Am Anfang stand das Performance-Stück «The Bride and the Goodnight Cinderella» von der brasilianischen Künstlerin Carolina Bianchi. Im Stück geht es um sexualisierte Gewalt und die Verabreichung chemischer Betäubungsmittel für diesen Zweck – «Boa Noite Cinderela», auf Englisch «Good Night Cinderella» ist die brasilianische Bezeichnung für K.O-Tropfen, auch als Vergewaltigungsdroge bekannt.
Bianchi nimmt auf der Bühne selbst K.O.-Tropfen ein und untersucht im Stück zusammen mit Performer*innen des Kollektivs Cara de Cavalo, was ein bewusstloser Körper noch erzählen kann.
Das Publikum begleiten
Anneli Binder, künstlerische Leitung und Co-Leitung der Dampfzentrale, sah das Stück der renommierten Künstlerin zum ersten Mal im Ausland. «Ich war tief bewegt », erzählt sie von ihrem ersten Eindruck, «und wusste, dass ich dieses Stück nach Bern bringen will . Mir war klar, dass diese Performance das Publikum verändern wird.»
Das dramaturgische Team im Foyer der Dampfzentrale. (Foto: David Fürst)
Die Dampfzentrale holt das Stück nun nach Bern – dem Team war es jedoch wichtig, die Performance nicht einfach für sich allein stehen zu lassen. «Wir wollen das Publikum begleiten, verschiedenen Emotionen Platz bieten und den grösseren Kontext thematisieren, in dem sich die Performance bewegt», so Paula Steck, die zusammen mit Fabienne Amlinger, Anneli Binder und Alessandra von Aesch den mehrtägigen Schwerpunkt «Goodnight Cinderella» erarbeitete.
So gibt es zum Beispiel einen Rückzugsraum oder die Möglichkeit, nach dem Stück die Wut an einem alten Auto rauszulassen – mit einem Baseballschläger, ganz in der Tradition von Pipilotti Rist. «Die weibliche Wut, die sonst so oft pathologisiert wird, soll hier auch ihren Platz erhalten», so Steck. Ausserdem hat die Dampfzentrale um das Stück herum verschiedenste begleitende Veranstaltungen organisiert: Eine Diskussionsrunde: «Sicher durch die Nacht?» über neue Möglichkeiten einer Partykultur ohne Rape Culture mit Aurelia Golowin, Sia Kohler, Tamara Funiciello, Agota Lavoyer und Mona-Lisa Kole. Die Journalistin und Schriftstellerin Mithu Sanyal hält einen Vortrag, es gibt einen Wen-Do Workshop exklusiv für FLINTA-Personen und einen Verbundenheitsmarkt, an dem Organisationen und NGOs teilnehmen, die zu sexualisierter Gewalt arbeiten.
Verantwortliche Kommunikation: Paula Steck. (Foto: David Fürst)
Aus dem einen Stück wurde somit ein mehrtägiger«Schwerpunkt gegen geschlechtsspezifische Gewalt und für mehr Verbundenheit». Ein besonderer Gast ist Caroline Darian, die die Eröffnungs-Rede zum fünftägigen Schwerpunkt halten wird. Sie ist die Tochter von Gisèle Pelicot, die während Jahren von ihrem Ehemann betäubt wurde, um sie selbst zu missbrauchen und von anderen Männern vergewaltigen zu lassen. Caroline Darian schrieb ein Buch darüber und setzt sich seither gegen die, wie sie es nennt, «chemische Unterwerfung» ein.
Der Nährboden der Gewalt
«Wir als Gesellschaft müssen verstehen, dass Fälle wie die Verbrechen an Gisèle Pelicot Auswüchse sind, die aus einem gesellschaftlichen Nährboden entstehen», sagt Fabienne Amlinger, «es beginnt bei Catcalling, bei sexistischen Sprüchen, bei Lohnungleichheit. Alles, was eine Abwertung von Frauen und anderen Geschlechtern beinhaltet, stützt schlussendlich ein System, das solche Gewalttaten ermöglicht.»
Was wichtig ist zu verstehen: Nicht alle Männer sind Täter, aber jede Frau ist Opfer dieser Gewalt.
Da es sich bei den Tätern geschlechtsspezifischer Gewalt in erster Linie um cis Männer handelt, standen die Dramaturginnen auch vor der Frage, wie sie mit dem männlichen Publikum umgehen und dieses ansprechen wollen. «Was wichtig ist zu verstehen: Nicht alle Männer sind Täter, aber jede Frau ist Opfer dieser Gewalt», sagt Anneli Binder.
Geschäfts- und Künstlerische Leitung: Anneli Binder. (Foto: David Fürst)
«Wir wollen dazu beitragen», ergänzt Fabienne Amlinger, «dass Männer, die keine Täter sind, sich ihrer Verantwortung in Situationen von geschlechtsspezifischer Gewalt und gegenüber Tätern bewusst werden.» Genau dafür wird es im Rahmen des Schwerpunkts eine Gesprächsrunde nur für cis-Männer geben: «Männlichkeit(en). Eine neue Praxis der Herpathy.» Die Gesprächsrunde wird von Jonas Gillmann geleitet.
Dramaturgische Mitarbeit: Fabienne Amlinger. (Foto: David Fürst)
«Himpathy» ist ein von er US-amerikanischen Psychologin Kate Mann geprägter Begriff, der die brüderliche Komplizenschaft unter Männern bezeichnet, mit der geschlechtsspezifische Gewalt akzeptiert bzw. gestützt wird. «Herpathy» beschreibt im Gegenzug die Empathie und Solidarität mit den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt.
Wer will, kann sich also von Mittwoch bis Sonntag in der Dampfzentrale vertieft mit der Thematik sexualisierter Gewalt auseinandersetzen – und mit der Frage, was das eigentlich mit einem selbst zu tun hat. Die Organisatorinnen erhoffen sich von ihrem Schwerpunkt nicht nur Betroffenheit, sondern auch neuen Mut, erklärt Paula Steck: «Wir wünschen uns, dass wir und die Besucher*innen danach widerständig, sensibilisiert, mit ganz viel Verbundenheit, Stärke und Wissen über geschlechtsspezifische Gewalt und Unterstützungsangebote wieder in unseren Alltag zurückkehren werden.»
Foto: David Fürst
Das Veranstaltungen finden noch bis am Samstag statt. (Foto: David Fürst)