Von geflügelten Sätzen und gerupften Präambeln

von Guy Krneta 2. September 2013

In der Präambel der Bundesverfassung steht ein bemerkenswerter Satz: «Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Ich war vor einiger Zeit von einer Bekannten darauf hingewiesen worden. Und ich wunderte mich.

Ich wunderte mich, dass ein solcher Satz, der einen komplexen Gedanken in grosser Schlichtheit auf den Punkt bringt, unbemerkt in der Verfassung stehen kann. Ein Satz, der sich anhört wie ein geflügeltes Wort, musste, meinte ich, eine längere Geschichte haben.

Ich mailte den Historiker Georg Kreis an, der mir postwendend antwortete, der Satz sei erst bei der letzten Revision, also 1999 in die Verfassung gekommen. Das enttäuschte mich. Liest man die heute gültige Präambel durch, hebt sich der Satz deutlich von den übrigen Allgemeinplätzen ab. Ein zweiter Satz allenfalls kann ihm das Wasser reichen: «Dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht.» Und schliesslich handelt es sich sogar um eine Doppelung, denn weiter oben ist bereits von «Frieden in Solidarität» die Rede.

In jüngster Zeit bin ich dem Satz nun öfter begegnet. Er taucht in Reden und Kolumnen auf, meist im Zusammenhang mit einer Asylpolitik, die immer mehr meint, den Starken vor dem Schwachen schützen zu müssen. Demgegenüber suchen die Gegner einer pervertierten Asylpolitik nach solidarischen Übereinkünften unserer Gesellschaft – und werden fündig in der Bundesverfassung. Auch der Schriftsteller Adolf Muschg erwähnt den Satz in einem Interview mit Newsnetz Mitte August und merkt an, der Satz stamme übrigens von ihm.

Wie das, fragte ich mich. Wo hat Muschg den Satz niedergeschrieben? In welchem Zusammenhang? Und wie kommt der Satz eines Schriftstellers in die Bundesverfassung?

Ich mailte wieder Georg Kreis an, der mir mitteilte, Muschg habe seines Wissens in der Kommission gesessen, welche die Präambel redigierte. Ausserdem verwies er mich an seinen Kollegen Luzius Wildhaber an der Uni Basel, von dem ich erfuhr, die Mitglieder der Expertenkommission hätten darüber abgestimmt, was in die Präambel hineingehöre. Muschg habe es dann formuliert.

Dem widersprach gewissermassen ein Beitrag des 2005 verstorbenen Basler Historikers, Werbers und Autors Markus Kutter auf seiner privaten Website. Das 100-Jahr-Jubiläum von 1974 habe Bundesrat Kurt Furgler mit einer frisch revidierten Verfassung feiern wollen. Zu diesem Zweck habe er eine Kommission eingesetzt, in die auch der Schriftsteller Adolf Muschg berufen wurde. Er sollte sich besonders der Präambel annehmen: «Sein Entwurf von 1977 brachte vier Ideen, die in den bisherigen Präambeln nicht enthalten waren: Frei bleibt nur, wer seine Freiheit gebraucht; ein Volk ist dann stark, wenn es auf das Wohl der Schwachen achtet; staatliche Macht hat eine Grenze, und wir sind aufgerufen, am Frieden der Welt mitzuwirken.»

«Ja, ich muss mich der Präambel schuldig bekennen», schrieb Adolf Muschg 2002 an Markus Kutter, «auch wenn sie in der geltenden BV nicht wiederzuerkennen ist, kleingehackt und mit gutgemeintem Treudeutsch verschnitten». Dem entnahm ich, dass Muschg die Präambel des gescheiterten Verfassungsentwurfs von 1977 formuliert hatte und dass Sätze von ihm in die heute geltende Verfassung übernommen wurden.

«Das ist ziemlich genau rekonstruiert», schrieb mir Muschg in einem Mail vor ein paar Tagen. «Wenn Sie in einem Archiv auf den Entwurf der damaligen Furgler-Kommission stossen, finden Sie meine ursprüngliche (knappe) Formulierung der Präambel integral; ‘zugefallen’ ist sie mir in Disentis während einer eintägigen fieberbedingten ‘Auszeit’ im Hotel Cucagna; der Reform-Entwurf hatte damals keine Chance, aber in der Kollerschen ‘Nachführung’ wurden meine Passagen bezüglich ‘Freiheit’ und die von Ihnen zitierte Passage wörtlich übernommen. D.h. in einen ‘angereicherten’ Kontext montiert, wie er eben herauskommt, wenn viele Köche den Brei anrühren.»

Was lernen wir daraus? Dass Texte nicht demokratisch angerührt werden sollen? Dass es sich lohnt, Schriftstellerinnen und Schriftsteller beizuziehen, wenn es um Sprache geht? Dass sich gute Sätze auch im demokratischen Prozess durchsetzen? Oder einfach: Dass der Satz, der sich anhört wie ein geflügeltes Wort, eben doch eine längere Geschichte hat? Auch wenn sie nur bis 1977 reicht.