«Zurzeit sehen wir eine neue Qualität der antifeministischen Politik»

von Janine Schneider 30. Mai 2025

Feminismus Die Berner Politikwissenschaftlerin Leandra Bias untersuchte in ihrer Dissertation feministische Bewegungen in Serbien und Russland. Deren Spielraum wurde in den vergangenen Jahren durch eine staatlich verfolgte Anti-Gender-Politik massiv eingeschränkt. Ein Gespräch.

Journal B: Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit Fragen der Autokratie, der Demokratisierung und des Feminismus in osteuropäischen Ländern. Wann hat Ihr Interesse für Osteuropa begonnen?

Leandra Bias: Nach meinem Bachelor wollte ich mich regional spezialisieren. Ich habe gemerkt, dass wir fast nichts über die osteuropäischen Länder wissen, obwohl sie unsere nächsten geographischen Nachbarn sind. Als ich angefangen habe, mich auf Osteuropa zu spezialisieren, haben mir auch alle gesagt, das sei passé – Osteuropa interessiere doch niemanden mehr. Einige Monate später wurde die Krim annektiert.

Wurde Osteuropa in der Forschung bis dahin vernachlässigt?

Jein. Im Allgemeinen hätte man mehr zu Osteuropa forschen müssen. Aber auch innerhalb der Osteuropastudien, die ihre Wurzeln in der Zeit des Kalten Krieges haben, hat man nach dessen Ende komplett verpasst, sich zu dekolonialisieren und sich von diesem Fokus auf Moskau zu lösen. Imperiales Gedankengut wurde unhinterfragt verstärkt. So musste man beispielsweise zu meiner Zeit ganz klar als erste Sprache Russisch lernen, obwohl es ja auch ganz viele andere osteuropäische Sprachen gäbe. Ich fand das auch normal.

In Ihrem Buch «Under Authoritarian Eyes: Feminist Solidarity and Resistance in Russia and Serbia», das Ende Jahr erscheint, beschäftigen Sie sich damit, wie Feministinnen 2013 bis 2017 in Serbien und Russland unter autoritären Bedingungen agierten. Weshalb haben Sie sich für diese beiden Länder entschieden?

Ich wollte zwei Länder behandeln, die ein zumindest teilweise autoritäres Setting aufweisen und sich gleichzeitig ausserhalb der EU befinden – nicht wie Ungarn beispielsweise. Beide Länder hatten früher in den jeweiligen kommunistischen Gebilden eine Vormachtstellung und sind bis heute von einem imperialen Verständnis geprägt. Ursprünglich war meine Idee zu erforschen, ob es in diesen Ländern Widerstand gegen einen westlichen, dominierenden Feminismus gibt. Aber am Schluss habe ich diesen Widerstand ja überhaupt nicht angetroffen.

Alle haben mir gesagt, Osteuropa interessiere doch niemanden mehr. Einige Monate später wurde die Krim annektiert.

Ihre Fragestellung hat sich im Laufe der Recherche komplett verändert. Was ist passiert?

Ich ging davon aus, dass sich russische und serbische Feministinnen gegen die Vormachtstellung des westlichen Feminismus wehren und sich daran stören. Mir ist wichtig zu betonen, dass diese Kritik am westlichen Feminismus nicht generell verworfen werden muss. Aber manchmal muss man vorsichtig mit den eigenen Annahmen sein. Als ich ins Feld ging und Interviews mit Feministinnen führte, habe ich gemerkt: Es ist nicht nur so, dass sie diese Kritik nicht teilten, sondern sie wurden sogar richtiggehend wütend auf meine Fragen. Ich habe das sehr lange nicht verstanden, sondern mich als die gute, sensibilisierte, westliche Feministin gesehen. Aber die serbischen und russischen Feministinnen sagten: Mit deiner Argumentation und Kritik bedienst du eins zu eins die autoritären Erzählungen unserer Herrscher. Du behauptest, es gibt ein Machtgefälle zwischen West und Ost, dass der Feminismus nicht unsere Errungenschaft ist, dass er uns aufgezwungen wird. Sie haben gefragt: Bist du dir bewusst, was diese Argumente zum aktuellen politischen Zeitpunkt eigentlich bedeuten?

Beide Länder waren bis zum Zusammenbruch des Ostblocks sozialistisch. Der Sozialismus setzte sich, zumindest vordergründig, ebenfalls für Gleichstellung ein. Sehen sich die serbischen und russischen Feministinnen denn in dieser Tradition?

In Serbien haben sich die Feministinnen durchaus auf diese Tradition berufen. Während der jugoslawischen Zeit gab es sowohl unabhängige feministische Bewegungen wie auch staatliche Bestrebungen zur Gleichberechtigung – beides ist auch in den jüngeren Generationen bis heute sehr präsent. In Russland wandten sich die Feministinnen in den 1990er-Jahren jedoch komplett vom Sozialismus ab. Das ist einer der grossen Unterschiede zwischen den beiden Ländern. In letzter Zeit gibt es aber wieder vermehrt auch von Russinnen Rückbezüge auf die sowjetische Tradition des Samisdat…

So wurde in der Sowjetunion die Verbreitung eigenhändig gedruckter, verbotener Literatur genannt.

… und auf sowjetische Feministinnen der Dissidentenzeit. Diese haben unter den aktuellen autoritären Begebenheiten wieder an Relevanz gewonnen.

Die einzigen NGOs, die zurzeit in Russland noch öffentlich operieren, sind solche, die im Bereich häusliche Gewalt arbeiten.

Welche sonstigen Unterschiede gibt es noch?

Die meisten serbischen Feministinnen weigerten sich von Beginn weg, mit der Regierung von Alexandar Vučić [dem serbischen Präsidenten, Anm. d. Red.] zusammenzuarbeiten. Sie wollten nicht zu Handlangerinnen des Regimes werden. In Russland wurde dagegen noch sehr lange mit der Regierung zusammengearbeitet – es war eben auch die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen.

Haben Feministinnen in diesen Ländern einen anderen Bezug zum Staat als zum Beispiel Feministinnen in der Schweiz?

Historisch betrachtet, sah die feministische Bewegung in ganz Jugoslawien den Staat als Adressat. Eigentlich sehr ähnlich wie heute in der Schweiz: Man ging auf die Strasse, um Forderungen zu stellen, man sah den Staat in der Verantwortung. Erst mit den Kriegen in den 90er-Jahren begann ein neues Kapitel. Serbische Feministinnen weigerten sich, mit dem serbischen Staat zu kooperieren oder sich überhaupt mit ihm zu identifizieren. Diese Haltung herrscht bis heute vor. Auch im Wissen, dass der Staat immer wieder Verbrechen in ihrem Namen begeht. In Russland verlief die Entwicklung sehr anders, denn Feministinnen wurden unter dem kommunistischen Regime immer verfolgt. Erst in den 90er-Jahren entstanden nichtstaatliche, feministische Organisationen und Projekte, auch unter dem Schutz von Politikern wie Gorbatschow. Sie dachten, das sei die Zäsur, nun beginne die Demokratisierung, und sie würden von nun an wieder mit dem Staat kooperieren können. Heute hat sich ihre Haltung natürlich wieder ins Gegenteil verkehrt.

Vollzieht sich in Russland nun eine ähnliche Entwicklung wie in den 90er-Jahren in Serbien?

In Russland gibt es heute natürlich überhaupt keinen Spielraum mehr. Die einzigen NGOs, die noch öffentlich operieren – und das hat sich schon 2019 abgezeichnet – sind solche, die im Bereich häusliche Gewalt arbeiten. Weil sie die Opfer schützen wollen, gehen sie viele Kompromisse ein und versuchen, irgendwie an öffentliche Gelder zu kommen. Sie würden sich aber auch nie als feministisch oder ihre Arbeit als aktivistisch bezeichnen.

(Foto: David Fürst)

Wie stark war die feministische Bewegung in Russland denn vor dem Krieg?

Das ist ja die Ironie – eigentlich ist mit dem feministischen Antikriegswiderstand seit dem Krieg die stärkste feministische Bewegung entstanden, die Russland je gesehen hat. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass sie nicht in der auf der Strasse sichtbar ist. Stattdessen hat sich eine neue Form von Aktivismus herausgebildet: Man kann im Internet präsent sein, Texte schreiben, Dinge benennen, aber man kann sich nicht im öffentlichen Raum erkennbar machen, weil die Repression so stark ist.

Ist das eine Bewegung, die vor allem aus dem Exil kommt?

Das ist aus forschungsethischen Gründen schwierig zu beantworten. Ich kann die Personen ja schlecht fragen, wo sie sich befinden. Die letzten Zahlen, die ich habe, stammen von 2023, da gab es insgesamt 69 Ableger in der Diaspora. Und die Bewegung behauptet auch, dass sie Ableger in allen Regionen Russlands hat. Theoretisch ist sie also auch in Russland selbst aktiv.

Das ist ja die Ironie – mit dem feministischen Antikriegswiderstand ist seit dem Krieg die stärkste feministische Bewegung entstanden, die Russland je gesehen hat.

Von den Aktivistinnen zurück zum Staat. Wie weit zurück kann man die Anti-Gender-Politik Serbiens und Russlands verfolgen?

Bei Russland kann man den Beginn auf 2012 datieren: In diesem Jahr findet der Prozess gegen das Performance-Kollektiv Pussy Riot statt und das Gesetz zu den ausländischen Agenten tritt in Kraft. 2013 kommt dann das sogenannte «Anti-Homosexuellen-Propaganda-Gesetz». Damit wurde die Verbreitung von Materialien unter Strafe gestellt, die «nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen» gegenüber Minderjährigen darstellen. Von diesem Zeitpunkt an verändert sich auch die russische diplomatische Sprache in der UNO. In Serbien ist es sehr ähnlich, 2014 wird mit der Wahl von Vučić die Anti-Gender-Politik zum ersten Mal wichtig. Das heisst nicht, dass Vučićs und Putins Anti-Gender-Diskurs genau gleich sind, aber bei beiden ist es ein zentraler Aspekt ihrer Politik.

Was können wir uns konkret unter dieser Anti-Gender-Politik vorstellen?

Zum einen stellen Entscheidungsträger*innen sprachlich Gleichstellung nicht mehr als Menschenrecht, sondern als Bedrohung, ja gar Verrohung der Gesellschaft dar. Zum anderen machen sie dann Errungenschaften in der Gleichstellung rückgängig, zum Beispiel durch Angriffe auf die körperliche Selbstbestimmung von Frauen wie im Falle von Schwangerschaftsabbrüchen, und wehren sich gegen eine breite Auslegung der Geschlechtergerechtigkeit, beispielsweise indem sie gegen Rechte für Homosexuelle oder Transpersonen sind.

Inwiefern gibt es bei der Anti-Gender-Politik ebenfalls historische Vorläufer?

Konservativen Widerstand gab es natürlich schon früher. Aber zurzeit sehen wir wirklich eine neue Qualität der Antifeministischen Politik. Und zwar nicht nur in Serbien und Russland. Seit 2005 sehen wir in verschiedenen Ländern weltweit, dass Antifeminismus vermehrt als Strategie angewandt wird. Es ist ein Unterschied, ob man einfach gegen gewisse progressive Entwicklungen in der Gleichstellung ist, oder ob man den Kampf gegen Gleichstellung als Abkürzung benutzt, um andere illiberale Entwicklungen vorwärtszubringen. Schlussendlich geht es dieser transnationalen Bewegung darum, die ganze Idee der Menschenrechte in Frage zu stellen.

Man kann also nicht sagen, dass Antifeminismus spezifisch mit einer Art «patriarchalen Geschichte» oder «Kultur» Serbiens und Russland zusammenhängt?

Die Forschung hat sich anfangs auf Osteuropa konzentriert, hat aber schnell gemerkt, dass es sich nicht um ein spezifisch osteuropäisches Phänomen handelt, sondern dass Antifeminismus auf der ganzen Welt von jenen vorangetrieben wird, die autoritär denken und diesen gesellschaftlichen und politischen Umbruch anstreben. Diese Regierungen und Politiker lernen auch voneinander. Sie sind von Ungleichheit überzeugt und zeigen dies heute auch offen. Das ist ein Umbruch. In der Vergangenheit gab es viele Länder, die Verbrechen im Namen der Gleichstellung begangen haben. Aber heute behauptet man nicht einmal mehr, dass es sich dabei um ein angestrebtes Ziel handelt.

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Wie stark wird die Anti-Gender-Strategie auch von der jeweiligen Bevölkerung mitgetragen?

Dazu habe ich nicht geforscht. Aber andere Forschungen zeigen, dass durchaus ein Nährboden nötig ist, damit solche Themen überhaupt auf Anklang stossen. Aber auch das ist nicht etwas spezifisch Russisches oder Serbisches. In den 90er-Jahren gab es in Russland wirklich einen liberalen Aufbruch. Danach musste man der Gesellschaft erst wieder eintrichtern, dass das alles falsch und pervers sei. Und da sehe ich auch Parallelen zu uns in Westeuropa. Der sogenannte Kulturkampf wird mehr zu einem Thema gemacht, als dass er wirklich eines ist.

Es geht bei diesen Angriffen nicht nur um Gleichstellung, sondern um einen autoritären Umbau.

Empfinden Sie diese Entwicklungen als bedrohlich?

Es ist schon sehr beängstigend. Gerade heute Morgen zum Beispiel habe ich gelesen, dass in Russland Doppelzimmer in Zukunft nur noch an verheiratete Paare gegeben werden sollen. Das ist ein Detail, aber es steht für etwas viel Grösseres. In Russland sind wir mittlerweile am Punkt, an dem Frauen ihre körperliche Selbstbestimmung abgesprochen wird.

Was bedeutet diese Entwicklung für feministische Bewegungen in der Schweiz?

Einerseits braucht es mehr feministische Räume. Und gleichzeitig müssen wir verstehen, dass es bei diesen Angriffen nicht nur um Gleichstellung geht, sondern um einen autoritären Umbau. Das heisst, wir müssen breite demokratische Allianzen bilden, auch mit Menschen, mit deren Meinung wir vielleicht nicht in allen Punkten einverstanden sind. Manchmal hat es etwas sehr Unversöhnliches, wie wir miteinander umgehen. Es ist wichtig, zusammen zu streiten. Und trotzdem muss man sich bewusst sein: Allein geht es nicht. Beides muss nebeneinander koexistieren.

Sie sind selbst nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch politisch aktiv, zum Beispiel für die Aktion Vierviertel. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen politischem Aktivismus und Wissenschaft?  

Es gibt zwei Antworten darauf. Das eine ist, anzuerkennen und dazu zu stehen, dass die feministische politwissenschaftliche Disziplin diese Trennung noch nie gemacht hat. Sie hat immer schon Themen und auch Forschungsmethoden von der Strasse in die Wissenschaft transportiert und umgekehrt, ganz nach dem Satz: Das persönliche ist politisch. Das macht der wissenschaftlichen Integrität – unser höchstes Gut – keinen Abbruch solange man transparent ist bezüglich des eigenen Vorgehens, der eigenen Voreingenommenheit, der Datenerhebung und -analyse.  Das kann man sehr wohl, auch wenn man sich mit einer Sache identifiziert. Personen, die zu Demokratie forschen, fragt man ja auch nicht, ob sie positiv zur Demokratie stehen. Gleichzeitig versuche ich, nach aussen hin klar zu signalisieren, in welcher Rolle ich spreche. In diesem Interview spreche ich mit einer Expertise, die ich mir wissenschaftlich angeeignet habe. Das mache ich nicht, wenn ich für eine Initiative sammle, für die ich mich einfach als Bürgerin engagiere.