Jodeln mitten im Berner Nordquartier

von David Fürst 20. Oktober 2025

Brauchtum Den Jodlerklub Lorraine-Breitenrain gibt es seit bald 120 Jahren. Die zwei Chormitglieder Renate Flükiger und Kurt Christen erzählen, wie ihr Club entstand und wie das Jodeln bis in die Reitschule kam.

Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Irrtum zu handeln. Wie passt ein Jodelklub in so trendige, linke Quartiere wie den Breitenrain und die Lorraine? Gehört der Jodel nicht aufs Land?

Doch der Jodelklub Breitenrain-Lorraine feiert kommendes Jahr nicht nur sein 120-jähriges Bestehen – sondern findet auch immer wieder neue Mitglieder. Auf Besuch bei einem Chor, der urbaner ist, als sein Name vermuten lässt.

Ein Donnerstagabend im Mai. Im Foyer des Kirchgemeindehauses Johannes im Breitenrainquartier hallt Jodelgesang durch die Gänge. Die Sänger*innen vom Jodlerklub Lorraine-Breitenrain wärmen ihre Stimmänder auf: Später werden sie an verschiedenen Orten im Berner Nordquartier (bernerHOFgesang) jodeln.

Der Jodelclub Breitenrain-Lorraine beim Berner Hofgesang. (Foto: David Fürst)
Auch beim Reitgenössischen Schwingfest hatte der Jodelclub einen Auftritt. (Foto: David Fürst)

«Ich bin seit 43 Jahren dabei», erzählt Kurt Christen. «Ich hatte nie das Bedürfnis wegzugehen», so der ehemalige Angestellte im Bundeshaus West. Auch für Renate Flükiger, Pflegefachfrau und Dozentin für Pflege an der Berner Fachhochschule, ist klar: «Es bereichert mein Leben sehr.»

Bei Kurt begann alles mit einem Inserat im Stadtanzeiger 1982: «Sänger gesucht». Der Chor probte im damaligen Restaurant Waldhorn. Nach der ersten Probe stand für Kurt fest, dass er bleiben möchte: «Es hat mir super gefallen.»

Jodelnde Turner

Die Geschichte des Chors reicht weit zurück, gegründet wurde der Jodelklub 1906. «Er ist der älteste Jodlerklub der Stadt Bern und auch schweizweit einer der ältesten», sagt Renate. Ins Leben gerufen wurde der Jodelklub damals von Turnern, die es auch abseits der Turnhallen und Sportplätzen gerne gesellig hatten, berichtet die Pflegefachfrau. Laut der Überlieferung konnte einer der Turner, Robert Blätter so mutmasslich sein Name, besonders gut singen. Er motivierte seine Kollegen und die anfangs neun Männer gründeten den Jodelklub.

Es gibt Jodeltraditionen in verschiedenen Kulturen.

Dass Jodeln in der Schweiz so stark mit der nationalen Identität verbunden ist, hat auch mit der politischen Geschichte zu tun. Mit der Bundesverfassung von 1848 begann die junge Eidgenossenschaft nationale Bräuche zu fördern, um so den Zusammenhalt zu stärken.

Der Historiker Jakob Tanner beschreibt Folklore in seinem Buch Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert als entscheidend für die «Erfindung» einer modernen Schweiz: Ende des 19. Jahrhunderts entstanden neue Rituale wie der 1. Mai oder der 1. August, die das politische und kulturelle Leben prägten. In diesem Kontext ist auch die Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbands 1910 zu verstehen.

Jodeln ist keineswegs nur eine schweizerische Eigenheit. «Es gibt Jodeltraditionen in verschiedenen Kulturen», erklärt Renate. «Als Ruf über Distanzen, um beispielsweise das Vieh heimzurufen oder um sich von Tal zu Tal zu verständigen». Mit der Zeit wurde das Jodeln in der Schweiz dann zu einem nationalen Brauchtum mit jeweils lokalen Einflüssen der jeweiligen Region.

Folklore in der Reitschule

«Jodeln gilt als ländlich, doch auch in der Stadt funktioniert es gut», sagt Kurt. Der Chor habe nun auch jüngere Mitglieder, was wichtig sei: «Die brauchen wir, sonst sterben wir aus.» Manch einen Spruch habe es gegeben, dass er als Städter jodle, «aber das ignoriert man». Für ihn gehört die Probe am Donnerstagabend zum festen Bestandteil der Woche. «Ich mache das, solange ich kann.»

Renate, aufgewachsen im Emmental, hat nie erlebt, dass jemand abwertend reagiert. Im Gegenteil! Viele seien überrascht, dass es in Bern einmal sogar über zwanzig Jodelklubs gab. Sie beobachtet, dass Volkskultur wieder populär wird. Nicht nur die wachsende Popularität des Schwingens sei bemerkenswert, sondern auch in der Popmusik tauche Volksmusik wieder vermehrt auf.

Ein gutes Beispiel, wieso Jodeln und urbane Räume durchaus zusammenpassen, zeigte der Auftritt 2024 des Chors am «Reitgenössischen Schwingfest» in der Reitschule Bern (Journal B berichtete). Ein Ort, den viele ganz bestimmt nicht primär mit Jodeln in Verbindung bringen.

Stadtratspräsident Tom Berger jodelte bei seinem Amtsantritt selbst mit. (Foto: David Fürst)

«Wir haben dort polarisiert», sagt Renate. Manche der Sänger*innen seien zuerst skeptisch gewesen, in diesem «Haus mit zweifelhaftem Ruf» aufzutreten. Umso erstaunlicher sei das Echo vor Ort gewesen. Ein herzlicher Empfang, viel Applaus! «Das war ein Anlass, der Brücken gebaut hat», ist Renate überzeugt.

Kurt nickt: «Keine Buhrufe, keine Widerstände, das war schön». An diesem Event hat auch der amtierende Stadtratspräsident Tom Berger mitgeschwungen, und das nicht zum ersten Mal. Solche Events zeigen, dass Jodeln oder Schwingen nicht zwingend politisch einem Lager zugeordnet werden müssen. Berger ist übrigens ein «Fän» des Clubs, wie er selbst sagt. Er hat den Jodelklub sogar zu seinem Amtsantritt im Progr eingeladen, wo er auch selbst mitgejodelt hat.