Seit einigen Tagen lese ich Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus von Swetlana Alexijewitsch. Die Erschütterung ist gross und die öffentlich diskutierte Frage, ob diese Autorin den Nobelpreis für Literatur 2015 verdient habe, hat für mich längst jegliche Bedeutung verloren.
Das Buch verfolgt mich, ich sehe plötzlich die ganze Welt durch einen neuen Filter. Es ist, als ob bei allem Interesse für die äusserliche Geschichte Russlands und der Sowjetunion, mein eigentliches Gefühl für diese Menschen dort im Schnee des Ostens bis anhin bei meinem geliebten Tschechow stecken geblieben wäre. Sicher, ich hatte auch anderes gelesen von Gogol bis Tolstoi, aber vor Jahren sah ich einmal eine Inszenierung des Kirschgartens von Peter Stein in Berlin und war danach fest überzeugt zu wissen, was erstens wirklich grosses Theater ist und zweitens was die Russische Seele ausmacht. Und jetzt Alexijewitsch!
Vom schönen Traum des langsamen zivilisierten Untergangs zur brutalen, ja bestialischen Wirklichkeit der Gegenwart. Ich bin so erfüllt von Bildern und Stimmen, dass ich den Eindruck habe, ich könnte hier und jetzt Vorträge über Russland halten. Nicht häb chläb!
Dank Swetlana Alexijewitsch ist mir, als könnte ich stundenlang weitererzählen von den Menschen, die dieses Land aufbauten und ausmachen und von dem Preis, den sie für seine vergangene Grösse bezahlt haben. Zum grossen Teil willig und in Überzeugung bezahlt haben! Dies vielleicht die tragendste Erkenntnis.
Längst muss ich aufpassen, dass ich nicht allen dauernd mit meinem «Russland» komme, habe mir aber eine Flasche Wodka gekauft, habe mir Dokus und unzählige Bilder angeschaut, wieder Schostakowitsch gehört und bilde mir ein, besser zu verstehen, warum aus dem Kreml nur das kommt, was kommt. Aber ich kann keine Bäckerei mehr betreten, ohne in Anbetracht des herrlichen, knusperigen, an der Wand aufgestapelten Brotes, das mir mit einem Handschuh und begleitet von einem freundlichen Lächeln gereicht wird, wieder vor mir zu sehen, was ich alles gelesen habe über die Bedeutung von Brot, von Mehl, ja von Krümel im Leben unzähliger Menschen, die es meistens entbehrten und entsprechend verehrten.
Und was hat Kasimir Malewitsch damit zu tun?
Kürzlich war sein berühmtes Schwarzes Quadrat in Basel zu sehen. Zusammen mit dem schwarzen Kreis und dem schwarzen Kreuz, wie es sich gehört. Man kann darin so etwas wie die Ikonen der endgültigen Formen sehen, vielleicht ist das schwarze Quadrat aber auch eine Ikone der Verweigerung. Vielleicht ist es die Summe aller möglichen Bilder im Kopf. Alle schön übereinander gelegt. Versucht man nämlich, sich dies vorzustellen, wird einem unausweichlich schwarz vor den Augen.