Woher kommt die Gewalt? – Reitschule II

von David Fürst & Noah Pilloud 28. Januar 2025

Reitschulschliessung Wegen der eskalierenden Situation auf dem Vorplatz hat die Reitschule zwei Wochen lang ihren Betrieb eingestellt. In dieser Zeit haben wir mit unterschiedlichen Akteur*innen in der und um die Reitschule gesprochen. Im zweiten Teil unserer Recherche gehen wir den Veränderungen auf dem Platz, deren Ursachen und möglichen Lösungen auf den Grund.

Kurz nach 23 Uhr ertönt eine Sirene. Eine Stimme erklingt auf dem Vorplatz der Berner Reitschule. Einige unterbrechen ihre Gespräche und schauen um sich. Eine Stimme ertönt aus den aufgestellten Lautsprechern: «Watch out», heisst es in verschiedenen Sprachen. Die Besucher*innen werden dazu aufgefordert, Verantwortung für den Platz zu übernehmen.

Viele scheinen davon wenig beeindruckt. Zwei Mal pro Stunde ertönt die Sirene. Die Durchsagen verkommen mit der Zeit zu einem Hintergrundgeräusch. Das Treiben geht weiter, die Alkoholpegel steigen und auf dem Pingpong-Tisch – neben tanzenden Körpern – schläft unterdessen jemand.

Plötzlich ist Bewegung in der Masse. Zwei Männer gehen aufeinander los, schlagen sich ihre Fäuste ins Gesicht. Sofort versuchen einige, die Streithähne zu trennen – ohne Erfolg. Menschen, die gerade noch Bier gezapft haben, stürzen sich ins Getümmel. So gelingt es, die beiden zu trennen. Doch wenig später geraten sie sich auf der Schützenmatte nochmals in die Haare.

Dieser Text stammt aus dem Artikel «Gewalt wird nie alt» vom Dezember 2021. Seither wurde viel versucht, um die Situation vor der Reitschule zu verändern. Die Stadt hat einen privaten Sicherheitsdienst engagiert und ein Schutzmobil mit Sozialarbeitenden aufgestellt, das als Rückzugort für Besucher*innen dienen soll. Die Reitschule versuchte mehrfach den Vorplatz wieder stärker zu beleben. Doch das Kernproblem bleibt ungelöst: Die Gewalt vor der Reitschule hat zugenommen, für viele Besucher*innen wird die Sicherheit immer mehr zum Thema.

Die Schützenmatte ist ein Ort, an dem viele Menschen in prekären Lebenssituationen zusammenkommen – oft, weil sie anderswo in Bern keinen Platz finden.

Anfang Jahr fällte die Reitschule den Entschluss, den Betrieb vorübergehend zu schliessen. Mittlerweile hat die Reitschule wieder geöffnet (hier geht es zum Bericht zur Wiedereröffnung) und will mit neu gefundener Energie Veränderungen anstossen.
Wir haben während der zwei Wochen Schliessung mit verschiedenen Akteur*innen auf dem Vorplatz und der Schützenmatte gesprochen. In den Gesprächen ging es darum, zu verstehen, was sich in den letzten drei Jahren auf dem Platz verändert hat, welche Entwicklungen zur aktuellen Situation geführt haben und welche Ansätze eine Veränderung versprechen.

Eine veränderte Nutzung

Der Vorplatz ist längst nicht mehr so belebt wie noch vor fünf bis sechs Jahren, als er jedes Wochenende voll war und mehrere tausend junge Menschen dort einen Freiraum fanden im schützenden Schatten der Reitschule, weil es dort keinen Konsumzwang gab, man laut sein durfte und auch die Polizei ein seltener Gast war. Heute sind es vor allem marginalisierte Menschen, die sich dort aufhalten. Gewalt und Drogenkonsum haben zugenommen.

«Die Schützenmatte ist ein Ort, an dem viele Menschen in prekären Lebenssituationen zusammenkommen – oft, weil sie anderswo in Bern keinen Platz finden», erklärt Barbara Keller. Sie präsidiert die SP/Juso-Fraktion im Stadtrat und beschäftigt sich schon lang mit der Situation vor Ort. Unter den Menschen auf dem Platz seien Leute, die in den überfüllten Notschlafstellen keinen Platz fänden, Asylsuchende, die in unzumutbaren Unterkünften leben müssten oder Menschen mit Suchterkrankungen, führt Keller aus.

Barbara Keller
SP-Stadträtin und Fraktionspräsidentin Barbara Keller kennt sich mit der Reitschule aus (Foto: David Fürst).

Auch Christoph Ris beschäftigt die Situation vor der Reitschule. Er ist bei der Stadt Bern für die Koordination und die Bewartung der Schützenmatte angestellt. Dass das Reitschul-Publikum auf dem Vorplatz immer weniger präsent ist, sieht Christoph Ris als Faktor, der das Problem verstärkt: «Wenn weniger Menschen auf dem Platz sind, fällt es bestimmt auch mehr auf, aber die gewalttätigen Strukturen können sich auch mehr festigen, weil eine gewisse soziale Kontrolle wegfällt.» Früher seien jeden Samstag um die 3’000 Jugendliche auf dem Vorplatz gewesen, sagt Ris, «das war das grosse Kapital der Reitschule.»

Die Grundbeziehung wird erschwert

Auch die Kirchliche Gassenarbeit Bern nimmt Veränderungen wahr. Die Zunahme der Gewalt erfährt sie jedoch nicht direkt, sagt Nora Hunziker: «Wir kriegen die Konflikte nicht aus erster Hand mit.» Was die Gassenarbeit in ihrem Alltag beobachtet, ist eine Zunahme des Kokain-Konsums und eine allgemeine Zunahme des Drogenkonsums unter jungen Leuten.

Ausserdem habe sich der Umgang verändert: «Früher war es einfacher, mit den Menschen eine Grundbeziehung aufzubauen und so gewisse Veränderungsprozesse anzustossen», meint Nora Hunziker von der Gassenarbeit. Heute sei das anders, sagt die Sozialarbeiterin. Als mögliche Ursache dafür bringt sie eine Zunahme der Repression ins Spiel: «Unserer Wahrnehmung nach werden die Leute schneller verhaftet und verschwinden dann vom Platz.» Dadurch gebe es mehr Wechsel und die Sozialarbeiter*innen können kaum mehr eine Grundbeziehung mit den Menschen auf dem Platz aufbauen.

Auf Nachfrage schreibt die Kantonspolizei Bern, dass Verhaftungen grundsätzlich nicht statistisch erfasst würden. Über die Art der Delikte, die von der Polizei in diesem Raum registriert werden, schreibt die Medienstelle, es handle sich «unter anderem um Gewalt- und Drogendelikte sowie Verstösse gegen das Ausländer- und Immigrationsgesetz.» In den letzten Monaten habe die Kantonspolizei rund fünf Gewaltdelikte pro Monat auf der Schützenmatte registriert.

Livio Martina, Mitbegründer des Vereins Medina, beschreibt die Situation auf der Schützenmatte als ein wiederkehrendes Problem, das tieferliegende gesellschaftliche und politische Ursachen hat: «Momentan hat die Gewalt etwas zugenommen. Aber wenn wir die letzten fünf Jahre betrachten, gab es immer wieder solche Peaks», erklärt Martina. Er glaube nicht, dass es viel schlimmer sei als in anderen Zeiten, in denen es auch «geknallt» habe.

Livio Martina - Medina
Livio Martina, Mitgründer von Medina, arbeitet regelmässig auf der Schützenmatte  (Foto: David Fürst).

Medina betreibt auf der Schützenmatte ein niederschwelliges Gemeinschaftszentrum für die Menschen vor Ort. Das Angebot soll eine Anlaufstelle für Menschen sein, die in irgendeiner Form Unterstützung benötigen.

Bloss eine weitere Welle oder neue Eskalationsstufe?

Medina-Mitbegründer Martina sieht die Wellen von Konflikten nicht als isolierte Ereignisse, sondern als Resultat eines Systems, das marginalisierte Menschen systematisch ausschliesst. Die Menschen hätten keine anderen Orte, wo sie hingehen können. Die Reitschule, wie auch der Container von Medina sind Orte, wo es keinen Konsumzwang gibt und Menschen willkommen sind.

Früher war es einfacher, mit den Menschen eine Grundbeziehung aufzubauen und so gewisse Veränderungsprozesse anzustossen.

Dass die Situation im Grund nur ein weiterer Ausschlag in einem ewigen Auf und Ab der Gewalt auf dem Vorplatz und der Schützenmatte ist, sieht Platzwart Christoph Ris anders: «In letzter Zeit hat sich definitiv etwas verändert», sagt er. So sei etwa die Verknüpfung von Gewalt und Drogendeal stärker geworden. Ausserdem befänden sich jene Leute, die mit Drogen handeln oft in einem prekäreren Zustand als früher: «Oft konsumieren sie selbst stark und sind geprägt von traumatischen Erlebnissen.»

Gewalt und Drogendeal habe es zwar schon früher gegeben. Doch es habe ein stärkeres Gleichgewicht gegeben. «Man kannte die Leute und die Leute kannten sich untereinander, so konnten Konflikte einfacher gelöst werden», führt Ris aus.

Dass in den letzten Wochen vermehrt von Bandenkriegen gesprochen worden ist, findet Livio Martina von Medina hingegen übertrieben: «Die Leute haben sich schon immer in Gruppen organisiert, aber diese wechseln schnell und es ist kaum je eine Person länger als ein halbes Jahr auf dem Platz.» Die Menschen auf dem Platz hätten wegen der rechtlichen Situation oft keine Möglichkeit irgendwo länger zu bleiben und in einen Asylprozess zu gelangen, erklärt Martina, deshalb würden viele von ihnen herumziehen.

Ein strukturelles Problem

Auch wenn in den Gesprächen unterschiedliche Meinungen darüber vorhanden waren, inwiefern die aktuelle Situation ein Novum darstellt, so waren sich doch alle einig, worin die Gründe für die jüngste Verschlechterung der Situation lagen. So sieht Nora Hunziker von der kirchlichen Gassenarbeit als Grund einerseits, dass die Asylstrukturen verschärft wurden und andererseits eine zunehmende Prekarisierung der Menschen auf dem Platz. «Ein Beispiel für die Verschärfung sind etwa die unterirdischen Rückkehrzentren für abgewiesene Asylsuchende.»

Gewalt und Drogendeal habe es zwar schon früher gegeben. Doch es habe ein stärkeres Gelichgewicht gegeben.

Auch für Livio Martina ist das Problem strukturell bedingt.  Die bisherige Strategie der Polizei, den Menschen mit Repression zu begegnen habe keine nachhaltigen Lösungen hervorgebracht: «Leute werden kriminalisiert, zu Recht oder zu Unrecht, und dann weggeschaufelt. Aber es kommen immer neue Leute. Es ist eine Never-Ending-Story.» Repression verschiebe das Problem lediglich, statt es zu lösen. Menschen, die von der Schützenmatte durch Rayonverbote verdrängt würden, verlagern sich in benachbarte Quartiere wie die Lorraine.

Entlastung für die Schützenmatte

Wo also liegen die Anknüpfungspunkte für mögliche Lösungen dieses strukturellen Problems? «Wir brauchen dringend mehr soziale Infrastruktur: genügend Notschlafstellen, insbesondere auch für FINTA-Personen, sowie eine zweite Drogenberatungsstelle ausserhalb der Schützenmatte, um diesen überlasteten Perimeter zu entlasten», meint SP-Stadträtin Barbara Keller dazu.

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Eine Entlastung erachtet auch Nora Hunziker von der Gassenarbeit als notwendig. «Es ist wichtig zu verstehen, dass sich auch diese Leute nicht unbedingt auf dem Platz aufhalten wollen. Ihnen fehlt nur eine Alternative.» Eine solche Alternative könne etwa durch mehr Notschlafstellen geboten werden. «Soziale Arbeit muss endlich als mögliche Ressource erkannt werden, denn mit Repression lässt sich das Problem nicht lösen», ergänzt Hunziker.

 

Für eine gute Lösung muss aber als erstes die Gewaltspirale durchbrochen werden, ist sich Christoph Ris sicher. Danach müsse eine Lösung erarbeitet werden, die aus den drei Pfeilern bauliche Massnahmen, soziale Arbeit und Sicherheit besteht. «Nur wenn wir diese drei Dimensionen zusammen denken, gelingt eine Lösung.»

Die Stadt ist gefordert

Neben den Akteur*innen vor Ort und der Gesellschaft insgesamt sehen die Gesprächspartner*innen insbesondere auch die Stadt in der Pflicht. Alles in allem müsse die Stadt aber vor allem einsehen, dass grosse gesellschaftliche Probleme für die Situation verantwortlich sind, meint etwa Nora Hunziker. Dazu könnte eine gross angelegte Analyse dienen: «Wir können immer nur aus unseren Erfahrungswerten sprechen, breit abgestützte empirische Daten können wir nicht liefern.»

Auch einen Dealer-Corner sieht Hunziker als möglicher Lösungsansatz, auch wenn die Stadt dabei immer wieder auf übergeordnetes Gesetz verweist: «Bei der Anlaufstelle gleich gegenüber ist das ja auch möglich.»

Barbara Keller fordert zusätzlich mehr Präsenz von Sozialarbeitenden und Jugendarbeit vor Ort. «Viele Menschen auf der Schützenmatte sind nur vorübergehend dort, was den Aufbau von Beziehungen und Hilfe erschwert», erklärt sie. Ein langfristiges Ziel müsse es sein, niedrigschwellige Hilfsangebote zu schaffen und den Zugang zu Unterstützung zu erleichtern.

Das Gemeinschaftszentrum Medina betreibt auf der Schützenmatte ein niederschwelliges Gemeinschaftszentrum. (Foto: Livio Martina)

Kurzfristig plädiert sie für einen Dialog zwischen Stadt, Polizei, Sicherheitsdiensten und der Reitschule. Dabei sei es entscheidend, dass die Reitschule klar kommuniziert, welche Unterstützung sie von der Stadt erwartet. Repression sei jedoch der falsche Weg: «Die Polizei muss auf Prävention und Deeskalation setzen; Racial Profiling verschärft die angespannte Lage vor Ort und trägt nicht zur Lösung bei.»

Für Livio Martina braucht es Massnahmen, die den Menschen langfristige Perspektiven eröffnen – wie der Zugang zu Sprachkursen, Beschäftigung und Wohnmöglichkeiten. «Alle Leute, die auf dem Platz landen, sind durch die sozialen Maschen der Stadt gefallen. Wir können nicht weiterkommen, wenn Menschen geächtet, kriminalisiert und marginalisiert werden.»

Ein klarer Appell

Die Situation vor der und um die Reitschule, so viel ist in all den Gesprächen klar geworden, lässt sich nicht mit ein paar kurzfristigen Massnahmen verändern. Dafür ist das soziale Gefüge auf dem Platz zu komplex, die Ursachen für die Probleme der Leute zu vielschichtig. Sie haben ausserdem oft mit gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu tun.

Für Livio Martina braucht es Massnahmen, die den Menschen langfristige Perspektiven eröffnen – wie der Zugang zu Sprachkursen, Beschäftigung und Wohnmöglichkeiten.

Dass sich die Situation in letzter Zeit verschlechtert hat, darin sind sich alle einig. Ob sie vergleichbar ist mit früheren Eskalationen oder doch eine ganz neue Stufe darstellt, ist im Grunde nicht wichtig. Lösungsansätze liegen schon seit längerer Zeit auf dem Tisch und müssten nur umgesetzt und ausprobiert werden.

Der Appell der verschiedenen Akteur*innen auf dem Platz ist klar: Es braucht eine Akzeptanz dafür, dass die Menschen, die sich dort aufhalten, Teil der Gesellschaft sind. Anstatt auf kurzfristige Repression zu setzen, sei ein menschlicher Umgang und langfristige Unterstützung wichtig, um nachhaltige Verbesserungen zu erzielen und so auch weniger Gewalt auf dem Platz zu haben.