Bern ist überall

In der Präambel der Bundesverfassung steht ein bemerkenswerter Satz: «Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Ich war vor einiger Zeit von einer Bekannten darauf hingewiesen worden. Und ich wunderte mich.

Ich wunderte mich, dass ein solcher Satz, der einen komplexen Gedanken in grosser Schlichtheit auf den Punkt bringt, unbemerkt in der Verfassung stehen kann. Ein Satz, der sich anhört wie ein geflügeltes Wort, musste, meinte ich, eine längere Geschichte haben.

Ich mailte den Historiker Georg Kreis an, der mir postwendend antwortete, der Satz sei erst bei der letzten Revision, also 1999 in die Verfassung gekommen. Das enttäuschte mich. Liest man die heute gültige Präambel durch, hebt sich der Satz deutlich von den übrigen Allgemeinplätzen ab. Ein zweiter Satz allenfalls kann ihm das Wasser reichen: «Dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht.» Und schliesslich handelt es sich sogar um eine Doppelung, denn weiter oben ist bereits von «Frieden in Solidarität» die Rede.

In jüngster Zeit bin ich dem Satz nun öfter begegnet. Er taucht in Reden und Kolumnen auf, meist im Zusammenhang mit einer Asylpolitik, die immer mehr meint, den Starken vor dem Schwachen schützen zu müssen. Demgegenüber suchen die Gegner einer pervertierten Asylpolitik nach solidarischen Übereinkünften unserer Gesellschaft – und werden fündig in der Bundesverfassung. Auch der Schriftsteller Adolf Muschg erwähnt den Satz in einem Interview mit Newsnetz Mitte August und merkt an, der Satz stamme übrigens von ihm.

Wie das, fragte ich mich. Wo hat Muschg den Satz niedergeschrieben? In welchem Zusammenhang? Und wie kommt der Satz eines Schriftstellers in die Bundesverfassung?

Ich mailte wieder Georg Kreis an, der mir mitteilte, Muschg habe seines Wissens in der Kommission gesessen, welche die Präambel redigierte. Ausserdem verwies er mich an seinen Kollegen Luzius Wildhaber an der Uni Basel, von dem ich erfuhr, die Mitglieder der Expertenkommission hätten darüber abgestimmt, was in die Präambel hineingehöre. Muschg habe es dann formuliert.

Dem widersprach gewissermassen ein Beitrag des 2005 verstorbenen Basler Historikers, Werbers und Autors Markus Kutter auf seiner privaten Website. Das 100-Jahr-Jubiläum von 1974 habe Bundesrat Kurt Furgler mit einer frisch revidierten Verfassung feiern wollen. Zu diesem Zweck habe er eine Kommission eingesetzt, in die auch der Schriftsteller Adolf Muschg berufen wurde. Er sollte sich besonders der Präambel annehmen: «Sein Entwurf von 1977 brachte vier Ideen, die in den bisherigen Präambeln nicht enthalten waren: Frei bleibt nur, wer seine Freiheit gebraucht; ein Volk ist dann stark, wenn es auf das Wohl der Schwachen achtet; staatliche Macht hat eine Grenze, und wir sind aufgerufen, am Frieden der Welt mitzuwirken.»

«Ja, ich muss mich der Präambel schuldig bekennen», schrieb Adolf Muschg 2002 an Markus Kutter, «auch wenn sie in der geltenden BV nicht wiederzuerkennen ist, kleingehackt und mit gutgemeintem Treudeutsch verschnitten». Dem entnahm ich, dass Muschg die Präambel des gescheiterten Verfassungsentwurfs von 1977 formuliert hatte und dass Sätze von ihm in die heute geltende Verfassung übernommen wurden.

«Das ist ziemlich genau rekonstruiert», schrieb mir Muschg in einem Mail vor ein paar Tagen. «Wenn Sie in einem Archiv auf den Entwurf der damaligen Furgler-Kommission stossen, finden Sie meine ursprüngliche (knappe) Formulierung der Präambel integral; ‚zugefallen‘ ist sie mir in Disentis während einer eintägigen fieberbedingten ‚Auszeit‘ im Hotel Cucagna; der Reform-Entwurf hatte damals keine Chance, aber in der Kollerschen ‚Nachführung‘ wurden meine Passagen bezüglich ‚Freiheit‘ und die von Ihnen zitierte Passage wörtlich übernommen. D.h. in einen ‚angereicherten‘ Kontext montiert, wie er eben herauskommt, wenn viele Köche den Brei anrühren.»

Was lernen wir daraus? Dass Texte nicht demokratisch angerührt werden sollen? Dass es sich lohnt, Schriftstellerinnen und Schriftsteller beizuziehen, wenn es um Sprache geht? Dass sich gute Sätze auch im demokratischen Prozess durchsetzen? Oder einfach: Dass der Satz, der sich anhört wie ein geflügeltes Wort, eben doch eine längere Geschichte hat? Auch wenn sie nur bis 1977 reicht.

Je vais bientôt recevoir un prix littéraire – je ne peux pas dire lequel encore, il y a embargo, j’ai promis de me taire. Une élue m’a appelé pour m’en informer, un dimanche soir, la voix grave, le ton solennel.

Sur le moment j’ai cru que mes enfants avaient fait une connerie à l’école – le vol d’un ordinateur, une pipe de crack trouvée dans leurs affaires – car cette dame est en charge des affaires scolaires en plus de la culture (c’est souvent des dames qui sont cheffes de la Kultur, puisque c’est elles, selon les statistiques de l’Unesco, qui prennent les décisions en matière de consommation culturelle. L’homme, lui, préfère à priori aller bouffer une pizza plutôt qu’aller voir „Black Swann“, par exemple, ou assister à un concert de Martha Argerich).

Cette nouvelle – un prix littéraire, pour moi l’auteur polymorphe si souvent invisible voire inaudible, l’écrivain dont le travail passe par la bouche des comédiens, ou organise discrètement le voyage du spectateur – m’a d’abord enchanté. Puis la joie, sous l’action d’un Dieu méchant ou d’une profonde névrose, comme on voudra,  s’est peu à peu évanouie et l’anxiété a pris progressivement la place laissée par un bonheur évanoui. De vieilles mises en garde médicales soudain remémorées, des taches suspectes ici ou là, des symptômes soudain ressentis avec une acuité particulière, bref, les lourdes épées de Damoclès de la maladie et de la mort se sont installées durablement au-dessus de ma tête, inhibant toute capacité à jouir de la vie, du succès et de la promesse d’un apéro généreux aux frais de la princesse. Je suis coutumier du fait. La première fois que j’ai reçu un Quartz du Cinéma suisse, je me sentais à mille lieues de le mériter. Invité à une conférence dans une école de film, je m’étais montré critique – voulant bien faire, être résolument analytique – à l’égard du film d’un ami. J’étais maintenant en face de lui et me sentais comme Judas devant le Christ. La deuxième fois que j’ai reçu un Quartz (!), une amie m’a sauté dessus pour m’embrasser quelques secondes avant qu’on me le remette, écrasant un gros bouton de fièvre sur le coin de ma bouche. Lorsque je suis monté sur la scène, mes lèvres (déjà atteintes, j’en étais sûr) ont bien sûr bredouillé quelques mots de remerciement, mais mon cerveau, lui, hurlait à l’adresse du public: „j’ai de l’herpès, je suis foutu!„. Les biographes américains ont inventé le concept de catastrophe du succès pour décrire les crises profondes dans lesquelles ses divers Oscars ont plongé Frank Capra. Fils d’ouvriers siciliens, il ne parvenait pas à vivre sa gloire autrement que comme un conflit de loyauté à l’égard des siens. Faudrait-il refuser toute récompense, toute gratification, pour connaître la paix? Cette attitude entraînerait sûrement des dommages psychiques non moins douloureux. Il n’y a pas de solution. Un dieu méchant veille, ou la névrose. Comme on voudra.

Der spanische Regierungschef kann kein Englisch, deshalb ist er mein Hero, sorry, ich meine pardon, ist er mein Held. Er hat sich vom Zwang, Englisch können zu müssen, befreit oder ist diesem gar nie erlegen. Mir ging und geht es leider anders.

Ich habe das Gefühl, ich müsse Englisch können. – Aber es ist doch gar keine Frage, dass man in der heutigen Welt Englisch können muss. – Ach ja, tatsächlich? Wofür habe ich in den letzten Monaten mein Englisch gebraucht? Ich habe Werbesprüche verstanden, ich habe am Radio einen Songtext, ich meine Liedtext, verstanden und am Abend vor dem Fernseher beim Rumswitchen, ich meine Rumknöpfeln, habe ich mir auf CNN ein paar Minuten die Nachrichten angeschaut mit dem schönen Gefühl englisch zu können. Aber eben, warum ist das ein schönes Gefühl? Warum ist es cool, ich meine kühl, Englisch zu können? Oder zumindest kühler, als Spanisch zu können?

Zwar denke ich auch oft, ich müsste Spanisch können, aber dies doch mehr aus der Lust heraus, mich in dieser Sprache zurecht zu finden, die schön ist wie Englisch und ebenso eine Weltsprache. Native speaker – ich meine, was ist das Wort? Muttersprachler? – soll es im Spanischen sogar noch einen Hauch mehr geben als im Englischen. Aber kühl wie das Englische ist Spanisch nicht.

Und ist der einzige Grund dafür tatsächlich der, dass Amerika das Rom unserer Zeit ist und wir alle deshalb mit unserem Deutsch und Berndeutsch und Spanisch in der Lage jener Menschen in den von Rom eroberten Gebieten, die vor 2000 Jahren ihre eigene, unterlegene Kultur verleugneten und sich um ihr Latein bemühten, um ja nicht uncool, ich meine, keine Barbaren zu sein? Ist der Zwang englisch zu können ein kultureller Unterwerfungszwang? Und das Gefühl, englisch sei kühl oder jedenfalls kühler als irgendeine andere Sprache, die schon Fleisch gewordene Unterwerfung? Das ist ja doch ein etwas unangenehmer Gedanke, nicht wahr? Und vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit.

Lange habe ich in Zürich am Bullingerplatz gewohnt. Dort ist ein neues Café aufgegangen, das Café au bonheur. Im Moment ist es der totale In-Place, ich meine Innenplatz (das heisst, um genau zu sein, das meine ich eigentlich auch nicht) – jedenfalls, die Leute finden diese Hommage an die französische Lebensart derart kühl, dass man sich dafür schon fast wieder ein cool erlauben dürfte.

(Der Text nimmt Bezug auf den Beitrag von Beat Sterchi vom 11.8.2013. Anm. der Red.)

Was mir Spanisch vorkommt

von Beat Sterchi 11. August 2013

Jetzt gleich werde ich Euch etwas sagen und Ihr könnt alle sicher sein, dass das, was ich Euch gleich anvertrauen werde, von grosser Bedeutung ist und auch Ihnen geschätzter Leser und Ihnen geschätzte Leserin kann ich versichern, dass dem so sein wird.

Und ich kann Ihnen allen ebenfalls versichern, dass es mir ein sehr grosses Vergnügen bereitet Ihnen mitzuteilen, was ich ihnen sogleich mitteilen werde, um so mehr als ich es in einer Sprache tun kann, von der wir alle wissen, welch einen Reichtum an Möglichkeiten diese zu bieten hat, um genau das auszudrücken, was es auszudrücken gilt und was ich hiermit, wenn Sie gestatten, gleich tun werde.

Genau das ist klassische Spanische Rhetorik, von der niemand annehmen sollte, dass sie der Vergangenheit angehört. Es ist die Rhetorik der Sprachverliebten, die verlangt, dass nichts gesagt wird, bevor nicht angekündigt wurde, dass man etwas sagen werde. So redet man Spanisch, man redet nicht einfach, um etwas mitzuteilen, man redet zuerst einmal, um zu reden und um sich dem Vergnügen hingeben zu können von dieser wohlklingenden Sprache Gebrauch zu machen, notfalls ohne weitere Absicht als einfach zu reden. Und dass die Spanier grösstenteils sprachverliebt sind, daran kann kein Zweifel bestehen. Es gibt nicht wenige Spanier und Spanierinnen, die ihre Sprache derart lieben, dass sie, um länger reden zu können, alles gleich zweimal sagen. Sind sie sich bewusst, dass ihr Gegenüber ihre edle Sprache nur beschränkt beherrscht, benützen sie diesen Umstand, um alles gleich drei- bis viermal wiederholen zu können.

Dabei reden sie natürlich auch viel Schrott, viel an sich Nichtssagendes, viel Überflüssiges, viel Offensichtliches, aber möglicherweise ist es sowieso gesünder jede Kleinigkeit zu erklären und zu verhandeln als gar nichts zu sagen. Denn etwas bleibt immer und wenn es nur die beim Reden gemeinsam gut verbrachte Zeit ist.

Vielleicht liegt es an dieser Liebe zur eigenen Sprache, dass Spanien bisher ein Land war, welches Fremdsprachen keine grosse Bedeutung beimass. Grosse Liebe zur eigenen Sprache, aber keine für all die andern, nicht selten auch sehr schönen Sprachen.

Noch heute ist der Sprachunterricht in der Regel dürftig. Es wird geklagt über veraltete Lehrmittel, überholte Methoden und nicht selten über Lehrer, die im Buch kaum mehr als ein paar Seiten weiter sind als die ihnen anvertrauten Schüler. So gibt es Französischlehrer, bezahlte wohlverstanden, die nicht Französisch können und Englischlehrer, die diesen Namen entschieden auch nicht verdienen. Wer weiss, ob in dem wieder einmal aufgeflammten Knatsch mit Grossbritannien wegen Gibraltar nicht auch eine Sprachdimension zu finden wäre. Immerhin sagt man, Spanien sei das einzige europäische Land mit einem Präsidenten, der kein Englisch spricht.

(…schreibt Beat Sterchi direkt aus Spanien. Anm. der Red.)