Mein Tagebuch hat mich gerettet

von Basrie Sakiri-Murati 19. Juli 2024

Kolumne Was gab dir die Kraft, deinen Weg zu gehen und die Freude nicht zu verlieren?, wird unsere Kolumnistin oft gefragt. Ihre Antwort: mein Tagebuch.

Nach meiner Flucht aus dem Kosovo war ich zehn Jahre lang von meinen Liebsten abgeschnitten, musste ich hier in der Schweiz allein ohne meine Familie ums Überleben kämpfen. Das war manchmal fast so schlimm wie vor serbischen Panzern fliehen zu müssen.

Ich war nur ein halber Mensch, denn ich war von einem Tag auf den anderen aus meiner Welt gerissen worden. Hier in der Schweiz hatte mich niemand mit Rosen oder Schokolade empfangen. Meine Lebensfreude hatte mich verlassen, der Alltag war ein einziger Kampf.

Mit meiner ganzen Kraft versuchte ich vorwärtszukommen und fühlte mich dabei oft ausgelaugt und nutzlos – kurz: fehl am Platz. Heute frage ich mich selbst, wie ich es geschafft habe, diesem elenden Strudel zu entkommen.

Hier in der Schweiz hatte mich niemand mit Rosen oder Schokolade empfangen.

Aus heutiger Sicht hätte ich Unterstützung gebraucht. Aber damals sprach niemand davon. Drei lange Monate war ich auf der Flucht gewesen, Tag und Nacht verfolgt vom serbischen Regime. Ich war traumatisiert, niemand fragte mich nach meinem Wohlbefinden, ich musste einfach funktionieren. Weil ich von Natur aus offen und kommunikativ bin, suchte und fand ich mit der Zeit Kontakt zu lieben Menschen. Durch sie fing ich wieder an, zu atmen und zu leben.

Selbst die Kleider, die ich trug, gehörten mir nicht.

«Was mich nicht umbringt, macht mich stark!» Diesen Satz hörte ich oft, damals, als ich anfing, Deutsch zu lernen. Seine Bedeutung verstand ich sofort. Ich hatte Hals über Kopf fliehen müssen, und selbst die Kleider, die ich trug, gehörten mir nicht. Ich hatte alles verloren.

Ich hatte nur noch meinen Körper und mein Gedächtnis. Alles andere lag Hunderte von Kilometern weit zurück – nicht nur für eine Woche oder einen Monat, sondern auf ungewisse Zeit oder gar für immer. Ich war jung und hatte nicht nur meine Vergangenheit verloren, sondern auch die Gegenwart und meine Zukunft.

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In einer so schwierigen Situation überlegt man nicht lange, man kämpft einfach ums Überleben. Ich fühlte mich oft wie eine Pflanze in der Wüste oder eine Schnecke auf dem Trockenen. Aber ich versuchte, nach vorne zu schauen. Meine Zuversicht und meine Hoffnung waren klein und oftmals sah es aussichtslos aus.

Aber die Liebe zu meiner Familie in der Heimat und der Wille meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, hielten mich am Leben und schenkten mir Kraft. Damals war mir mein Tagebuch die einzige Stütze, und meine Erinnerungen an mein Zuhause waren mein Trost. Ich sage heute: diese zwei Faktoren haben mich gerettet.