Die Strassen sind nass in dieser Nacht der heiligen drei Könige. Die verrückte Uhr vor der Reitschule dreht ihre wirren Runden. Es ist kurz nach elf und in den flachen Pfützen spiegeln sich die Umrisse derer, die über die Schützenmatte eilen. Im Trockenen unter der Bahnbrücke haben etwa dreissig Menschen zusammengefunden, sitzen, diskutieren, grölen, wechseln die Gruppe, schauen gehetzt umher. Die Stimmung ist aufgeladen. Einige scheinen Drogen konsumiert zu haben, bei anderen ist unklar, wen oder was sie hier auf dem Platz suchen, heute, wo der Dachstock geschlossen und es mit nur drei Grad ungemütlich kalt ist.
Ein violetter Wohnwagen steht etwas abseits, auf seine Rückseite sind die Worte «We offer you protection» in grossen schwarzen Buchstaben gemalt, auf der Vorderseite sitzen Nicolas und Tanja unter einem Vordach an einem weissen Campingtisch und beobachten den Platz. Um halb elf ist der Wohnwagen auf den Platz gefahren worden, bis um sechs Uhr wird er hier stehen, offen für alle, die Hilfe und Schutz brauchen. «Wir sind für alle Personen da, die sich unwohl fühlen», erklärt Tanja, die seit August beim sogenannten «Schutzmobil» Einsätze leistet. Das kann alles Mögliche heissen: Menschen, die zu viel Alkohol oder Drogen konsumiert haben, solche, die einen sexuellen Übergriff erlebt oder Personen, die keinen Ort zum Schlafen hätten.
Unsere Präsenz hat Signalwirkung.
«Manchmal kommen auch Jugendliche zu uns, die über ihre Erlebnisse im Nachtleben sprechen wollen», erzählt Tanja. Wie weit darf man bei einem Flirt gehen und wann ist es zu viel? «Oder Menschen, die aufgewühlt sind, weil sie eine gewalttätige Situation erlebt haben.» Jede Nacht ist anders. Das Wetter, das Programm in der Reitschule, das alles hat einen Einfluss darauf, wer sich auf der Schützenmatte aufhält und wer zu ihnen kommt. Wovon die Sozialarbeiterin jedoch überzeugt ist: «Unsere Präsenz hat Signalwirkung.»
Im Wohnwagen drin ist es eng, eine Packung Gummibärchen liegt auf dem Tisch in der Eckbank, es riecht nach Camping. Auf dem Herd steht eine Kaffeemaschine. In den Schränken bewahrt das Team des Schutzmobils Wasser, Visitenkärtchen und ein Erste-Hilfe-Set auf. An der Wand hängt eine Liste mit verschiedenen Notfallnummern: Polizei, Feuerwehr, aber auch die Jugendnotschlafstelle Pluto und die Nummer der Stelle für sexuelle Gesundheit und Spurensicherung des Inselspitals. Im hinteren Teil des Campers gibt es auch ein Bett, falls sich mal jemand hinlegen müsste.
Das Angebot des Schutzmobils ist niederschwellig. Die zwei Mitarbeitenden, die immer im Team zusammen eine Nacht bestreiten, suchen nicht aktiv Leute auf, ausser sie sehen gerade, dass es jemandem schlecht geht. Und niemand wird hier zu irgendetwas gezwungen. «Das muss man auch aushalten können», sagt Tanja, «dass eine Person nicht das machen will, was aus meiner Sicht in diesem Moment das Beste für sie wäre.»
Sichtbares Elend
Das Schutzmobil fungiert als Ergänzung zum Sicherheitsdienst Samson, der ebenfalls jeweils Freitag- und Samstagnacht auf der Schützenmatte präsent ist. Beides wurde von der Stadt initiiert. «Das Schutzmobil soll eine Anlaufstelle sein für Menschen, die belästigt wurden oder sonst wie Gewalt erfahren haben», sagt Alex Haller, der als Leiter Familie & Quartier der Stadt Bern für Konflikte und das Zusammenleben im öffentlichen Raum, und damit auch auf der Schützenmatte, zuständig ist. Das Pilotprojekt läuft seit August. Angedacht wurde es vom Gemeinderat schon vor zwei Jahren. Doch gerade in diesem Jahr scheint das Angebot besonders nötig zu sein.
Drogen und Rausch machen die Menschen unberechenbar, die Stimmung kippt schnell.
Denn die aufgeladene Atmosphäre an diesem Abend des 6. Januars ist zurzeit nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Schon im Sommer sei die Stimmung sehr schlecht gewesen, erzählt Christopher Ris, der von der Stadt für die Koordination und Bewartung des Platzes angestellt ist. «Die Organisatoren verschiedener Veranstaltungen haben Bedenken geäussert, ob sie es sich unter diesen Umständen vorstellen könnten, solche nochmals auf der Schützenmatte durchzuführen», so Ris. Immer wieder sei es zu gewalttätigen Zwischenfällen gekommen. Drogen und Rausch machen die Menschen unberechenbar, die Stimmung kippt schnell.
Jetzt im Winter ist die prekäre Lage derjenigen, die sich auf der Schütz aufhalten, nochmals sichtbarer als während den warmen Monaten. Bei diesen Temperaturen halten sich hier nur noch diejenigen auf, die keine andere Wahl haben. «Das Elend ist ausserdem auch sehr sichtbar geworden, weil es eine neue Drogenszene gibt, die offener auftritt», so Alex Haller, «und die damit andere Gruppen, wie zum Beispiel Skaterinnen und Skater, verdrängt».
Das Vakuum muss gefüllt werden
Es riecht nach Druckerschwärze, Metall und Papier. David Böhner bahnt sich einen Weg durch die Reitschul-Druckerei, in der er arbeitet. Fortlaufendes Rattern, eine der vielen Maschinen scheint immer gerade am Drucken zu sein. Böhner zieht einen Ordner aus dem Regal. Im Ordner liegen ausgedruckt die Versammlungsprotokolle der Reitschule. Sie sind vertraulich, zitiert werden darf daraus nicht. Böhner schlägt den Ordner an mehreren Stellen auf, blättert weiter.
Es sind Gedächtnisprotokolle, auf die er tippt. Aufgeschriebene Erinnerungen an gewaltvolle Vorfälle. Für jedes ausgesprochene Hausverbot – die höchste Sanktion, die die Reitschule verhängt – das dazugehörige Gedankenprotokoll. Jede Woche gibt es mehrere davon. Wenn sich auf der Schützenmatte die Situation verschlechtert, dann ist es die Reitschule, die es als erste merkt. Vor allem die Angestellten des Restaurants Sous le Pont müssen sich jede Woche mit Auseinandersetzungen, Menschen, denen es schlecht geht und Gewalt auseinandersetzen. Und in den schwierigsten Situationen Hausverbote verhängen.
Die Reitschule versucht nun, kurzfristige Massnahmen zu ergreifen. «Die Schütz kann nicht sich selbst überlassen werden», so Böhner, «sonst entsteht ein Vakuum. Dieser Raum muss betreut werden.» Die Reitschule beschloss, dass die verschiedenen Arbeitsgruppen an den Wochenenden auf dem Vorplatz Präsenz zeigen sollten: Angebote durchführen, den Platz beleben, ihn nicht dem Elend überlassen. Eine ungeliebte Aufgabe. Zumindest solange es eisig kalt ist.
Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit begrüsst die diversen Inititativen zur Belebung der Schützenmatte: «Ergänzend fordern wir schon lange eine aufsuchende Jugendarbeit in der Innenstadt. Mit solchen Angeboten könnte individuell geschaut werden, was die Menschen brauchen und weshalb sie sich hier aufhalten.» Die Kirchliche Gassenarbeit arbeitet selbst aufsuchend, dreht ihre Runden in der Innenstadt und bietet Angebote in ihrem Büro am Sennweg 6 an. Sie sind das Stimmungsbarometer der Gasse. Die aktuelle Berichterstattung über die Verschlechterung der Situation auf der Schützenmatte sehen sie kritisch. Dieses Jahr sei nicht viel anders als die Jahre zuvor.
Dieser Platz ist Symptom einer verfehlten städtischen Politik.
«Wir beobachten seit Jahren eine Verschlechterung der Lage», erklärt Gammenthaler, «seit ich vor sieben Jahren hier zu arbeiten begonnen habe, hat die Zahl der Menschen auf den Gassen stetig zugenommen.» Für sie kein Wunder, wenn überall sonst der Platz fehle: Die Psychiatrien, die betreuten Wohnangebote, die Notschlafstellen – alle bis zum Platzen voll. Was bleibt, ist die Gasse. Und manchmal nicht einmal diese. Wenn Bänke weggenommen und Eintrittsbeschränkungen erlassen würden, dann bleibe am Schluss eben nur noch die Schützenmatte. «Dieser Platz ist Symptom einer verfehlten städtischen Politik», so die Gassenarbeiterin, «niemand entscheidet sich freiwillig dafür, jeden Abend und jedes Wochenende auf der Schützenmatte zu verbringen.»
Symptom verfehlter Politik
Etwas sei in diesem Jahr jedoch trotzdem anders. «Auffällig ist, dass es den Menschen dieses Jahr psychisch besonders schlecht geht.» Sie würden sich Sorgen um die Weltlage machen, die die Preise nach oben treibt. Auch die Umstellung der Sozialversicherungen auf ein neues IT-System habe in diesem Jahr einigen Kopfzerbrechen bereitet. «Die Umstellung war sehr harzig. Das bekamen diejenigen zu spüren, die davon abhängig sind.» Die Auszahlungen liefen zu spät an, Mieten wurden nicht rechtzeitig bezahlt, Mahnungen verschickt – für Menschen, die keinen Rappen Geld auf der Seite haben, stressige Zeiten.
Wenn die Leute lieber unter einer Brücke schlafen als in ihren Rückkehrzentren, dann machen wir in diesen Rückkehrzentren ganz sicher etwas falsch.
Psychischer Stress führt zu mehr psychischen Problem, zu vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum. Die Spirale dreht sich. Immer nur die Probleme der Schützenmatte lösen zu wollen, ist für Eva Gammenthaler deshalb auch der falsche Ansatz. «Ich finde das Schutzmobil eine tolle Initiative», sagt sie, «weshalb es auch noch auf der Schützenmatte stehen muss, verstehe ich nicht.» In der Aarbergergasse gäbe es genauso viele Menschen, die in den Ausgang gingen und einen solchen Rückzugsraum brauchen könnten.
Sowieso: Wenn die Schützenmatte das Symptom ist, dann ist vielleicht jeder Versuch, nur dort etwas verbessern zu wollen, ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Stimme der Gassenarbeiterin nimmt einen harten Tonfall an, wenn sie sagt: «Wenn die Leute lieber unter einer Brücke schlafen als in ihren Rückkehrzentren, dann machen wir in diesen Rückkehrzentren ganz sicher etwas falsch.» Statt alles auf die Schützenmatte zu reduzieren, sollte lieber ein Schritt zurückgegangen und das Ganze aus einer Metaperspektive betrachtet werden. Menschenwürdigere Asylpolitik und eine Bekämpfung der strukturellen Ursachen von Armut und Obdachlosigkeit, das wären die richtigen Ansätze. Mal ganz gross gedacht.
Im Kleinen könnte das heissen: dass die Drogenanlaufstelle in Bern niederschwelliger gestaltet wird und auch für Asylsuchende offen ist. Dass eine zweite Anlaufstelle geschaffen wird. Dass mehr Notschlafplätze von der Stadt Bern zur Verfügung gestellt werden. Letzteres hat die Stadt nun auch vor. Kurzfristig wurden die Öffnungszeiten des Angebots «Punkt 6» erweitert. Der Aufenthaltsraum, der Verpflegung, Waschmöglichkeiten und Notbetten anbietet, hat seit diesem Winter neben den frühen Morgenstunden auch abends von 18 bis 23 Uhr geöffnet. Langfristig sollen eine weitere Notschlafstelle für Frauen geschaffen und die Idee des «Housing First» geprüft werden.
Ein neuer Platz soll die Probleme lösen
Bis die grossen und kleinen Ansätze umgesetzt sind, bleibt die Schützenmatte der Kessel, in dem es brodelt. Neben der Bereitstellung des Sicherheitsdienstes und des Schutzmobils, plant die Stadt deshalb, enger mit der Polizei zusammenzuarbeiten. «Schlussendlich hat die Polizei die Kompetenz, die Einhaltung von Regeln und Gesetzen durchzusetzen», so Alex Haller, «wir wollen keine offene Repression, aber dass klare Grenzen gezogen und so auch wieder Freiräume für andere Gruppen geschaffen werden, die zum Beispiel Pétanque oder Basketball spielen möchten.»
Wir befinden uns in einer langen Übergangsphase.
Dass die Schützenmatte belebt bleiben muss, scheint über alle Parteien hinweg Konsens zu sein. «Grundsätzlich ist es ja kein Problem, wenn Menschen auf dem Platz Drogen konsumieren», sagt der langjährige Reitschuldaktivist David Böhner, «Aber wenn sie die einzigen auf dem Platz sind, wird es zum Problem, auch für sie selbst. Halten sich dagegen verschiedenste Menschen auf der Schützenmatte auf, dann entsteht eine andere Dynamik und eine soziale Kontrolle.»
Zur Durchmischung beitragen soll die Umgestaltung der Schützenmatte, das findet auch die Stadt. Eine Vorstudie wurde im Herbst 2022 fertiggestellt. Zurzeit wird die Bauphase geplant. Aber bis auch die letzten Parkplätze verschwinden, wird es noch eine Weile dauern. Der Baustart ist aktuell auf 2028 angesetzt. «Wir befinden uns in einer langen Übergangsphase», seufzt David Böhner. Und die Probleme auf der Schützenmatte nehmen darauf keine Rücksicht.