Am späten Nachmittag des 22. Januars versammeln sich rund 70 Menschen vor dem Tor der Reitschule. Es regnet leicht, die Stimmung ist gespannt. Reitschüler*innen mit leuchtenden Herz-Ansteckern schenken Getränke aus – genau so, wie jeweils bei der Rössli-Sommerbar. Es wird geplaudert, gelacht, gewartet.
Um 17:30 treten die beiden Autor*innen Sandra Künzi und Matto Kämpf vor das grosse Tor. Auch sie tragen leuchtende Herzen an der Jacke. «Mein Herz schlägt für die Reitschule, und eures?», sagt Sandra Künzi ins Mikrophon. Die Versammelten jubeln. Die beiden Künstler*innen erzählen etwas darüber, was in den zwei Wochen hinter dem verschlossenen Tor passiert ist. Dann klopfen sie an ebenjenes.
Da scheint mehr Elan da zu sein, mehr Zuversicht.
Als sich das Tor öffnet, sind erst nur Nebelschwaden zu sehen. Dahinter erscheint eine Plastik die einen Elefanten darstellt. Gross, schwer, fast surreal steht er auf den Pflastersteinten hinter dem Tor. Die Menschen wagen sich langsam hinein, manche gehen direkt ins Restaurant Sous le Pont – dort wird heute wieder gekocht und gegessen – andere vertiefen sich im Innenhof bei Zigarette und Bier ins Gespräch.
Viele scheinen froh darüber zu sein, nun endlich wieder die Reitschule besuchen zu können. Und die Reitschüler*innen freuen sich, endlich wieder Gäste empfangen zu dürfen und sich dem Betrieb des Hauses zu widmen. Ganz wie zuvor scheint es aber nicht zu sein. Da scheint mehr Elan da zu sein, mehr Zuversicht. Es muss also einiges gegangen sein in diesen zwei Wochen vorübergehender Schliessung. Nur, was genau?
Ein komplexer Mikrokosmos
Ein Tag vor der Eröffnung. Der Vorplatz wirkt ruhig, doch in der Reitschule herrscht emsiges Treiben. Im Innenhof erhält der Elefant seine letzten Pinselstriche. Lou und Michel von der Mediengruppe sprechen im Dachstock-Büro über die Gründe für die Situation vor der Reitschule, die zur vorübergehenden Schliessung geführt hat, und darüber, was seit der Schliessung geschehen ist. Beide wollen ihre vollständigen Namen lieber nicht in den Medien lesen.
Ihre Schliessung begründete die Reitschule mit einer Eskalation der Gewalt auf dem Vorplatz und auf der Schützenmatte. Bereits seit einiger Zeit ist immer wieder die Rede davon, dass sich die Situation auf vor der Reitschule verändert habe (Journal B berichtete). In letzter Zeit haben gewaltvolle Auseinandersetzungen auf dem Platz zugenommen, teils gerieten mit Messern bewaffnete Gruppierungen aneinander.

Für die Reitschule war die Situation somit nicht mehr haltbar. «Wir können kein Freiraum sein, wenn dazu keine Sorge getragen wird und sich solch gewaltvolle Strukturen auf der Schützenmatte und dem Vorplatz etablieren», schrieb die Mediengruppe in der Mitteilung, in der die temporäre Schliessung bekanntgegeben wurde. Dazu kommt noch ein weiterer Grund: Für die Reitschüler*innen wurde die Situation zu belastend.
Der Mikrokosmos Schützenmatte-Vorplatz-Reitschule bildet ein komplexes soziales Gefüge, ein Netz mit zahlreichen Strängen und Knoten. Darin spielen die Reitschüler*innen und insbesondere die Beschäftigten der Gastrobetriebe eine wichtige Rolle.
Ein Teil der Arbeit der Reitschüler*innen besteht darin, eine Grundbeziehung zu den verschiedenen Leuten aufzubauen, die sich vor der und um die Reitschule aufhalten. «Wir sind häufig der Erstkontakt für eine Menge Leute, die sich auf dem Vorplatz aufhalten», erklärt Michel im Gespräch mit Journal B.
Zwei Wochen lang war der Betrieb der Reitschule eingestellt. Grund dafür war die Situation auf dem Vorplatz und der Schützenmatte. In ihrer Begründung schrieb die Reitschule von einer Eskalation der Gewalt.
Viel wurde in diesen zwei Wochen über die Probleme vor der Reitschule gesprochen und geschrieben. Auch wir haben uns mit unterschiedlichen Akteur*innen aus und vor der Reitschule zusammengesetzt und über Ursachen, Entwicklung und mögliche Lösungen der Probleme gesprochen.
Im ersten Teil der Recherche sprechen wir mit der Reitschule darüber, wie sie mit der Situation umgehen, was in den zwei Wochen passiert ist und wie es nun weitergehen soll.
Im zweiten Teil sprechen wir mit dem Verein Medina, der auf der Schützenmatte aktiv ist, mit der Kirchlichen Gassenarbeit, der Stadträtin Barbara Keller und mit Christoph Ris, der bei der Stadt Bern für die Koordination und Bewartung auf der Schützenmatte zuständig ist.
So haben schon viele Konflikte vermieden und geklärt werden können, erzählen die Reitschüler*innen. Dafür sind manchmal stundenlange Gespräche nötig. Dabei können sie auf der Vorarbeit von Medina und der Gassenarbeit aufbauen, wie die Reitschüler*innen betonen. Lou ergänzt: «Eigentlich haben wir die Ressourcen für diese Arbeit nicht, aber wir wollen sie aufbringen, denn wir kennen es nicht anders.»
Erschwerend komme hinzu, dass die Polizei immer mal wieder gegen diese Bemühungen arbeite: «Unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung führt die Polizei auf dem Vorplatz häufig fremdenpolizeiliche Einsätze durch», erklärt Michel. Das schwäche das Vertrauen der Menschen, die sich dort aufhalten.
Gesellschaftliche Probleme im Brennglas
Die Gründe dafür, dass sich so viele verschiedene Menschen im Raum Schützenmatte-Vorplatz-Reitschule aufhalten, sind vielfältig und so auch die Herausforderungen, die das mit sich bringt (mehr dazu im zweiten Teil unserer Recherche). Für die Reitschüler*innen hat vieles davon mit der herrschenden Politik zu tun.
Wie aus der Medienmitteilung der Mediengruppe zur vorübergehenden Schliessung hervorgeht, wird die Situation für die Reitschüler*innen durch die aktuelle Asyl-, Sozial- und Drogenpolitik verursacht. Entsprechend fordern sie ein Umdenken in diesen Bereichen. «Es braucht mehr repressionsarme oder repressionsfreie Massnahmen», sagt Lou. Als konkrete Massnahmen nennt sie etwa das Housing-first-Prinzip oder die Förderung von Jugendnotschlafstellen.
Der Gemeinderat ist besorgt über die aktuelle Gewaltsituation und es besteht Handlungsbedarf
Solche Massnahmen würden den Raum um die Reitschule entlasten. Denn das Problem habe nicht primär mit der Reitschule zu tun und verschwinde auch nicht, wenn die Reitschule geschlossen wird. Bereits in der Vergangenheit habe sich gezeigt, dass sich das Problem verlagert, wenn die Reitschule ihren Betrieb geschlossen hat, erklärt Michel: «Als die Reitschule 2016 für einen Monat geschlossen war, spürte man die Auswirkungen davon in den umliegenden Quartieren.» Das zeige, dass das Problem nicht hausgemacht sei.
Tatsächlich vermeldete die Kantonspolizei an einem Wochenende im Juli 2016 in einer Medienmitteilung, die Polizei sei wegen Lärmklagen, Streitereien, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen im Dauereinsatz gewesen. «Der Lärm der Reitschule verlagert sich in die Quartiere», lautete der Anreisser auf der Titelseite des «Bund» Tags darauf.
Die Sache mit der Polizei
Wie bereits bei der temporären Schliessung im Jahr 2016 ist sich auch jetzt die städtische Politik einig darüber, dass die Reitschule das Problem nicht allein lösen kann und dass etwas geschehen muss. «Der Gemeinderat ist besorgt über die aktuelle Gewaltsituation und es besteht Handlungsbedarf», sagte die Stadtpräsidentin Marieke Kruit etwa gegenüber Radio RaBe. Sie will deshalb alle Akteur*innen zu einem runden Tisch einladen.
An einem solchen wäre auch die Kantonspolizei Bern beteiligt. Dass sich die Reitschule mit der Polizei an einen Tisch setzt, das war in den vergangenen Wochen eine häufig gestellte Forderung. Ein Dialog sei seitens der Reitschule allerdings nicht erwünscht, liess sich die Kantonspolizei dazu mehrmals zitieren.

Dass das Verhältnis zwischen Polizei und Reitschule aktuell wohl keinen konstruktiven Dialog zulässt, ist gemeinhin bekannt. Wie sich das konkret auswirkt zeigte sich jüngst am Beispiel eines Vorfalls in der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2024. Bei einer Auseinandersetzung vor der Reitschule wurde einem Mann ein Finger abgehackt. Nachdem er von Drittpersonen medizinisch betreut wurde, konnte er mit der Ambulanz ins Spital gefahren werden. So stand es auch in der Medienmitteilung der Kantonspolizei Bern.
In einem Beitrag der SRF-Sendung «Schweiz Aktuell» zur temporären Schliessung wurde der Vorfall erneut aufgegriffen. In dem Beitreg, in dem unter anderem Manuel Willi, der Chef der Regionalpolizei Bern zu Wort kam, war die Rede davon, die Polizeibeamten seien vor Ort daran gehindert worden, dem Opfer zu helfen.
Wir haben aber gemerkt, dass wir noch inklusiver sein können.
Die Mediengruppe der Reitschule veröffentlichte daraufhin eine Gegendarstellung. Darin schreiben sie, die Erstversorgung durch einen anwesenden Arzt und das Sicherheitspersonal sei beim Eintreffen der Polizei bereits sichergestellt sowie die Ambulanz unterwegs gewesen. «Zwei Mitarbeitende der Reitschule informierten die eintreffende Polizei über die Situation und baten sie, den vollbesuchten Dachstock nicht zu betreten. Die anwesenden Beamten stimmten dem zu», heisst es in der Gegendarstellung weiter.
Auf Nachfrage schreibt die Medienstelle der Kantonspolizei Bern, den Mitarbeitenden der Polizei sei klar signalisiert worden, dass sie vor Ort nicht erwünscht seien. «Da die Versorgung des Verletzten sichergestellt war, haben unsere Mitarbeitenden auf die Durchsetzung des Zutritts verzichtet», so die Kantonspolizei weiter. Der Mediensprecher der Kantonspolizei fügt in seiner Antwort an diese Redaktion an, er erachte es als nicht zielführend, in der Medienberichterstattung gegenseitig Stellung zu gemachten Aussagen zu beziehen.
Was kann die Reitschule tun?
Ein Dialog zwischen Polizei und Reitschule scheint unter den gegebenen Umständen keine Möglichkeit. Welche Lösungen die Stadtpolitik bereithält wird sich noch zeigen, der Handlungsbedarf scheint zumindest erkannt worden zu sein. Doch was kann die Reitschule selbst tun, um die Situation auf dem Vorplatz zumindest zu verbessern?
Beim Gespräch im Dachstockbüro erwähnen Michel und Lou immer wieder, dass ausbleibendes Publikum die Situation verschärft hat. Bei einer schwächeren Belebung des Platzes würden zudem die Probleme sichtbarer.

Dass das Ausbleiben der Besucher*innen dem Angebot geschuldet ist, wie das zum Teil geschrieben wurde, glauben die Reitschüler*innen nicht. «Wir haben aber gemerkt, dass wir noch inklusiver sein können», fügt Lou an. Denn noch immer sei das Haus sehr weiss- und cis-dominiert.
Allgemein habe sich das Verständnis für Freiräume gewandelt. Die Reitschüler*innen beobachten schon länger, dass Freiräume als gemeinsamer Ort der politischen Sozialisierung an Bedeutung verloren haben: «Früher haben Gespräche und Diskussionen bei einem Bier stattgefunden, heute eher auf Social-Media», sagt Michel dazu.
Dabei brauche die Reitschule diesen Prozess, damit Junge in die Strukturen des Hauses hineinwachsen und so das Fortbestehen der Kollektive gesichert ist. «Wir würden beide nicht hiersitzen, wenn wir damals nicht einen grossen Teil unserer Jugend auf dem Vorplatz verbracht hätten», sagt Lou.
Wie weiter?
Was also tun, damit das Klima auf dem Vorplatz wieder angenehmer wird und die Reitschule ihrer Funktion als Freiraum wieder gerecht werden kann? Dazu brauche es mehr Präsenz und eine bessere Belebung, sind sich Lou und Michel sicher. Damit der Vorplatz für Besucher*innen also wieder attraktiver wird, braucht es erstmal eine kritische Masse an Besucher*innen.
Allgemein brauche es für die Veränderung auch die Besuchenden, meint Lou: «Es braucht wieder ein Bewusstsein dafür, was es heisst, einen solchen Freiraum zu haben und dafür Sorge zu tragen.» Denn Freiräume wie die Reitschule würden immer mehr verschwinden.
Mit der Wiedereröffnung wollen die Reitschüler*innen die Werte des Hauses wieder stärker vertreten – sowohl nach aussen wie auch nach innen. «Wir haben uns in den vergangenen zwei Wochen viel Gedanken gemacht, wie wir wieder unserem Manifest getreuer handeln können», sagt Lou dazu. «Die Gäste werden sich mit Veränderungswünschen und Vorschlägen einbringen können», ergänzt Michel.
Der Prozess hat erst begonnen
Am Tag darauf stehen die beiden Lou und Michel von der Mediengruppe im Innenhof der Reitschule von Journalist*innen der Schweizer-Presse umringt. Mikrofone werden gereicht, Fragen gestellt. Am Ende nehmen sie sich nochmals kurz Zeit um mit Journal B zu sprechen.

«Es war eine Befreiung», sagt Lou auf die Frage, was ihr beim der Öffnung des Tors durch den Kopf ging. Aber sie verspüre auch Druck, es nun richtig zu machen. Michel nickt und fügt hinzu: «Die letzten zwei Wochen waren intensiv. So viele Diskussionen, so viele Vollversammlungen. Aber heute zeigt sich: Die Reitschule lebt. Und wir machen weiter.»
Dieses Weitermachen ist kein Weitermachen wie bisher, das hat die Reitschule am Abend der Wiedereröffnung deutlich gemacht. In den zwei Wochen der Schliessung wurde vieles angestossen, das nun umgesetzt und sich in der Praxis beweisen muss. Das Fazit des Abends hat Michel beim Gespräch am Tag zuvor schon vorweggenommen: «Der Prozess endet nicht, wenn das Tor wieder offen ist.»
Hier geht es zum zweiten Teil unserer Recherche.