Der Dichter, der in Bern Puschkin-Verse auf die Strasse malte

von Fredi Lerch 22. Januar 2013

Der Schriftsteller Jörg Steiner ist tot. Zu Recht rühmt man jetzt seine Bücher: Sie sind literarisch immer zu gut gewesen, um gross Auflage zu machen. Nicht vergessen soll man daneben: Steiner war ein politischer Kopf, der nicht anders konnte, als trotzdem anständig zu blieben.

Im September 1998 habe ich Jörg Steiner (* 1930) in der «Brasserie Rotonde» in Biel zum informellen Gespräch getroffen. Es ging um seine Beziehung zur Berner Altstadtszene der sechziger Jahre. Er hat erzählt, warum für ihn damals Basel und Zürich wichtiger gewesen seien als Bern; Jazz und moderne Architektur wichtiger als Berns beschauliche Lesezirkel. «Literatur war für mich damals retro», sagte er.

Trotzdem beginnt er früh zu schreiben und wird als brillanter Stilist bald mit Preisen ausgezeichnet – 1962 von der Stadt Bern mit einem Preis für den Roman «Strafarbeit» zum Beispiel und bereits 1976 mit dem Grossen Literaturpreis des Kantons. Zu Recht wird nun, da er gestorben ist, an seinen Texten «die kunstvolle Komposition der Vielstimmigkeit» gerühmt («Bund») und er selber als einer der wichtigsten Köpfe «einer zweiten Moderne der Schweiz nach Frisch und Dürrenmatt» bezeichnet (NZZ).

«Wir, die Leute, die zornig sind über den unmenschlichen Sarkasmus so vieler prominenter Politiker.»

Jörg Steiner, Schriftsteller

Daneben darf man aber nicht vergessen, dass Steiner auch als politisch hellwacher Zeitgenosse gewesen ist: Am 4. Juli 1966 treffen sich 300 antimilitaristische Demonstrantinnen in Ins, um mit einem Marsch nach Witzwil für die Einführung eines Zivildiensts zu demonstrieren. Der Zug ins Grosse Moos wird verhindert, die Platzdemonstration vor dem Hotel «Bahnhof» in Ins nach Kräften behindert, randalierende Gegendemonstranten fordern, die «Vaganten» und «Verbrecher» aufzuhängen. In diesem Klima hält Jörg Steiner eine Ansprache gegen den «Mythos Überschweiz» und beginnt mit den Worten: «Meine Sache ist es, als einer unter vielen, als einer unter euch, als ein Beliebiger und Austauschbarer zu unserer Sache zu stehen. Unsere Sache ist die Schweiz. Wir stehen heute für sie ein, wir, die unbrauchbaren Festredner, die Linkischen, die Leute, die stottern, wo sie Parolen ausgeben müssten, die Leute ohne Rezept und Slogan, die Leute, die von Missbehagen über unsere selbstzufriedene parlamentarische Sattheit erfüllt sind und zornig über den unmenschlichen Sarkasmus so vieler prominenter Politiker.» So war Jörg Steiner: ein politischer Kopf, der das Ethos des Handelns für das Allgemeine gegen die Realpolitik in Schutz nahm.

Als 1968 in der Tschechoslowakei ein sozialistischer Frühling blüht, fährt er mit den Schriftsteller-Kollegen Kurt Marti und Walter Gross hin: «Sozialismus mit menschlichem Antlitz – das war auch für mich eine schöne Vorstellung», hat er in der «Rotonde» gesagt. Als im gleichen Jahr, am 21. August, Panzer des Warschauer Pakts den «Prager Frühling» niederwalzen, klemmt Steiner als Lehrer die Schule, fährt nach Bern und malt vor der sowjetischen Botschaft Puschkin-Verse auf die Strasse.

«Mich beschäftigt heute das restaurative Klima in der Schweiz, die zunehmende Ängstlichkeit und Intoleranz.»

Jörg Steiner, Schriftsteller

Als 1970 bekannt wird, dass der Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins, Maurice Zermatten, beim staatlichen «Zivilverteidigungsbüchlein» – einer üblen Hetzschrift gegen kritische Intellektuelle – mitgearbeitet hat, gehört Steiner zu jenen, die den Verein mit einem kollektiven Austritt sprengen und so die Gründung der kritischen AutorInnen-«Gruppe Olten» ermöglichen. Als er 1973 für die «Freien Bieler Bürger» ins Bieler Stadtparlament gewählt wird, nimmt er die Wahl an und lässt sich – als die «TAT» ihn 1977 als «schreibenden Stadtrat» porträtiert – mit den Worten zitieren: «Mich beschäftigt heute das restaurative Klima in der Schweiz, die zunehmende Ängstlichkeit und Intoleranz.» Wenn ein Schriftsteller zum Beispiel von der Unterdrückung der freien Meinungsäusserung höre, könne er nicht gleichgültig bleiben: «Denn Literatur selbst ist immer auch politisch.»

Um realpolitisch Grosses zu erreichen, war Jörg Steiner freilich ein zu skeptischer Mensch, einer, der der planenden Rationalität des politischen Handelns überhaupt misstraute. In der «Rotonde» hat er damals gemahnt: «Von dem, was ich dir sage, kannst du vermutlich nichts brauchen – ausser die Vorsicht im Umgang mit Schubladen und Darstellungen, die eine grosse Bewusstheit suggerieren, die vorausgehe und nach der man handle.» Als ich damals wegen seiner Aktion vor der sowjetischen Botschaft meine Bewunderung für seinen Mut geäussert habe, ist er ein bisschen ungeduldig geworden: «Das war keine Frage von Mut, lieber Fredi, sondern es ist so, dass es dich verjagt und dann gehst du einfach dorthin, wo du sein musst.»

Wenn jetzt die Steiner-Kennerin Beatrice von Matt in der NZZ schreibt: «Eine Botschaft hat dieser Dichter nie verkündet», dann müsste man unbedingt beifügen: Das hatte er auch gar nicht nötig: Der Dichter Steiner ist die Botschaft.