«Die wirtschaftliche Hilfe deckt der bedürftigen Person den Grundbedarf für den Lebensunterhalt und ermöglicht ihr die angemessene Teilnahme am sozialen Leben», heisst es in Art. 30 des geltenden Sozialhilfegesetzes. Wie hoch dieser Grundbedarf ist, wird in regelmässigen Abständen wissenschaftlich analysiert: Es wird untersucht, wieviel die ärmsten 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung für Essen, Bekleidung, Körperpflege, Transport und Bildung zwingend ausgeben müssen, um ein einigermassen würdiges Leben führen zu können. Aufgrund dieser Daten wird dann je nach Haushaltsgrösse ein Frankenbetrag für diesen Grundbedarf festgelegt.
Die gleiche Umschreibung der «wirtschaftlichen Hilfe» steht auch im Entwurf des Regierungsrates für ein neues Sozialhilfegesetz. Allerdings wird sie ergänzt durch einen zweiten Absatz mit folgendem Wortlaut:
«Für ausländische Staatsangehörige und Staatenlose
a) wird sie tiefer bemessen, wenn das Bundesrecht dies vorschreibt,
b) kann sie tiefer bemessen werden, wenn das Bundesrecht dies zulässt.»
Wie bitte? Leben ausländische Staatsangehörige in der Schweiz billiger als Schweizerinnen und Schweizer? Sind die Kosten für Essen, Kleider, Tram, Internet usw. von der Staatsangehörigkeit abhängig? Sind Bildung und Kultur für Ausländerinnen und Ausländer billiger als für Leute mit Schweizerpass?
Vorbild Asylrecht
Die Idee an sich ist nicht neu: Im Jahre 2013 wurde in das Asylgesetz eine Bestimmung aufgenommen, wonach Asylsuchende weniger Sozialhilfe erhalten sollten als die «einheimische Bevölkerung». Begründet wurde das damit, dass bei diesen Personen ja noch nicht feststehe, ob sie in der Schweiz bleiben können, und dass daher keine Kosten für die soziale und wirtschaftliche Integration anfallen. Insofern sei ihr Grundbedarf für den Lebensunterhalt eben tiefer als bei andern Empfängerinnen und Empfängern von Sozialhilfe.
Im Jahr 2018 wurde diese Sonderregelung zusätzlich auf vorläufig aufgenommene Personen ausgedehnt. Auch damals wurde zur Begründung angeführt, dass diese Personen ja nur vorübergehend in der Schweiz seien und dass daher keine Kosten für die Integration anfallen würden.
Spätestens heute ist klar, dass die Behauptung zumindest für diese zweite Personengruppe in der Regel nicht zutrifft: Mehr als 90 Prozent der vorläufig Aufgenommenen verbleiben auf Dauer in der Schweiz. Eine soziale und wirtschaftliche Integration ist daher sehr wohl notwendig, und es liegt im öffentlichen Interesse, dass sie möglichst früh erfolgt. Das Berner Verwaltungsgericht kam denn auch in einem neueren Leiturteil zum Schluss, dass sich die wirtschaftliche und soziale Situation vorläufig Aufgenommener zumindest nach einem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz nicht von derjenigen der übrigen Bevölkerung unterscheide.
Appell an xenophobe Strömungen
Dass diese Sonderregelung laut Gesetzesentwurf trotzdem auch auf alle andern Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons ausgedehnt werden soll, die keinen Schweizer Pass haben, kann nur noch als absurd bezeichnet werden. Sie sind ja sowohl der Sache nach als auch rechtlich Teil der «einheimischen Bevölkerung». Die statistischen Berechnungen, welche zur Festsetzung der Höhe des Grundbedarfs führen, beziehen auch die Lebenshaltungskosten dieser ausländischen Wohnbevölkerung ein, soweit sie zu den ärmsten 10 Prozent gehören. Es müsste daher auch aus wissenschaftlicher Perspektive klar sein, dass bei einer Reduktion des Grundbedarfs der Sozialhilfe das finanzielle Existenzminimum, das gerade noch ein Leben in Würde ermöglicht, nicht mehr gewährleistet ist.
Bei Ausländerinnen und Ausländern, die unter das Freizügigkeitsabkommen mit der EU fallen, wäre eine solche Kürzung schon rechtlich nicht zulässig. Das weiss offenbar auch der Berner Regierungsrat, weshalb er die Kürzungen laut Gesetzesentwurf nur anwenden will, «wenn das Bundesrecht dies zulässt». Sie entbehren aber auch bei allen Angehörigen von Drittstaaten, die dauerhaft in der Schweiz leben und in wirtschaftliche Not geraten, einer sachlichen Begründung. Sie stellen daher eine willkürliche und damit unzulässige Diskriminierung aufgrund der Nationalität dar.
Wie heisst es doch so schön in der Präambel zur Bundesverfassung: Das Schweizervolk und die Kantone sind sich gewiss, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Dem Berner Regierungsrat ist diese Gewissheit wohl abhanden gekommen. Stattdessen richtet er sich an xenophoben Strömungen aus.
Ein Gesetzesentwurf des Misstrauens
Neben diesem nationalistischen Missgriff zeichnet sich der Gesetzesentwurf des Regierungsrates vor allem auch durch das Misstrauen aus, das er gegenüber den lokalen und regionalen Sozialdiensten zum Ausdruck bringt. Die Sozialhilfe soll auf kantonaler Ebene zentralisiert und vereinheitlicht werden. Dazu soll den Sozialdiensten in Form eines «Revisorats» eine zentrale Aufsichtsbehörde übergestülpt werden, und sie werden insbesondere auch gezwungen, ein vom Kanton vorgegebenes – zur Zeit aber noch gar nicht existierendes – einheitliches «Fallführungssystem» anzuwenden. Die Sozialdienste der Gemeinden und Regionen werden zu Vollzugsorganen der kantonalen Sozialpolitik degradiert.
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Auch das vom Regierungsrat weiterhin vorgeschlagene «Selbstbehalt-Modell» ist von diesem Misstrauen geprägt. Danach sollen die Gemeinden über ihren ohnehin schon vorgeschriebenen Kostenanteil von 50 Prozent hinaus noch einen «Selbstbehalt» von fünf bis 20 Prozent bezahlen. Dieser würde dann nach einem komplizierten Schlüssel an diejenigen Gemeinden rückvergütet, welche aus Sicht des Kantons ihre Sozialhilfe am effizientesten führen. Was diese Neuerung ausser massivem administrativem Aufwand bringen soll, ist unklar.
Eine Vielzahl der Gemeinden und insbesondere die grösseren Städte des Kantons haben sich in der Vernehmlassung gegen die Stossrichtung des Gesetzes gewehrt und die Vorschläge als wenig hilfreich und als unerwünschten Eingriff in die Gemeindeautonomie kritisiert. Angesichts dieses breiten Widerstands bleibt zu hoffen, dass die Vorlage die parlamentarische Debatte nicht in der jetzigen Form überleben wird.