Ein neues Ritual

von Christoph Reichenau 30. März 2020

Medienkonferenzen des Bundesrats, stets mit mehreren Mitgliedern der Regierung, finden jetzt zweimal wöchentlich statt. Ständiges Thema: Covid-19. Gängiges Ritual: Allgemeines zum Stand der Pandemie in der Schweiz, Orientierung über neue Beschlüsse, abschliessende Ermahnung zu Disziplin und Solidarität: «Es kommt auf alle an». Dann Eröffnung der Fragerunde durch den Vizekanzler. Journalistinnen und Journalisten stellen Fragen, bis das Bedürfnis versiegt.

Das Setting ist immer dasselbe: Die Mitglieder des Bundesrats sitzen auf der Empore mit Blick zu den Medienleuten. Chefbeamte der einschlägigen Departemente nehmen unten im Saal Platz, sie sehen zum Bundesrat auf, haben die Reihen der Journalistinnen und Journalisten im Rücken, können sie also nicht sehen. Die Ordnung ist klar: Bundesrat und Medienvertreter sitzen sich gegenüber, «auf Augenhöhe» zumindest räumlich. Der Platz der Verwaltungsleute ist unter und zwischen den beiden Gruppen, beengt, mit Blickkontakt nur zu einer Seite, zu ihren Vorgesetzten.

Fragt eine Journalistin, richtet sie sich an eine Bundesrätin oder einen Bundesrat, sieht sie oder ihn an – und der oder die Antwortende wendet der Fragenden das Gesicht zu. Was auffällt: Die Antworten nehmen in der Regel die Frage ernst, ergründen deren Gehalt, sind substantiell und nicht selten länglich, auf sachliche Information ebenso bedacht wie aufs Überzeugen wollen. Angesichts des Themas fallen die bundesrätlichen Ausführungen meist ernst aus, bedacht, meist empathisch; nur selten – etwa bei Alain Berset oder Ueli Maurer – ein ironischer Ton, ein Scherz, eine harmlose Grobheit. 

Es ist wie im Säli einer Wirtschaft auf dem Land bei einer wohltemperierten Abstimmungs- oder Wahlveranstaltung: Man nimmt sich ernst, man will überzeugen, beziehungsweise überzeugt werden. Noch die abwegigsten Fragen stossen auf fast unlimitierte Bereitschaft zu antworten. Hier die Gewählten, da die Wählenden hat man den Eindruck. Vor dem Gewicht der Stimme des demokratischen Fussvolks bzw. seiner Medienvertreter schrumpft der Rangunterschied. Wer zum Pathos neigt, könnte meinen, hier zeige sich direkte Demokratie in Reinkultur: «Was alle angeht, können nur alle lösen» (Dürrenmatt).

Anders die Antworten der Beamtenschaft, die selten direkt angesprochen wird, meistens von ihrer Chefin oder ihrem Chef, «zum Ergänzen» anhebt. Ihre Aussagen wirken – mit Ausnahme derer von Daniel Koch – weniger bezogen auf die Fragenden, hölzerner, blutleerer. Anstatt zu vertiefen, zu detaillieren, zu veranschaulichen bleiben die Ausführungen Statements, allgemeingültig, nicht auf die Adressaten bezogen, in jener scheinbar leidenschaftslosen Sachlichkeit, die man auch eunuchisch nennen könnte. Auf der Strecke bleibt der Bezug zum wirklichen Leben, zu den konkreten Umständen, zu den schwierigen Problemen, von denen dich die Beamtinnen und Beamten so viel mehr zu berichten hätten als ihre Chefinnen und Chefs. So entsteht zuweilen der Eindruck der Abstraktion, der Arroganz, ja der Gelangweiltheit.

Weshalb ist das so? Warum wirken die «Höheren» offen, lernfähig, selbstkritisch und authentisch – anders als die «Unteren»? Vielleicht sind sie vom Rede-und-Antwort-stehen in Kommissionen und im Parlament, von Auftritten in Abstimmungskämpfen oder an der «Arena» einfach geübter. Vielleicht sind sie, die im Leben einige Volkswahlen zu bestehen hatten, in gewisser Weise bescheidener geworden. Während die Beamtinnen und Beamten, durch den Bundesrat gewählt und ohne Bewährung in Versammlungen und Gremien ins Amt gekommen, derlei nicht kennen.

Und die Journalistinnen und Journalisten, die Dritten im Bunde dieses neuen Rituals? Sie sitzen den Bundesrätinnen und Bundesräten gegenüber wie Vertreterinnen und Vertreter der Bevölkerung. Sie stellen Fragen, wichtige und entbehrliche, stellvertretend für uns alle, die selbst nicht zu Wort kommen, aber Medien lesen. Es entwickelt sich ein Dialog, nur im Ansatz zwar, aber immerhin. Der Anflug einer demokratischen Begleitung, einer kritischen Befragung der Landesregierung, die derzeit ungewöhnliche Macht ausüben soll und darf.