Wenn die Mitglieder des CSD-Kollektivs (kurz für Christopher Street Day, siehe Infobox) sprechen, wirken die Worte sorgfältig gewählt und doch ist ihre Kritik zuweilen spitz und pointiert. Beim Treffen in der Boulderhalle Muubeeri sind erst wenige Tage seit der CSD-Kundgebung am 31. Mai vergangen. So überrascht es nicht, dass sich die Kollektivmitglieder noch immer intensiv mit Themen wie dem Zusammenhang zwischen queeren Rechten und Kapitalismus und der Rolle von Veranstaltungen wie dem CSD innerhalb des queeren Aktivismus auseinandersetzen.
Juni ist Pride Month. Auch in Bern wird in diesem Monat die Vielfalt der queeren Community gefeiert und gegen die weiterhin bestehende Diskriminierung protestiert. Journal B nimmt das zum Anlass, um in einer kleinen Portrait-Serie einige queere Angebote und Kollektive in der Bundesstadt vorzustellen.
Beim Gespräch dabei sind Alex (keine/alle Pronomen), Yorick (keine Pronomen), Aurel (alle Pronomen), Tim (keine Pronomen) und Sophie (sie/ihr/keine Pronomen). Während des Treffens sinnieren sie über die Unterschiede zwischen queeren Räumen und Angeboten in Zürich und Bern, über Hoffnung trotz der aktuellen politischen Grosswetterlage und darüber, weshalb eine Pride immer politisch ist. Und eben, sie üben Kritik: am Kapitalismus, am Selbstverständnis linker Subkulturen und kommerziellen Prideveranstaltungen.
Das CSD-Kollektiv in Bern existiert seit rund drei Jahren. Der Name verweist auf den Christopher Street Day. Dieser Name ist vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitet für Pride-Veranstaltungen. Der Name erinnert an den Stonewall-Aufstand an der Christopher Street in New York City im Juni 1969.
In Bern veranstaltet das CSD-Kollektiv jeweils eine Pride-Demonstration, die explizit politisch und antikapitalistisch sein soll. Damit will das Kollektiv darauf aufmerksam machen, dass Rechte für queere Menschen unter dem kapitalistischen System nicht vollends verwirklicht werden können.
Die erste CSD-Demonstration hat im Jahr 2023 stattgefunden. Nach einer, unter anderem ressourcenbedingten, Pause im letzten Jahr fand am 31. Mai dieses Jahres erneut eine Demonstration statt, zu der rund 1’200 Menschen erschienen sind.
Dass dabei die Bern Pride vom Kollektiv mehrmals angesprochen wird, kommt nicht von ungefähr. Das CSD-Kollektiv ist 2022 aus der Bern Pride heraus entstanden. «Wir waren damals drei FLINTAs, die andere Vorstellungen davon hatten, was eine Pride sein soll», erzählt Sophie.
Die drei beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und eine Prideveranstaltung nach ihren Vorstellungen zu organisieren. Explizit politisch und antikapitalistisch.

Die Sache mit den kommerziellen Prides
Dass Firmen teilweise Prideveranstaltungen sponsern, sehen die Mitglieder des CSD-Kollektivs kritisch. Firmen, die sonst nichts für queere Menschen tun, können sich so ein queerfreundliches Image verschaffen, sind die Kollektivmitglieder der Meinung. Dieses Konzept wird «queerer Kapitalismus» oder «Regenbogenkapitalismus» genannt. Firmen und Grosskonzerne eignen sich den Kampf um queere Rechte an, um ihr öffentliches Bild aufzubessern und die Kund*innen-Basis zu vergrössern.
So bilden sie etwa gleichgeschlechtliche Paare auf Werbeplakaten ab, verwenden berühmte queere Personen als Markenbotschafter*innen, sponsern Prideveranstaltungen oder geben Pride-Sondereditionen ihrer Produkte heraus, oft ohne sich anderweitig für die Rechte queerer Menschen einzusetzen. «Unsere Rechte werden an den Höchstbietenden verkauft und der darf sich dann mit uns schmücken», fasst Sophie zusammen.

Problematisch sei daran, dass die politischen Inhalte so in den Hintergrund rücken. Ausserdem seien diese Firmen schnell wieder weg, wenn der Einsatz für queere Rechte nicht mehr profitabel sei. «Das liess sich dieses Jahr zum ersten Mal beobachten», sagt Yorick. Nach der Wahl Donald Trumps in den USA haben einige Konzerne wie Meta, Ford oder Starbucks ihre Antidiskriminierungsprogramme zurückgefahren oder ganz gestoppt.
Unsere Rechte werden an den Höchstbietenden verkauft und der darf sich dann mit uns schmücken
Auch Schweizer Konzerne haben Schritte in diese Richtung unternommen. So verzichtet die UBS etwa auf den Diversitätsabschnitt in ihrem Geschäftsbericht. Dass es für Firmen nicht mehr ganz so lukrativ ist, sich mit dem Kampf für queere Rechte zu schmücken, kriegt auch die grösste Pride-Veranstaltung der Schweiz zu spüren: Wie die Zürich Pride jüngst bekannt gab, sind ihr in diesem Jahr bereits zwei langjährige Partner abgesprungen.
Für das CSD-Kollektiv sind solche Vorfälle ein klares Zeichen dafür, dass am Ende nur Community-Arbeit die eigenen Rechte langfristig sichern kann. Bei aller Kritik an der Bern Pride ist es ihnen dennoch wichtig zu betonen, dass solche Grossveranstaltungen viel mehr Aufmerksamkeit generieren können. Und für nicht geoutete queere Menschen sei es eine wichtige Veranstaltung, weil sie sich offen als queer zeigen können und zugleich in der Anonymität der Masse untergehen.
«Ohnehin gibt es eine Menge Dinge, die ich lieber kritisiere als kommerzielle Prides – sie sind nicht das grösste Problem», sagt Tim.
Queere Rechte und Antikapitalismus
Ein grösseres Problem sieht das Kollektiv etwa im Kapitalismus. Der CSD Bern sieht sich als eine explizit antikapitalistische Bewegung. «Wir setzen uns für ein Welt ohne Ausbeutung ein und die ist im Kapitalismus nicht möglich», erklärt Tim. Somit sei ihr Kampf automatisch ein antikapitalistischer.
Ich spreche oft von Solidarität, statt von Antikapitalismus – das verstehen die Leute
Dass der Kampf für queere Rechte und der Kampf gegen den Kapitalismus zusammenhängen, zeige auch der Blick auf die negativen Auswirkungen des Kapitalismus, erklärt Sophie: «Sehr häufig sind es queere Menschen, die davon betroffen sind.» So würden trans Personen beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt besonders stark benachteiligt und durch nicht gedeckte Gesundheitskosten zusätzlich belastet.
Was in linken Kreisen als selbstverständlich gilt, kann andernorts abschreckend wirken. Der Begriff Antikapitalismus ist ein aufgeladener Begriff. «Ich spreche deshalb oft von Solidarität, statt von Antikapitalismus – das verstehen die Leute», sagt Tim. Yorick findet es dennoch wichtig, das Problem beim Namen zu nennen und auf die Zusammenhänge hinzuweisen. «Wenn man es den Leuten erklärt, sind sie dann oft einverstanden.» Und schliesslich müssten sich nicht alle davon angesprochen fühlen, findet Yorick.

Zwischen Öffentlichkeit und Schutzraum
Wenn die Kollektivmitglieder über das queere Leben und die verschiedenen Angebote, Spaces und Veranstaltungen in Bern sprechen, benutzen sie das Bild von kleinen Inseln, die Schutz und Raum bieten, um einfach sich selbst zu sein. Eine solche Insel stellt auch das CSD-Kollektiv selbst dar. Das verdeutlicht eine Anekdote von Aurel. Danach gefragt, was ihnen Hoffnung für den weiteren Kampf gibt, erzählt Aurel: «Als ich das erste Mal an eine Kollektivsitzung ging und es zu Beginn eine Pronomenrunde gab, da realisierte ich zum ersten Mal: Es gibt noch andere, wir existieren!»
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Es ist vermutlich das, was den CSD charakterisiert und den Unterschied zu kommerziellen Prides ausmacht: Er versucht nicht mehr zu sein als eine Insel. Ein Ort, der Schutz bietet und einen innehalten lässt. Der CSD will nicht nur laut und bunt sein, sondern queeren Menschen einen Raum bieten, selbstbestimmt zu sein. Und er will Raum bieten für fundamentale Kritik.
Dabei bewegt er sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Schutzraum. Der CSD will queere Lebensrealitäten sichtbar machen und Forderungen auf die Strasse tragen. Doch diese Sichtbarkeit macht angreifbar. So bleibt es ein schmaler Grat, öffentlich für die Rechte der Community einzustehen und zugleich dieser Community einen Schutzraum zu bieten. Doch wenn man den Kollektivmitgliedern zuhört, scheint das bisher zu funktionieren.
Die Geschichte zeigt, dass es immer dann besonders wichtig war, sichtbar zu sein, wenn unsere Rechte stark unter Druck standen.
Welche Wirkung Schutzräume haben können, erfahren sie auch ausserhalb des CSD-Kollektivs. Yorick etwa engagiert sich beim Regenbogentreff, einem queeren Kinder- und Jugendtreff. «Wenn ich Siebenjährige sehe, die bereits mit einer Selbstverständlichkeit sagen können, dass sie trans sind und welche Pronomen sie verwenden, dann erfüllt mich das mit Hoffnung», sagt Yorick. Der Regenbogentreff biete diesen Kindern einmal im Monat die Möglichkeit, so zu sein, wie sie sind.
Dass die Sichtbarkeit auch dann wichtig ist, wenn für genau diese Sichtbarkeit angefeindet wird, erschliesst sich für Sophie aus einer historischen Perspektive: «Die Geschichte zeigt, dass es immer dann besonders wichtig war, sichtbar zu sein, wenn unsere Rechte stark unter Druck standen.»
