedi Häusermanns heimliches Hauptwerk hätte realisiert werden können – und zwar tatsächlich zur Jahrtausendwende.

Beitrag für das eben im Verlag «Theater der Zeit» erschienene Buch «Umwege zum Konzert».

Lesen Sie morgen Teil 2: Wie es gewesen wäre.

l’avenir dure longtemps

von Antoine Jaccoud 9. Dezember 2015

Je n’aime pas les Noirs qui font tache sur les patinoires de mon pays.

Je n’aime pas que des petits syriens ou afghans cherchent à me tirer des larmes en se foutant au jus sans savoir nager.

Je ne crois pas trop au réchauffement climatique et je n’ai pas envie qu’on m’emmerde tout le temps avec ça.

J’apprécie les centrales nucléaires même quand elles sont fissurées.

J’aime les frontières fermées (à part lorsqu’il s’agit d’importer du poulet américain lavé au chlore).

Je n’aime pas que des juges étrangers mettent leur sale nez dans mes petites affaires.

Je suis contre toute réglementation en matière de circulation automobile, de protection de l’environnement et d’antiracisme.

Je n’aime pas le service public et ses émissions casse-couilles sur la religion ou les vols spéciaux.

Je n’aime pas les pétitionnaires qui protestent contre l’installation de canons à neige ou l’impunité de Glencore devant ses bureaux de Baar.

Je trouve que la culture coûte trop cher.

Je trouve que les vieux coûtent trop cher.

Je trouve que les handicapés coûtent trop cher.

Je trouve que tout coûte trop cher à part le salaire de mes amis.

Je pense que si les gens sont malades c’est un peu de leur faute.

Je trouve que le fusil d’assaut a sa place à la maison.

Je trouve que la femme a aussi sa place à la maison.

Je trouve que les migrants doivent rentrer à la maison.

Je pense que l’agriculture bio est une connerie.

Je pense que l’Union Européenne est une connerie.

Je pense que Greenpeace, le WWF et même l’ONU sont des conneries.

Je m’appelle Norman, je m’appelle Guy, je m’appelle Thomas, je m’appelle…- on s’en fout comment je m’appelle.

Robot de Zoug, taureau de la Leventine ou sanglier de Bursins, je serai tout à l’heure conseiller fédéral et si j’étais vous, ce garçon qui a fêté son quinzième anniversaire ce soir, par exemple, ou cette petite Lily de 2 kilos 400 née un peu plus tôt dans la soirée, je me mettrais à l’abri, passerais en respiration abdominale et étudierais sérieusement la carte de la planète Mars.

Ici, c’est foutu.

L’art pour l’art

von Gerhard Meister 2. Dezember 2015

Max Tegmark kam am 5. Mai 1967 auf die Welt und ist damit genau zwei Tage jünger als ich, der hier diese Zeilen schreibt. Aber darum geht es jetzt natürlich nicht.

Denn über Max Tegmark schreibe ich, weil er ein Buch geschrieben hat, das unter dem Titel “Unser mathematisches Universum” in diesen Tagen auf Deutsch erschienen ist. Keine Angst, das wird keine Buchbesprechung. Ich hatte “Unser mathematisches Universum” zwar in der Buchhandlung in der Hand, habe auch darin herumgelesen, doch gekauft habe ich es nicht. Warum nicht? Eins nach dem anderen.

Max Tegmark ist übrigens seit dem Jahr 2000 Professor am Massachusetts Institut of Technology (MIT) und dort auch Direktor des Fundamental Questions in Physik Institutes (FQXi). Doch wie schon gesagt: eins nach dem andern.

Max Tegmark ist zwei Tage jünger als ich, das heisst, wir sind praktisch genau gleich alt. Und das Wörtlein praktisch kann ich mir eigentlich mit gutem Gewissen schenken. Auf 48 und ein halbes Jahr gerechnet, sind zwei Tage im Bereich eines Rundungsfehlers.

Max und ich sind also genau gleich alt (ich denke, ich darf ihn, wenigstens in diesem Text, als derart präzisen Altersgenossen duzen), Max ist in Schweden aufgewachsen, ich in der Schweiz. Das sind durchaus vergleichbare Länder, für die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten wohl sogar dasselbe.

Max und ich teilen weitere Gemeinsamkeiten. Wir haben beide schon als Kinder sehr gerne gelesen. Er hat Agatha Christies “Der Tod auf dem Nil” verschlungen, und obwohl der Wecker um sieben klingelte, konnte er nicht aufhören mit Lesen, bis der Mordfall gelöst war. Beide haben wir also im gleichen Alter Bücher verschlungen statt zu schlafen. Doch gingen hier unsere Wege schon auseinander.

Am Buch hat mich die Literatur interessiert, Max der Krimi, die Auflösung des Rätsels. Er hat Rätsel lösen zu seinem Beruf gemacht und dabei den Einsatz maximal gesteigert, statt einen Mordfall, wie der Krimi das tut, will er als Kosmologe das Rätsel des Universums lösen. Und behauptet nun, das Wesen und Eigentliche des Universum sei die Mathematik.

Jede mathematische Struktur, so Max, führe irgendwo zu einer materiellen Entsprechung, wenn nicht in diesem Universum, dann in einem anderen. Universen gibt es in der modernen Physik ja endlos viele und dauernd spalten sich diese in weitere Paralleluniversen auf, in dem auch Doppelgänger von einem selber anzutreffen sind oder Varianten von Doppelgängern und irgendwo gibt es nach dieser Logik auch ein Universum, in dem damals mich in der Schweiz beim Lesen im Bett der Krimi mehr interessiert hat als die Literatur und ich deshalb das Rätsel lösen zu meinem Beruf gemacht habe, während Max in Schweden zur gleichen Zeit den Krimi zwar auch spannend fand, aber doch mehr an der Literatur interessiert war als am Mordfall und deshalb seinen Beruf in Richtung der Literatur suchte und auch fand, so dass er heute Texte schreibt wie diesen, die für mich, der ich nun Professor der letzten Fragen des Universums geworden bin, zwar durchaus ihren Reiz haben, in denen ich aber trotzdem nicht mehr sehen kann als eine letzten Endes sinnlose Spielerei, während Max im Paralleluniversum mein Rätsel lösen zwar fasziniert (und auch sein eigene Rätsel lösen im Paralleluniversum faszinieren würde, gäbe es irgendwelche Kontaktmöglichkeiten zwischen Paralleluniversen), er es aber genau wie ich in diesem Universum als im Grunde sinnlose Spielerei betrachtet, weil diese Theorien doch immer nur Theorien bleiben, die aus bestimmten mathematischen Formeln geschlossen werden können oder sogar müssen, aber dennoch mit der Wirklichkeit hier auf der Erde und im Leben der Menschen nichts zu tun haben.

L’art pour l’art also, genau wie dieser Text.

Es besteht kein Zweifel: Die Welt ist gerade wieder einmal dabei, völlig aus den Fugen zu geraten. Man kommt kaum mehr mit, die Krisenherde scheinen sich zu multiplizieren und die Vorstellungskraft eines Normalsterblichen ist hoffnungslos überfordert.

Wer aber meint, in diesen schlimmen Zeiten lasse sich wenigstens in der Kunst etwas Harmonie oder sogar so etwas Tröstliches wie Schönheit finden, der irrt. Auch die Kunst ist aus dem Häuschen, hat es schwer wie eh und je. Was ist Kunst? Um Gottes Willen! Manchmal hat sie sogar Mühe, überhaupt als Kunst erkannt zu werden. Auch wird sie aufgeräumt. Wer kennt sie nicht, die sympathische Spielerei, bei welcher ihre Elemente in eine Bildecke gestellt oder wie auf einem Parkplatz die Autos neu aufgereiht werden! Herrlich frech und aberwitzig.

Aber manchmal geht es beim Aufräumen auch weniger lustig zu und her. Zum Beispiel, wenn das Reinigungspersonal irrtümlich eine ganze Installation wegputzt und entsorgt. So neulich geschehen im Museion Bozen. Thematisiert wurde konsumsüchtiges Saufverhalten, aber in der Annahme, es seien die Rückstände einer ausserordentlich üppig verlaufenen Vernissage, wurde die vermeintliche Kunst in der Eingangshalle spät abends rübis und schtübis in grosse Abfallsäcke  abgefüllt und für die Abfuhr bereit gestellt.

Dabei handelt es sich beileibe nicht um einen Einzelfall. Als der Verantwortliche für einen grossen, öffentlichen Park in Madrid seinen Leuten den Auftrag gab, für die bevorstehende Einweihung neu erworbener Skulpturen alles schön sauber aufzuräumen und in Ordnung zu bringen, ging man auch dort allzu beflissen ans Werk. Die zuständige Kunstkommission hatte für teures Geld zwei besonders reich besprayte Betonelemente aus der Berliner Mauer erstanden, welche noch bevor die Korken knallten, von dem wohlmeinenden Personal der Ordnung halber mit weisser Farbe überstrichen wurden. Genau so wie man das in dem besagten Park auch sonst mit über Nacht angebrachter Graffity macht.

Und was hat Benozzo Gozzoli damit zu tun?

Schon ziemlich schtotzig geht es auf Weihnachten zu und keiner hat das an sich dankbare Motiv der heiligen Drei Könige – im Bild ist es Kaspar – eindrücklicher gemalt als dieser Monsieur aus Italien. Wer sich Zeit nimmt, selbst ein paar Einblicke in die Bilderwelt Gozzolis zusammenzusuchen, kommt garantiert nicht aus dem Staunen heraus! Ein bisschen Licht in dieser dunkeln Zeit! Als ich die Kapelle im Palazzo Medici in Florenz betrat, wusste ich jedenfalls ganz genau, dass das Kunst ist und auch, dass ich selten Schöneres gesehen habe.

Xamlet

von Guy Krneta 23. November 2015

Es git Lüt, di sammle Margge. U es git Lüt, di sammle Schärbe. Es git Lüt, di sammle Biuder. U es git Lüt, di sammle Velo. Im Prinzip cha men aus sammle. Aber e Sammler oder e Sammleren isch öper, wo nid aus sammlet, sondern nume ganz beschtimmti Sache. Öper wo Biuder sammlet, sammlet keni Margge. U öper wo Schärbe sammlet, sammlet keni Velo. Aber o öper wo Velo sammlet, sammlet nid aui Velo, sondern nume grüeni oder blaui oder violetti, setigi us Alu oder setigi us Bambus, mit Brämsen oder ohni oder nume Velolüti.

Wär aus sammlet, isch ke Sammler u ke Sammlere, sondern e Messie u het es Problem.

Wär aus sammlet, isch ke Sammler u ke Sammlere, sondern e Messie u het es Problem. Ds glyche Problem, wo früecher oder schpeeter aui hei, wo sammle. Nume het dr Messie ds Problem früecher: Dass’r nüt cha wägggä, aus sammlet, bis d Wonig vou isch. Bis’r ke Platz meh het ir Wonig. D Wonig mues vrla. Geng wider nöji Wonige mues vrla. Aafat Wonige sammle. Bis ihm öper äntlech hiuft, aus das aagsamlete Züüg wider z entsorge.

Wär sammlet, bruucht Kriterie, dass är oder si nid aus mues sammle, sondern nume das, wo dene Kriterien entschpricht. Me cha o aafa Kriterie sammle. So viu Kriterie, bis am Schluss nümmeh übrigblyt zum Sammle, wüu’s nüt git, wo au dene gsammlete Kriterien entschpricht.

Wär sammlet, bruucht Kriterie.

Wär mit Kriterie sammlet, isch im Gägesatz zum Messie schtouz uf sy Sammlig u het früecher oder schpeeter ds Bedürfnis, sy Sammlig z zeige. Fründinnen u Fründe, Kolleginnen u Kollege, dr Familie, dr Öffentlechkeit. I Usschteligen u Musee. Öffentleche Museen u private Musee, wo äxtra bout wärden um sone Sammlig ume. Es git o Lüt, wo aafö Musee sammle. Auti Musee, wo sy gschlosse worde. Wüu se niemer meh bruucht. Wüu se ds Internet ersetzt het. Wüu ds Internet umfassender cha sammlen aus aui Musee zämen u weniger Platz bruucht.

Aber wen es Museum einisch bout isch um sone Sammlig ume, cha sech ds Museum nid eifach uf syre Sammlig usrueje. Es mues d Sammlig ergänze, erwytere, aarychere mit nöie Sammlige. Sys Profiu scheerfe. Oder im Ustuusch mit angerne Museen angeri Sammligen usschteue, nöi Sammlige zämeschteue, wo attraktiv sy fürnes nöis Publikum. Wüu ds aute nach und nach nümm chunnt. Es mues di Sammlige, wo’s het, nach nöischtem Wüssesschtand erschliessen und ufbereiten u im Internet zuegänglech mache. O we sech’s drmit ds eigete Grab schuflet. Es mues drfür sorge, dass es regumässig putzt, pflegt, renoviert, erwyteret wird. U für das aus bruucht’s Gäut.

Am Schluss vo jedem Sammle schteit ds Sammle vo Gäut. We’s nid irgendwenn glingt, di Sammlig dr Öffentlechkeit z übergä. Im Publicprivatpartnership-Vrfahre. Wo o geng wider öper drfür mues lobbyieren u Drittmittu organisiere. Bi Schtiftigen u Mäzene, Schponsoren u angerne Logotregerinnen u Logotreger. O we ds meischte Gäut sowieso vom Kanton chunnt. U es mues sech mit däm wenige Gäut, wo zwar viu isch, im Vrglych mit Angernen im Kanton, aber glych geng z weni, arrangiere. Oder auefaus, für Gäut z beschaffe, aafa einzelni Sache, wo sy gsammlet worde, vrchoufe. D Filetschtück. We’s nid glingt, d Sammlig aus Ganzes z erhaute.

Am Schluss vo jedem Sammle schteit ds Sammle vo Gäut.

Aber vrchoufe cha me di Filetschtück nume so lang, bis nümmeh übrig isch vo dere Sammlig, wo öpis Wärt isch. Aui Filetschtück vrchouft sy. So dass sech’s nümm lohnt, di Sammlig ohni Filetschtücke z erhaute. U o ds nöie Publikum wäggblybt. U dr Kanton u d Schtiftigen u d Mäzenen u Schponsoren u aui wytere Logotregerinnen u Logotreger nümm bereit sy z zale fürne Sammlig ohni Filetschtück. U me drmit höchschtens no ufe Flohmärit cha. U’s dert vilech no öper git, wo bereit isch für ds einten oder ds angeren öpis z zale. U aus Liebhaberen oder Liebhaber mit eigete Kriterie oder mynetwägen o aus Messie mit mehrere Wonige wider vooren aazfa mit dr eigete Sammlig.

Geschrieben anlässlich der Ausstellung “In 80 Minuten um die Welt – Reise durch die Sammlung” im Bernischen Historischen Museum.

Die Wahlen sind vorbei und auch die Wahlplakate hängen nicht mehr, auf die, wenigstens in Zürich, aber vielleicht auch in Bern, jemand einen Stempel oder Kleber anbrachte, der zum gemeinsamen Verbrennen der Wahlzettel einlud.

Der Slogan dazu lautete: Würden Wahlen etwas ändern, wären sie verboten.

Seit ich diesen Satz gelesen habe, denke ich über ihn nach und muss zugeben, ich bin mir über seine Bedeutung beziehungsweise seine möglichen Bedeutungen noch immer nicht im Klaren. Nicht einmal über die Haltung, die ich zu diesem Satz einnehme oder einnehmen sollte, bin ich mir im Klaren.

Als Demokrat, so nehme ich an, kann man mit dem Satz nicht einverstanden sein. Schon nur aus logischen Gründen. Demokrat zu sein, das impliziert den Glauben an die Demokratie, und wie wäre so ein Glauben möglich, wenn man das Herzstück der Demokratie, die Wahlen, als sinnlos betrachten würde?

Dass in der Schweiz Wahlen tatsächlich weniger bewirken als in anderen Demokratien, weil wir hier noch die Abstimmungen haben, das ist, so nehme ich an, mit dem Satz nicht gemeint, er zielt auf die Demokratie als Ganzes und könnte also auch lauten: Würden Wahlen und Abstimmungen etwas ändern, wären sie verboten.

Natürlich hängt das ganze Problem an der Frage, was man unter „etwas ändern“ versteht. Gab es in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten auch nur eine Wahl oder Abstimmung, die wirklich etwas geändert hat?

Hat zum Beispiel das Nein zum EWR-Beitritt etwas geändert oder nicht?

Was für eine Frage, könnte man sagen, ohne dieses Nein wäre die Schweiz heute Mitglied der EU, und wenn sowas nicht eine Änderung ist.

Tatsächlich war eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer 1992 – der Bundesrat hatte das EU-Beitrittsgesuch schon hinterlegt – gegen den EWR und damit gegen die EU. Trotzdem ist die Schweiz gute zwanzig Jahre später der EU in weiten Teilen beigetreten, die Stichworte dazu: Einführung von EU-Gesetzen und Normen, Integration in den Schengenraum, Bilaterale, darunter insbesondere der freie Personenverkehr.

Die Schweiz als weisser oder je nachdem schwarzer Fleck mitten in einem vereinigten Europa ist nichts als Wunsch- oder Schreckensbild, jedenfalls nichts, was die Tatsachen abbildet.

Das Gleiche gilt für die Masseneinwanderungsinitiative, auch sie wird die Masseneinwanderung nicht stoppen.

Weil die Wirtschaft diese Masseneinwanderung will, könnte man sagen, weil demokratische Entscheide gegen die Interessen der Wirtschaft nicht durchsetzbar sind, nicht zuletzt, weil Abstimmungsbudgets oft den Ausschlag geben.

Was nun eine linke Argumentation wäre.

Aber ist der Satz „Würden Wahlen etwas ändern, wären sie verboten.“ ein linker Satz?

Hätten nicht die SVPler allen Grund, die Wahlkampfplakate mit diesem Slogan zu überpinseln? Ist es nicht das Drama dieser Partei, von dem das ganze Land in Mitleidenschaft gezogen wird, dass sie zwar Wahlen und Abstimmungen gewinnt und trotzdem nichts ändert?

Darf man nicht sogar davon ausgehen, dass die SVP nur deshalb die Wahlen und Abstimmungen gewinnt, weil sie nichts ändert? Und das nicht nur deshalb, weil sie mit 30 Prozent Wähleranteil eine klare Minderheit im Land vertritt, sondern auch aus dem Grund, weil es Prozesse gibt – soll ich sie historische oder sogar welthistorische Prozesse nennen? – die sich mittels Wahlen und Abstimmungen höchstens verzögern oder etwas abbiegen, aber nicht aufhalten lassen?

Um mit etwas aufzuhören, das keine Frage ist: Die Wahlplakate in Zürich wurden nicht von SVPlern sondern von Linken überklebt, das ging aus der Art der Gestaltung und auch dem Ort des gemeinsamen Wahlzettelverbrennens klar hervor (man traf sich hierzu nicht im Albisgüetli).

Natürlich steht hinter dem Slogan bei dieser Aktion der alte Gedanke der Revolution als dem einzigen Mittel, mit dem wirkliche Veränderungen zu erzielen sind.

Dass diejenigen, die auf der ganz anderen Seite des politischen Spektrums von einer ganz anderen Schweiz träumen, dass man also bei der SVP, wie zweifelhaft und mitunter eklig im Einzelfall auch immer, auf Demokratie setzt statt auf Revolution, ist ein tröstlicher Gedanke.

Diese Töne! Heiterefahne! Excusé! Beim Boulespiel auf der Münsterplattform sagt einer sogar: Bin ig ä Löu! Man will es zwar noch immer nicht wahr haben, aber es besteht kein Zweifel: Nach einem langen heissen spanischen Sommer ist man wieder zurück in der Stadt, zurück in Bern. Man lebt wieder in einer Wohnung, mit der Allgegenwärtigkeit der motorisierten Mobilität. Man lebt wieder mit Schlüsseln, mit Socken, mit Heizung und das Hemd, bitte sehr, gehört jetzt wieder in die Hose. Landleben ade!

Weit weg ist mein geliebter Gemüsegarten, über den sich jetzt eine Decke aus Unkraut zieht, während ich hier immer öfter meine Jacke zuknöpfen muss. Auch die jungen Eltern auf der Plattform stecken ihre Hände schon in die Manteltaschen, während ihre Kinder auf dem Schaukelpferd die Welt erobern und man sich nach einer herrlich glänzenden Kastanie bückt. Oh, die Farben des Herbstes sind wunderschön, die Bäume leuchten! Haben Sie das Wunder der Rotbuchen an der Aare schon gesehen? Ich will mich ja auch gar nicht darüber beklagen, dass jetzt wieder alles viel teurer ist, dass jeder Kaffee oder jedes Bier, das ich bestelle, plötzlich dreimal mehr kostet. Nein, kein Vorbehalt, denn ich werde in der Regel auch viel gediegener bedient und erst noch in blitzblanken Lokalen, die so chic und durchgestylt sind, Gäste inklusive, man glaubt sich in einem Film.

Das Problem ist das Gesicht. Wo ist bloss mein Stadtgesicht? Jetzt hat man wieder auszusehen. Natürlich versuche ich auch unterwegs aufgeräumt und guter Laune zu sein. Ich versuche sogar zu lachen oder zu lächeln. Es kommt sogar vor, dass ich ein Lächeln mit Unbekannten teile, was ich immer sehr schön finde. Aber trotzdem: Allzu unbekümmert darf ich offensichtlich doch nicht durch die Gassen gehen. Es gibt auch Menschen, deren Züge erstarren, wenn ich sie anschaue, und schaue ich nach der langen Abwesenheit allzu neugierig in einen Laden, schaut man sofort zurück, als wollte man fragen: Isch öppis nid guet? Nein, nein, will ich dann rufen, alles picobello! Ich bin bloss erst seit kurzem wieder zurück in der Stadt, bin gerade noch dabei, mein Stadtgesicht zu finden, sorry! Auch Ankommen will geübt sein.

Und was hat Robert Capa damit zu tun?

Einerseits haben etliche seiner bekanntesten Bilder sehr viel mit jenem Spanien zu tun, wo ein Teil von mir offensichtlich noch immer verharrt, und andererseits hat er dem Krieg, auch ganz besonders dem Terror der Bombardierungen und der Unmenschlichkeit der erzwungenen Flucht, ein derart klares Gesicht gegeben, dass man sich immer neu fragt, warum sich der ganze Wahnsinn dennoch ständig wiederholt!

Am Stand der Dinge

von Klaus Merz 20. Oktober 2015

Klaus Merz wurde eingeladen, am 15. Oktober die Schweizer Eröffnungsrede an der Frankfurter Buchmesse zu halten. Hier seine grundsätzlichen Gedanken, vor den Wahlen verfasst, nach den Wahlen nicht weniger gültig.


 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser

Ich soll und darf heute als Gast zu Ihnen sprechen, das freut mich natürlich, ich grüsse Sie.

Doch, worum geht es hier eigentlich genau, und wo steckt der Schlüssel zur Sakristei? Denn eine Messe wird ja gehalten, fürs Buch. Nach den Leipziger die Frankfurter Gebete, jährlich – also wende ich mich doch einfach weiter an Sie, die Gläubigen.

Liebe Gemeinde, sage ich und versuche zu leuchten, von innen heraus. Genügt das? Springt der Funke über? Und ist auch genügend Messwein in der Nähe, um den allfälligen Brand zu löschen? – Oder stehen wir hier einfach nur ganz profan ein wenig zusammen am SBVV-Stand, soll meine kleine Eröffnung eher dem Handel dienen, der gängigen Praxis oder ist vielleicht gar eine Stand-Pauke gefragt?

Eine ordentliche „Standpauke“, meine Damen und Herren, sollte ich nämlich meinem Heimatkanton bereits halten, das trug mir neulich eine Schweizer Zeitung auf. Sie tat es in Hinblick auf unsere fünfzigsten eidgenössischen Parlamentswahlen vom kommenden Wochenende. Eine viel klarere Sachlage, denkt man. Und natürlich juckte es mich als ortskundigen Schreiber bei diesem Ansinnen auch sofort in den Fingern. Doch überdachte ich dann in Ruhe das Wort „Pauke“, so kam mir nicht das kräftige Austeilen, sondern zu allererst die „Harmonie“ meiner Kindheit in den Sinn  und ihr Paukist, er hiess Paul. Seine Uniform war swissairblau.

Ich geriet also aus dem Stand ins Schwärmen und schweife auch eben jetzt, Sie hören es, bereits wieder ab, denn, stellen Sie sich vor, wochentags schwebte dieser Paul wie ein Erhabener über den grössten Baustellen unserer Gegend und lenkte den Kran. Er schaute stets weit über seine eigene Nase hinaus, hielt auch seine Zwischenmahlzeiten, will sagen, die Znüni- und Zvieripausen, meist allein im luftigen Kabäuschen ab und pinkelte gekonnt durch den engen Bierflaschenhals, denn das kurzsichtige Lamentieren und Politisieren zwischen den hart werdenden Fundamenten hielt er nur schlecht aus.

Sie merken es, am liebsten würde ich auch jetzt nur von Paul erzählen, der so trefflich die grosse Trommel schlug und es nie an Takt fehlen liess. An Festtagen gehörte er zu unserem festen musikalischen Bodenpersonal. – Und, werte Anwesende, die Sie das Lesen und genaue Hinhören ja gewohnt sind, Sie werden die günstige Brücke sicher sofort erkannt haben, die sich mir an diesem Punkt meiner Abschweifung anbietet, um mich vom musikalischen nun endlich ganz und gar Ihnen, dem literarischen Bodenpersonal zuzuwenden: Autorinnen und Autoren, Verlegerinnen, Verlegern, Buchhändlerinnen und Buchhändlern, den Leserinnen und den Lesern.

Ja, wohin kämen wir ohne das Lesen? – Weder zu geistiger Frisch-luft, noch zu wirklich vertieften Einsichten oder gar Empathie. – Und, fast vergässe man es zu erwähnen, stünden, wie bereits angetönt, unsere Parlamentswahlen nicht unmittelbar vor der Tür, wir brächten es schon gar nicht zu einer Demokratie, die ihren Namen tatsächlich noch verdient.

Das aber, verehrte Anwesende, haben auch die „Populisten aller Länder“ längst begriffen und operieren, der Einfachheit halber, schon gar nicht mehr mit allen Buchstaben unseres Alphabets, nein, es genügen ihnen meist schon zwei, drei leicht fassliche Schlag-Zeilen oder lieber noch ein paar scharf konturierte Abziehbilder, von schwarzen und weissen Schafen etwa, um ihr eigenes Weltbild zu skizzieren und uns Analphabeten, für die sie uns – insgeheim und immer zuversichtlicher – halten, klar und deutlich vor Augen zu führen, was Sache ist und was ihnen, unseren fürsorglichen Heilsbringern und Abschottern der Nationen, am Herzen liegt. Und sie nennen die Bevölkerung ihrer Heimatländer auch wieder kurz und bedenkenlos Volk.

Nur sind Lesende, so hoffen wir doch, solch sprachlichen und bildnerischen Kurzschlüssen seit je her nicht sehr zugänglich, da ihnen ja gerade in Wort & Bild das gesamte Reservoir menschlichen Denkens, Nach-Sinnens und Erinnerns zur Verfügung steht, um einen Erkenntnis- und Wissensdurst zu löschen, der sich (selbst vor anstehenden Abstimmungen und Wahlen) auch mit noch so viel Freibier nicht einfach stillen und aus den Ohren spülen lässt.

Diese widerborstige Leserschaft aber gilt es darum ganz besonders im Auge zu behalten, das haben die potenten Potentaten samt ihrer folgsamen Gefolgschaft querweltein längst begriffen und reissen sich denn auch, oft handstreichartig, einst liberale Medien kurzerhand unter ihre eigenen Nägel: Um sich das freie Wort, das sie doch selber so gern beschwören – kraft ihrer prall gefüllten Geldbeutel – immer enger auf ihren eigenen Leib zuschneidern zu lassen. – Nein, kein Werbefeldzug ist ihnen zu teuer, kein Weltformat zu breit und keine Diffamierung Andersdenkender grob genug, um im Krieg, ein Wort, das sie fast so sehr lieben wie das Wort Volk, gegen die Barbaren des Guten & Netten – und wider bedächtigere Lesarten unserer immer komplexer werdenden Wirklichkeit – den Sieg davonzutragen.

Doch, meinen Damen und Herren, wohin bin ich nur, verzeihen Sie, hier aus diesem Stand heraus, bloss geraten? Liess ich mich hinreissen, erwischte mich Paul mit seinem Kranhaken am Hosenboden und hob mich für eine Weile in die Höhe, von wo aus ich kurz meinte, die Übersicht zu gewinnen über die grosse Baustelle rund um uns, die wir Alltag nennen? Ein Alltag, der doch, unserer Freiheit nicht unähnlich, von Tag zu Tag, wir wissen es, wiederum von neuem zu buchstabieren, zu lesen und zu bauen ist. Denn, keine Geiss schleckt es weg, „Alfabetizacion ist und bleibt Liberation“, dieser kluge Leitgedanke von Paolo Freire hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren, im Gegenteil, ja, auch in unseren hehren Landen nicht.

Geschätzte Damen und Herren, halten Sie also bitte Ihre lesbaren Güter weiterhin für uns bereit. Wir brauchen sie nämlich, dringend, um unsere menschliche Gemeinschaft dank gründlicher Einsichten und Gedanken tatsächlich weiter voran zu bringen. Ich danke Ihnen dafür.

Klaus Merz zum Siebzigsten

von Guy Krneta 17. Oktober 2015

Einmal in Aarau begegnete ich ihm auf der Igelweid. Zwei Igel am Samstag beim Einkaufen. Wie es ihm gehe, fragte ich. Es gehe ihm gut, antwortete er. Wie es mir gehe. Mir gehe es auch gut, sagte ich. Dann geht es uns beiden also gut, hielt Klaus fest. Daraufhin verabschiedeten wir uns.

Viele Gespräche, die ich mit Klaus Merz geführt habe, waren kurz. Auch seine E-Mails beschränken sich oft auf einen oder zwei Sätze. Klaus ist nicht spröde oder verschwiegen, eher gewitzt und präzis. Seine Empathie braucht nicht viele Worte. Die aber haben es in sich und hallen nach.

Dass es Menschen gut geht, ist nicht selbstverständlich. Und dass es gerade zwei Menschen gut geht, Schriftstellern dazu, die sich begegnen, ist unwahrscheinlich. Wir hätten unser Gespräch fortführen können, wir waren beide nicht in Eile. Doch das Entscheidende, das uns verband, war ausgesprochen. Und dahinter der Schreck über die ungeheuerliche Ausnahmesituation, in der wir uns gerade befanden.

Es ist der Schreck, der auch in vielen Texten von Klaus Merz lauert. Da verkürzt einer menschliches Schicksal und Lebensläufe auf ihre lyrische Essenz. Und ich ertappe mich beim Erschüttertsein über das Nichtselbstverständliche, das im scheinbar Selbstverständlichen liegt. Verschlucke mich an den Widerhaken seiner einfach verschlungenen Sätze.

Als ich vor zwanzig Jahren nach Aarau ging, kannte ich Klaus Merz als Dramatiker. Sein Stück „Die Schonung“ hatten wir einige Jahre davor beim “Auawirleben”-Festival in Bern gezeigt, in der Inszenierung von Jean Grädel: Die karge Sprachpartitur von drei Ringern im Sägemehl, im Gewand eines Volksstücks. Der Text hatte mich beeindruckt und beschäftigt, gerade weil ich ihn nicht einzuordnen vermochte.

Vermutlich sind wir uns dann bei einer Première im Theater Tuchlaube begegnet. Mit welch kollegialem Interesse Klaus und Selma Merz unsere Tuchlauben-Arbeit über die Jahre wahrnahmen, imponierte mir. Es gibt wenige Kollegen, die in der Lage sind, die Tätigkeiten der Nächsten und Nachrückenden mit Aufmerksamkeit und Offenheit zu würdigen. Auch politisch ist mir Klaus Merz in den letzten Jahren einer der liebsten und verlässlichsten geworden.

Und wenn ich zu Hause aus dem Fenster schaute und Selma und Klaus Merz durch die Pelzgasse schlenderten, erschien mir Aarau als Metropole.

 

Dieser Text zu Klaus Merz’ Siebzigstem am 3. Oktober erschien zuerst – zusammen mit einem Würdigungstext von Michel Mettler – in JULI Kulturmagazin Aargau, Nr. 58, Oktober 2015

Neue Granaten

von Gerhard Meister 9. Oktober 2015

Falls es einem Schreiber von Geschichten einfallen sollte, seiner Hauptfigur schon im ersten Satz den Arm abfallen und aus dem Stumpf heraus das Blut in einer Fontäne spritzen zu lassen…

…wie man sie von Staumauern kennt, wo die Schleusen geöffnet sind, dann ist das natürlich schon eine Einschränkung, was den weiteren Handlungsverlauf angeht.

Aber auch vom Genre hat man sich mit sowas die meisten Wege verbaut. Eine romantische Komödie ist eigentlich nicht mehr möglich, eine feinfühlige Charakterstudie kann man auch vergessen, ausser die Hauptfigur ist historisch und landet im Schützengraben, wo ihr irgend ein grossformatiger Granatensplitter den Arm abtrennt, was den Blutfluss auslöst, mit dem die Geschichte als einem Vorgriff auf das blutige Ende einsetzte.

Dass es Splitter in Form tellergrosser Scheiben mit rasiermesserscharfem Rand gibt, die ganze Arme sauber abtrennen – und je nach Anflugwinkel, wie man annehmen muss, auch entsprechend andere Körperteile, weiss ich aus Jean Echonoz’ knapp hundertseitigem Weltkriegsroman mit dem Titel 14. Vor der Lektüre dieses Romans konnte ich mir als buchstabengläubiger Mensch Splitter immer nur als Splitter vorstellen, also als irgendwie längliche Gebilde, die stechen, wenn man sie auf die Haut bekommt.

Die Szene mit dem Scheibensplitter ist ein absurder Höhepunkt im schmalen Weltkriegsroman (was natürlich seinerseits eine Absurdität darstellt, den ganzen Weltkrieg auf 100 Seiten schildern, aber Echonoz gelingt das!), in der dem Helden, immer noch unter dem Schock, den einen Arm verloren zu haben, die Gratulationen und auch den Neid seiner Leidensgenossen im Schützengraben entgegenfliegen. Ein sauber abgetrennter Arm ist das Beste, was einem hier passieren kann. Man ist am Leben und fast noch ganz und darf doch nach Hause und muss nie mehr an diesen fürchterlichen Ort zurückkehren.

Nun könnte natürlich ein Entwickler von Kriegsgerät darauf kommen, Granaten, die Körperteile abtrennen, seien gar nicht so schlimm und sich überlegen, ob zur Erhöhung des Schreckens auch das Umgekehrte technisch machbar wäre. Also eine Granate, deren Splitter (oder was immer sich bei ihrer Detonation verbreitet) Körperteile nicht abtrennt, sondern verbindet. Ein Superbioleim, der die von der Explosion durcheinandergewirbelten Soldaten auf eine Weise zusammenklebt, die nur durch aufwändige Operationen wieder rückgängig zu machen wäre.

Ganze Batallione, die siamesisch zusammenwachsen zu seltsamen Kettengebilden aus Menschenkörpern. Was wie eine verrückte Turnübung aussähe, wie eine Dada-Tanz-Performance als Protest gegen den Wahnsinn des Kriegs, wäre der Wahnsinn des Krieges selber.

Zu gerne würde ich weiter aus meinem Gemüsegarten berichten, zum Beispiel von den Ohrengrüblern, mit welchen ich meinen Salat teilen muss. Oder von dem Fuchs der mir hinter meinem Rücken beim Kartoffelgraben zugeschaut haben soll.

Oder von der Angst vor dem Hagel, die ich während des letzten Gewitters ausgestanden habe. Wer einen Garten hat, schaut anders zum Himmel.

Weil sich hier der Himmel aber auch über Katalonien wölbt und die Sonne morgens in der katalanischen Provinz Tarragona aufgeht, werfe ich einen Blick über die Gartenmauer.

Nach dem vergangenen Wahlsonntag ist die Sonne zwar auch gestern pünktlich wir angekündigt um 07.45 aufgegangen, aber weil es die Katalanen und Katalaninnen verpasst haben, klare Verhältnisse zu schaffen, scheint sie jetzt auf eine tief gespaltene Region.

Das Geschirr ist zerschlagen, der Karren festgefahren, aber der Mist ist noch lange nicht geführt. Politisch sind die Aussichten für die nächsten Monate, wenn nicht Jahre, entsprechend trüb.

Als auf Konsens geschulter Mitteleuropäer rieb man sich zuweilen die Augen, traute den Ohren nicht. Ohne die geringste Weitsicht, dilettantisch und naiv ist man viel zu schnell vorgeprescht. Als könnte man in einer halben Legislatur mit einer äusserst oberflächlichen Debatte ein Land, das einmal ein Weltmacht war, aus den Angeln heben.

Und die Medien!

Anstatt am Boden zu bleiben, anstatt die Ungereimtheiten aufzugreifen, war es, als beschränkten sie sich auf das genüssliche Ausbreiten der peinlichen Fehltritte der Protagonisten auf beiden Seiten. Dass der ganze Spuk verfassungswidrig in einer Art rechtsfreiem Raum stattfindet, ist noch am Tag danach kein Thema, was einem eigentlich schon ein bisschen Angst einflösst. Die Parteien für die Unabhängigkeit haben zwar nach Sitzen die Wahlen gewonnen, das Plebiszit, zu welchem sie diese Wahlen hochstilisierten, haben sie allerdings knapp verloren, was sie jedoch nicht davon abhält, sich als klare Sieger zu sehen.

Unter uns gesagt – und unter uns sind wir ja hier – hat man den Eindruck, es handle sich alles um ein grosses Missverständnis. Sicher ist, dass es vor allem um Emotionen geht, und dass ein gewisser Überheblichkeitskomplex der relativ tüchtigen Katalanen eine Rolle spielt.

Leicht hat man den Eindruck dass sich viele Katalanen und Katalaninnen den restlichen Spaniern überlegen fühlen. Dass dieses Selbstverständnis von dem Welterfolg des FC Barcelona mitbestimmt wird, ist sicher nicht auszuschliessen, denn den vorherrschenden Fahnenkult sieht man sonst wirklich höchstens noch im Zusammenhang mit Fussball. Bayern-Trainer Guardiola wurde übrigens nicht ins Parlament gewählt, was mit Listenplatz 85 auch schwierig gewesen wäre.

Und was hat das alles mit Salvador Dali zu tun?

Dali war bekanntlich Katalane und ein ganz schräger Vogel, der im hohen Alter noch vor der Tür des sterbenden Diktators Franco scharrte. Mit seinem egomanischen Hang zur Selbstglorifizierung hätte er bestimmt in diesen Wahlkampf eingegriffen. Man mag seine Auffassung von Kunst mögen oder nicht, handwerklich war er aber ein ganz grosser Meister. Auch wusste er in seinem Haus in Port Lligat nahe an der Grenze zu Frankreich einen Spiegel genau so aufzustellen, dass die ersten Sonnenstrahlen, die morgens auf die Iberische Halbinsel fielen, ihm ganz allein gehörten.

Aufstand für Anstand

von Guy Krneta 23. September 2015

Aaschtändig isch grüessech säge.

Aaschtändig isch d Hang gä.

Aaschtändig isch, öperem dr Name z säge.

Aaschtändig isch, enang i d Ouge z luege.

Aaschtändig isch z frage, wi’s öperem geit.

Aaschtändig isch z frage, öb me guet greist syg.

Aaschtändig isch z frage, öb me scho gässe heig.

Aaschtändig isch z frage, öb me nid wöu ynecho.

Aaschtändig isch z frage, öb me ke Gepäck drby heig.

Aaschtändig isch z frage, öb me nid wöu absitze.

Aaschtändig isch z frage, öb me nid glych chly Hunger heig.

Aaschtändig isch z frage, öb men e Pullover wöu oder e Jagge.

Aaschtändig isch z frage, öb men öper hie kenn.

Aaschtändig isch z frage, öb me Ching heig.

Aaschtändig isch z frage, öb men öpis heig zum Schlafe.

Aaschtändig isch z frage, wi’s de Ching göng.

Aaschtändig isch z frage, öb men überhoupt vrschtöng, was me da aus gfragt wärd.

Aaschtändig isch z säge, im schlimmschte Fau hätt me de non e Techi.

Aaschtändig isch z säge, im schlimmschte Fau hätt me de non e Matratze.

Aaschtändig isch z säge, im schlimmschte Fau hätt me de non e Schlafsack, wo men im schlimmschte Fau o chönnt mitgä.

Aaschtändig isch z säge, im schlimmschte Fau chönnt men eim o aalüte.

Aaschtändig isch z säge, es syg schön, dass me sech überhoupt lehr kenne. Das syg hüt ja nümm säubvrschtändlech.

Aaschtändig isch z säge, d Eutere vo eim syge nämlech o nid vo hie.

Aaschtändig isch z säge, d Groseutere vo eim syge nämlech o nid vo hie.

Aaschtändig isch z säge, d Urgroseutere syge synerzyt usgwanderet.

Aaschtändig isch z säge, me chönn eigentlech nüt drfür, wo dass men uf d Wäut cho syg.

Aaschtändig isch z säge, me häuf gärn, we me chönn.

Aaschtändig isch z säge, me chönn nume bedingt häufe, we d Politik nid mitmach.

Aaschtändig isch z säge, d Politik chönn nume bedingt mitmache, we d Schtimmbevöukerig nid mitmach.

Aaschtändig isch z säge, dass men e Teil syg vo dere Schtimmbevöukerig, wo’s ir Hang heig, wi aaschtändig hie mit öperem umgange wärd.

Aaschtändig isch z vrlange, dass hie aaschtändig mit Mönschen umgange wird.

Aaschtändig isch z vrlange, dass me Lüt pärsönlech darf häufe.

Aaschtändig isch z vrlange, dass Lüt hie d Müglechkeit überchöme sich säuber z häufe.

Aaschtändig isch z vrlange, dass Lüt vo Hiufswärch betröit wärden u nid vo profitorientierte Service- u Wachgseuschafte.

Aaschtändig isch z vrlange, dass nid ds Gäut i di profitorientierte Service- u Wachgseuschafte fliesst, sondern de Flüchtlinge hiuft, sich säuber z häufe.

Aaschtändig isch z vrlange, dass es legali Fluchtroute git hie häre.

Aaschtändig isch z vrlange, dass niemer meh zrügg gschafft wird uf Ungarn.

Aaschtändig isch z vrlange, dass niemer meh zrügg gschafft wird uf Italie.

Aaschtändig isch z vrlange, dass niemer meh zrügg gschafft wird uf Griecheland.

Aaschtändig isch z vrlange, dass aui freigla wärde, wo i üsne Usschaffisgfängnis hocke, wüu si söue zrügggschafft wärden uf Ungarn, Italien u Griecheland.

Aaschtändig isch z vrlange, dass dä jung Maa us Afghanischtan, wo i däm Momänt z Basu im Usschaffigsgfängnis sitzt, wüu’r am 29. Septämber söu uf Ungarn usgschafft wärde, sofort freigla wird.

Aaschtändig isch e Flüchtlingspolitik, wo für die da isch, wo üsi Hiuf hüt  bruuche.

Aaschtändig isch es, Mönscherächt u Demokratie u Glychberächtigung nid mit dr Armee z vrteidige, sondern mit offnige Türen u Aaschtang.


Geschrieben für den „Aufstand für Anstand“ am 22. September 2015 in Aarau.

En famille

von Antoine Jaccoud 17. September 2015

L’autre jour je suis allé dans la famille de mon chien. C’était la première fois qu’il m’invitaient. Je l’ai pris pour une marque de confiance.

Tous ne le font pas.

Les Brunner par exemple, qui ont un setter de 12 ans, ça ne leur est jamais arrivé.

Les Porchet non plus, et pourtant Dieu sait s’ils se sont mis en quatre pour élever leur petite chienne dalmatien.

Mon chien m’a tout de suite présenté sa maman, une petite golden retriever, vraiment très gentille. Elle m’a dit que son fiston lui avait beaucoup parlé de moi. “En bien, j’espère” j’ai lancé, et elle a aboyé joyeusement dans la cuisine.

Et puis le papa nous a rejoint. C’est un bouvier appenzellois – j’aurais pas pensé.

En regardant mon chien, je lui voyais plutôt un père border-collie, ou alors bruno du Jura – bref, le papa est un bouvier qui a travaillé toute sa vie dans une ferme et qui parle surtout appenzellois. Du coup, on n’a pas beaucoup discuté mais à voir comme il bougeait sa queue, j’ai compris qu’il m’avait à la bonne, et ça m’a fait plaisir.

On a servi l’apéro dehors, devant la niche. On a bu l’eau des flaques, et puis un peu celle de l’arrosoir, c’était sympa et rafraichissant. Ensuite on est passé à table.

Madame avait mis ses plus belles écuelles par terre, c’était magnifique.

On a mangé des croquettes au thon, au poulet et même au kangourou, et puis encore un truc qu’ils avaient trouvé par terre, qui sentait fort, mais qui s’est révélé succulent.

On a promis de se revoir. On pourrait bien aller faire pipi ensemble un de ces jours. Voire plus si entente.

(Pour Alma)

Acht Minuten

von Gerhard Meister 9. September 2015

Ich hätte am Kasten, in dem sich die Gratisblätter stapeln, vorbeigehen können, ohne hinein zu greifen und mir eines dieser Blätter zu nehmen.

Ich hätte mich ohne Gratisblatt in den Bus setzen können und das Gratisblatt, das dort schon auf dem Nebensitz lag, liegen lassen oder weglegen, damit es nicht vom Nichtstun ablenkt.

Ich hätte dann, hätte ich nicht das Gratisblatt Seite um Seite durchgeblättert und darin gelesen, während der Fahrt hinaus geschaut auf die Strasse, um dort die gleichen unauffälligen Passanten zu sehen wie jeden Morgen.

Gedacht hätte ich, hätte nicht das Gratisblatt meine Gedanken in Anspruch genommen, wenig, dass der Bus mein Gehirn schüttelt, hätte mir schon genügt.

Für ganze Minuten, es ist gut vorstellbar, hätte mich dieses Schütteln und Rütteln im Bus davon getragen an einen Ort, wo ich mich selber vergesse und ebenso alles um mich her.

Ganze Minuten wären nicht vergangen, nein, die Zeit wäre einfach über diese Minuten hinweg gesprungen, um hinter ihnen weiter zu machen, als hätte es sie nicht gegeben.

Ich wäre aus dem Bus ausgestiegen, ohne das Gratisblatt gelesen zu haben.

Statt die im Gratisblatt gesammelten Fetzen Welt auf mich einstürzen zu lassen, hätte ich mich in meine Welt zurückfallen lassen.

Ich hätte mich an den Computer gesetzt, herauskommend aus meiner Welt und zwischen mir und den Tasten des Computers wäre nicht das Wissen gestanden, dass in Deutschland ein Onkel seinen Neffen im Hotel getötet hat und die Juso wegen Schnäbi-Plakaten angezeigt wurden und eine alte Dame an einer Solidaritätsdemo für Flüchtlinge von der Polizei mit Pfefferspray besprüht wurde und ein junger Mann im Kanton Uri nachts um drei beim Gang von der Jagdhütte aufs WC eine steile Felswand hinunter zutode gestürzt ist und sich im Ohr eines neunjährigen Chinesen eine Kakerlake eingenistet und 24 Eier abgelegt hat, aus der 24 kleine Kakerlaken schlüpften, die ihm ein höllisches Kitzeln bereiteten und in Chile ein vernachlässigtes Kind nur deshalb überlebt hat, weil es von einer trächtigen Hündin gesäugt wurde und rund 30 Naturheilpraktiker und Homöopathen im niederländischen Handeloh mit dem Psychodelikum 2C-E, auch bekannt als Partydroge Aquarust experimentierten, worauf es ihnen so anders wurde, dass sie von mehr als 150 Sanitäter ins Spital gebracht werden mussten und ein Film mit dem Titel Kartoffelsalat von der internationalen Filmdatenbank Imdb.com als schlechtester Film aller Zeiten bewertet wurde.

Ich hätte am Kasten mit dem Gratisblattstapel vorbei gehen und meine acht Minuten im Bus anders verbringen können, als ich sie unwiderruflich verbracht habe und Sie, liebe Leserin, lieber Leser hätten einen anderen Text gelesen, als Sie nun ebenso unwiderruflich gelesen haben.

Weiter geht es mit Joan Miró

von Beat Sterchi 2. September 2015

Die Zwiebel aus meinem Gemüsegarten hätte nur Sonne, frischen Wind, den Schatten der Papeln und das Wasser aus dem Kanal eines altehrwürdigen Bewässerungssystems gesehen, berichtete ich in meinem letzten Beitrag aus Spanien. Was ich vergessen habe, ist der Dünger. Und dieser Dünger war Mist! Schafmist!

Mir ist natürlich klar, dass man keinen Mist schreiben sollte, wenn man über Mist schreibt, aber dieser Schafmist stammt von einem ziemlich abgelegenen Hof in wilder Umgebung, der mit einem unserer gepflegten Emmentaler Bauernhöfe ungefähr so viel gemeinsam hat wie ein rostiger Döschwo aus den Sechzigern mit einem neuen Range-Rover. Das ganze Gehöft ist eine Mischung aus Landmaschinen-Schrottplatz und improvisierten Tiergehegen für Rinder, Schweine und Schafe. Aber der Bauer, Antonio heisst er mit Vornamen, ist die Freundlichkeit selbst. Während er mithalf, den trockenen Schafmist in Säcke abzufüllen, rauchte er einen Stumpen von der Grösse eines halben Besenstiels und hörte eigentlich nie auf zu lachen, obschon er ausführlich beklagte, dass sein wirtschaftliches Überleben alles andere als ein Zuckerschlecken sei.

Weil er in der Schule immer der Esel war, sagte er, habe man ihn schon früh zum Schafhirten gemacht. Und jetzt habe er den Dreck! Und anstatt ihm zu helfen, würde ihm der Staat das Leben nur noch schwerer machen. Alles sei geschützt, ausser er selber! Man schütze den Wolf, den Fuchs, den Bären, die steinbockartigen Bergziegen und natürlich auch noch die Geier! Dort drüben an diesem Hang, wo er seine Mutterkühe halte, dort hätten ihm diese Geier letztes Jahr 4 Kühe umgebracht. Natürlich wandte ich ein, man sage doch, dass die Geier nur Aas fressen würden. Ja, das sagen die Bücher, sagte er, denn wenn eine Kuh kalbt und am Boden ist, dann schlagen die Geier sehr wohl zu! Und wenn ich der Kuh die Ohrmarke abnehmen muss, gehen sie nicht weg!

Wenn ich da umfalle, töten sie mich auch. Kein Wunder, wenn plötzlich 300 Vögel da sind! Auch da lacht er und als er noch darüber lachte, dass man 20 von diesen Geiern aus der Gegend hier im fernen Bulgarien ansiedelte, von denen etliche aber längst zurückgekommen seien, staunte ich, dass mich die paar Säcke Mist für meinen kleinen Gemüsegarten so weit in die Welt hinausführten.

Und was hat Joan Miró damit zu tun?

Er säe Vögel in den Garten des Windes, schreibt Octavio Paz in einer wunderschönen Fabel über Mirós Kunst. Diese berühmten Konstellationen wie Der Garten sind vielleicht auch ziemlich abstrakt, gewachsen sind sie aber auf dem gleichen Mist wie meine Zwiebeln. Miró hatte nicht nur eine Beziehung zu dieser Region, er hat in seinen frühen Werken, von welchen das wohl berühmteste La Masia lange im Besitz von Hemingway war, so ziemlich alles Elementare, das einem in einem Garten begegnen kann, gegenständlich dargestellt, bevor er daraus seine  unverwechselbar bunte, aber keinesfalls abgehobene Bildersprache entwickelte. Auch in Der Garten ist alles da: Himmel und Erde, Sterne, Meer und Sonne, Pflanzen, Bäume, Tiere vom Regenwurm bis zum Specht und mittendrin natürlich das grosse Auge, das alles zusammenhält.

Low cost

von Antoine Jaccoud 24. August 2015

Bien sûr qu’on a eu des vacances comme tout le monde ma femme et moi. On est même allés en Grèce cette année, parce qu’on s’est dit que ce serait moins cher avec la crise et tous les emmerdements qu’ils ont eus ces derniers temps, et puis qu’ils seraient aussi contents de profiter un peu de notre franc fort pour essayer de se remplumer un peu.

On a donc fait trois semaines sur une île – quelque chose en -os, bien sûr, mais le nom exact, ça, il faudra que je demande à ma femme parce que moi les noms…- en tout cas c’était vraiment tip-top – pas trop de méduses, des gens souriants, pas tous, bien sûr, mais la majorité, et puis un petit établissement tout à fait correct d’ailleurs tenu par un couple d’Allemands, il n’y a pas de hasard.

Mais voilà, tout ça ne nous a pas empêché d’avoir envie de repartir un petit coup cet automne deux ou trois jours- vous allez dire «ils ont la bougeotte ces deux, c’est pas possible», mais pas loin, une grande ville d’Europe par exemple, histoire de flâner, de faire un peu de shopping en prévision des fêtes de fin d’année et puis de bien manger parce que c’est important pour nous de bien manger, pas seulement pour la santé, non, elle est plutôt bonne, on touche du bois ma femme et moi, mais simplement pour le plaisir de bien manger.

Alors on a regardé un peu sur internet ce qu’ils proposaient. On a d’abord trouvé un Genève-Copenhague pour 47 francs 50, mais bon le Danemark en octobre, et puis un Bâle-Paris pour 33 francs 20 avec les taxes, mais moi j’aime pas trop Paris, c’est une ville sale, la dernière fois j’ai dû jeter une paire de mocassins tellement j’avais marché dans les crottes de chien, et puis enfin, pour 24 francs 90 par tête de pipe, un ticket pour Madrid. Ma femme était prête à se lancer, j’avais déjà sorti la Visa, Madrid c’est beau il faut le reconnaître – et puis partout où il y a eu des rois ça nous laisse quand même de sacrés monuments – mais je me suis dit qu’on pouvait peut-être trouver encore mieux, et pourquoi pas: un peu moins cher. Je ne me trompais pas. Encore trois clicks de souris et j’ai déniché un billet pour Londres pour 12 francs 50. Bon, il faudra se lever tôt vu que l’avion décolle à 4 heures 15 du matin – on roupillera un moment pendant le vol, c’est pas plus grave que ça – mais ça fait rien, à ce prix là c’est donné surtout que Londres pour les magasins c’est quand même le top, «the place to be» comme on dit maintenant.

Là dessus on a éteint la tablette ma femme et moi et on est allé nous coucher.  Un peu avant de nous endormir on a pensé à tous ces réfugiés qui payent 5 ou 10 mille balles pour traverser la Méditerranée. Est-ce qu’ils se font pas un peu avoir quand même? On s’est posé la question, ma femme et moi.

Mais peut-être que leurs familles ont les moyens après tout.

Der eigene spanische Garten, den ich in meinem letzten Beitrag als mein kleines Paradies bezeichnet habe, ist übrigens, was den Ertrag betrifft, ein ziemlich bescheidenes Unterfangen.

Am Jahreskonsum gemessen, muss ich den Ertrag sogar als symbolisch bezeichnen.

Aber die Zwiebel in meiner Hand, die ich selbst in die Erde gesteckt und mit verhältnislosem Aufwand gehegt und gepflegt habe, diese Zwiebel ruft nicht plötzlich Halt, bevor ich sie schäle. Diese Zwiebel hat keinen Grund mich anzuklagen. Sie kennt sie nicht, die leidvollen Geschichten der langen Lastwagenfahrten, der Zollkontrollen, der abrupten Temperaturwechsel, des Ausharrens in haushohen Kistentürmen in schlechter Luft.

Wenigstens diese eine Zwiebel weiss nichts von unterbezahlten Hubstaplerfahrern, hat keine Lagerhausangestellten fluchen gehört, wurde auch nicht mit Plastikhandschuhen hart angefasst.

Diese Zwiebel hat keine Ahnung von Einkaufskörben, Abwägeritualen, Warteschlangen und Kassenzetteln und nie wird sie in einem Migrossack verschwinden. In ihrem Leben hat sie nur Sonne, frischen Wind, den Schatten der Papeln und das Wasser aus dem Kanal eines altehrwürdigen Bewässerungssystems gesehen.

Dieses System heisst auf Spanisch asequia, geht wie sein Name auf maurische Zeiten zurück und irgendwie hatte ich an ihm schon immer den Narren gefressen.

Wenn das Wasser aus dem Kanal runter in die Furchen zwischen mein Gemüse sprudelt und ich seinen Lauf mit der Hacke kontrollieren muss, komme ich mir einerseits immer vor wie als Bub beim Choslen oder beim Stauen an der Sense, gleichzeitig fühle ich mich den Elementen und den zeitlosen Wahrheiten verbunden wie sonst nie.

Auch erinnere ich mich dann gerne an das Wassergericht in Valencia. Dort treffen sich donnerstags im Haupteingang der Kathedrale seit Jahrhunderten Laienrichter, um über Streitigkeiten beim Bewässern aus der asequia zu beraten. Man sagt, es sei das Gericht, das am längsten ununterbrochen tagt.

Besonders beeindruckt hat mich immer, dass der Vorsitzende die Kläger mit dem Fuss zum Sprechen auffordert. Als wollte er sich die Hände nicht mit Zeigen schmutzig machen.

Und was hat Joaquin Sorolla damit zu tun?

Eigentlich nur, dass er wie kein anderer Maler dieses ganz besondere Licht zu fassen vermochte, unter welchem in der Region von Valencia, ob in den Bergen oder am Meer, so ziemlich alles Menschliche geschieht. Und dass er deshalb wohl zu den bewundernswertesten Malern der Moderne gehört.