Wie viel Gewalt vertragen die Grundrechte?

von Noah Pilloud 16. April 2025

Kundgebungen Eigentlich wollte der Stadtrat verhindern, dass die Stadt Kosten für Polizeieinsätze bei Demonstrationen weiterverrechnen kann. Im Fall der Coronaproteste ist das nun doch geschehen. Die Begründung des Gemeinderats sorgt für Kritik.

Insgesamt 4’900 Franken hat die Stadt Bern Demonstrationsteilnehmer*innen der Coronaproteste im Jahr 2021 in Rechnung gestellt. Das geht aus einem kürzlich veröffentlichten Begründungsbericht des Gemeinderats hervor. Zur Kasse gebeten werden 18 Demonstrationsteilnehmer*innen. Die einzelnen Beträge bewegen sich zwischen 200 und 1’000 Franken. Dabei handelt es sich nicht um Bussgelder oder Schadensersatzforderungen. Die angeforderten Beträge sind ein Teil der Kosten, die jeweils für den Polizeieinsatz an den Demonstrationen anfielen.

Möglich macht diese Kostenüberwälzung das Polizeigesetz des Kantons Bern. Im Februar 2019 sagte die Stimmbevölkerung des Kantons Ja zur Totalrevision des Polizeigesetzes und damit auch zur Kostenüberwälzung. Diese in der Totalrevision neu eingeführte Regelung sieht vor, dass Gemeinden die Kosten für Polizeieinsätze weiterverrechnen können, wenn es im Rahmen einer Veranstaltung zu Gewalt kommt. Diese Kostenüberwälzung kann die Veranstalter*innen treffen und die Teilnehmenden, wenn sie selbst Gewalt ausüben oder sich nach polizeilicher Aufforderung nicht vom Geschehen entfernen.

Bereits bevor das neue Polizeigesetz überhaupt in Kraft war, beschäftigte die Kostenüberwälzung die Stadtpolitik.

Das Verb «können» ist hier der springende Punkt, denn den Gemeinden ist es selbst überlassen, ob sie die Einsatzkosten weiterverrechnen wollen oder nicht. In der Berner Stadtpolitik geniesst diese Möglichkeit erwartungsgemäss wenig Rückhalt. Und doch hat der Gemeinderat nun in 18 Fällen von ebenjener Möglichkeit Gebrauch gemacht – obschon der Stadtrat das mit einer Regelung im Kundgebungsreglement verhindern wollte.

Der Stadtrat schiebt den Riegel

Bereits bevor das neue Polizeigesetz überhaupt in Kraft war, beschäftigte die Kostenüberwälzung die Stadtpolitik. So befassten sich Motionen und Anfragen damals bereits mit der Frage, wie die Stadt Bern mit dieser Möglichkeit umgehen soll. Gleichzeitig beschäftigte sich das Bundesgericht mit der Angelegenheit, ausgelöst durch eine Beschwerde verschiedener Vereine und Parteien. Das Bundesgericht hatte sich zuvor bereits mit einem gleichlautenden Gesetzesartikel aus dem Kanton Luzern befasst.

Die Beschwerde aus dem Kanton Bern richtete sich gegen mehrere Artikel des Polizeigesetzes, in einigen Punkten hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut. Jene Punkte, die sich gegen die Kostenüberwälzung richteten, wies das Gericht hingegen ab.

Möglich macht die Kostenüberwälzung auf Demo-Teilnehmer*innen das Polizeigesetz des Kantons Bern. Hier die Klima-Demo vom letzten Jahr. (Archivbild, Foto: David Fürst)

Im Jahr 2021 – als das revidierte Polizeigesetz in Kraft und das Bundesgerichtsurteil gesprochen war – wollte der Stadtrat bei der Weiterverrechnung von Einsatzkosten den Riegel schieben. Im Kundgebungsreglement der Stadt verankerte das Parlament den Artikel 5a. Dieser besagt, dass die Stadt bei grundrechtlich geschützten Kundgebungen auf eine Weiterverrechnung der Kosten verzichten soll.

Und doch wurde im November 2022 bekannt, dass die Berner Stadtregierung im Zusammenhang mit den Coronaprotesten zum ersten Mal von der Möglichkeit gebrauch macht. Im eingangs erwähnten Begründungsbericht legt der Gemeinderat seine Beweggründe dafür genauer dar. Der Artikel 5a des Kundgebungsreglements betreffe lediglich grundrechtlich geschützte Kundgebungen, schreibt der Gemeinderat. «Der Gemeinderat möchte an dieser Stelle jedoch darauf hinweisen, dass selbst ursprünglich grundrechtsgeschützte Kundgebungen ihren diesbezüglichen Schutz verlieren können, wenn die anlässlich einer Kundgebung verübten Gewalttätigkeiten ein gewisses Ausmass überschreiten», heisst es im Bericht weiter. Der Gemeinderat stützt sich dabei auf das Bundesgerichtsurteil im Fall der Luzerner Beschwerde.

Kritik an der Auslegung

Bei der Alternativen Linken Bern (AL) löst dieser Begründungsbericht Ärger aus. «Ob durch den Verlauf einer Kundgebung das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung, im Sinne des Bundesgerichts, aufgehoben werden kann, ist schwierig festzustellen und ist daher potentiell willkürlich», sagt AL-Stadtrat Raffael Joggi auf Anfrage. Allgemein sei die AL der Ansicht, dass die Überwälzung von Kosten kein geeignetes Mittel ist, um gegen Ausschreitungen an Demonstrationen vorzugehen.

Die AL setzte sich denn auch von Beginn weg gegen die Kostenüberwälzung ein, schrieb Anfragen und Motionen und unterstützte den Artikel 5a im Kundgebungsreglement. Auch an der Klage vor Bundesgericht gegen einzelne Artikel im neuen Polizeigesetz beteiligte sich die Partei.

Der Grundrechtsschutz darf nicht durch das Verhalten Einzelner pauschal entfallen.

Ebenso beteiligte sich der Verein Demokratische Jurist*innen Bern (djb). Auch sie sehen den Begründungsbericht des Gemeinderats kritisch, denn die Demokratischen Jurist*innen lehnen die Kostenüberwälzungen grundsätzlich ab. «Die Überwälzung von Polizeikosten auf Veranstaltende gefährdet die Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und wirkt abschreckend – sie hat im demokratischen Rechtsstaat keinen Platz», sagt Co-Geschäftsleiterin Marlen Stöckli. Angemessene polizeiliche Präsenz bei öffentlichen Versammlungen sei ein Bestandteil des demokratischen Rechtsstaats und dürfe nicht zur individuellen Kostentragung führen, findet Stöckli.

Auch die djb sehen bei der Frage, ob eine Kundgebung grundrechtlich geschützt ist, Auslegungs- und Ermessensprobleme. Deshalb fordern die Fachpersonen eine restriktive Auslegung des Artikels 5a im Kundgebungsreglement: «Der Grundrechtsschutz darf nicht durch das Verhalten Einzelner pauschal entfallen.»

Möglicher Chilling-Effekt

Die Befürchtung vor einer Abschreckenden Wirkung der Kostenüberwälzung war bereits in der Debatte rund um die Abstimmung zum Polizeigesetz ein wichtiges Argument. Weil zu wenig Rechtssicherheit besteht, könnten Veranstalter*innen darauf verzichten, eine Kundgebung durchzuführen oder Einzelpersonen von einer Teilnahme absehen, so die Überlegung dahinter. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem «Chilling-Effekt». Der Effekt also, dass sich Menschen aus Angst vor einer bestimmten Rechtsfolge selbst in ihren Grundrechten einschränken.

Die Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie (SUE) schreibt auf Anfrage, dass sie nicht von einem «Chilling-Effekt» ausgehe. Um das zu verhindern, sei der Artikel 5a im städtischen Kundgebungsreglement da. Der Kritik an der Auslegung der Stadtregierung entgegnet die SUE, dass der Grundrechtsschutz einer Kundgebung nicht leichtfertig entfalle. Das sei nur dann der Fall, «wenn sich anlässlich einer anfänglich friedlichen Versammlung Gewalt in einem Ausmass entwickelt, dass die meinungsbildende Komponente völlig in den Hintergrund tritt», so die SUE. Die Direktion weist ausserdem darauf hin, dass die bisher belangten Personen vor der Kostenüberwälzung bereits wegen Gewalt und Drohung gegen Behörde und Beamte oder wegen Landfriedensbruchs verurteilt worden waren.

Soll die Stadt in Ausnahmefällen von der Möglichkeit der Kostenüberwälzung Gebrauch machen können?

Ab wann genau das Ausmass an Gewalt gegeben ist, das den Grundrechtsschutz einer Kundgebung entfallen lässt, will die SUE auf Nachfrage nicht konkretisieren. Diese Frage könne nur im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Lageentwicklung und Ereignisse beantwortet werden, erläutert die Direktion. Im Begründungsbericht bekennt sich der Gemeinderat dazu, die Kostenüberwälzung zurückhaltend anwenden zu wollen. «Die djb begrüssen diese kundgebungsfreundliche Antwort des Gemeinderats» schreibt Marlen Stöckli von den Demokratischen Jursit*innen Bern, «dieser gilt es in der Praxis jedoch nachzuleben und die djb werden deren Umsetzung kritisch überprüfen.»

Streit um die richtige Formulierung

Es bleibt die Frage, wie es möglich ist, dass der Gemeinderat von der Kostenüberwälzung überhaupt Gebrauch machen kann, wo dies der Stadtrat mit dem Artikel 5a im Kundgebungsreglement verhindern wollte. Der Pfeffer, in dem der sprichwörtliche Hase liegt, ist in diesem Fall die konkrete Ausformulierung des Artikels. Dem Wortlaut nach gilt der Verzicht auf die Weiterverrechnung nämlich für «grundrechtlich geschützten Kundgebungen». Unter Rückgriff auf das Bundesgerichtsurteil macht es diese Formulierung der Sicherheitsdirektion möglich, eine Kundgebung als nicht mehr grundrechtlich geschützt zu betrachten und so Kosten weiter zu verrechnen.

Durch diese Formulierung sei es der Stadt jederzeit möglich, Veranstalter*innen und jeglichen Teilnehmer*innen einer Kundgebung Kosten zu überwälzen, kritisiert Raffael Joggi. Somit sei die Kostenüberwälzung nicht abschliessend genug geregelt, findet der AL-Stadtrat.

Die Formulierung brachte die Kommission für Finanzen, Sicherheit und Umwelt (FSU) nach dem Bundesgerichtsurteil ein. Ein Vorschlag aus der Fraktion des Grünen Bündnis und der JA lautete hingegen: «Bei Kundgebungen mit ideellem, politischem oder nicht kommerziellem Charakter ist auf eine Weiterverrechnung der Kosten gemäss Art. 54 – 57 PolG zu verzichten.» Die AL unterstützte damals diesen Vorschlag und ist auch heute überzeugt davon, dass diese Formulierung mehr Klarheit schaffen würde.

Soll die Stadt in Ausnahmefällen von der Möglichkeit der Kostenüberwälzung Gebrauch machen können? (Symbolbild, Foto: Noah Pilloud)

Die FSU argumentierte damals hingegen, durch den Entscheid des Bundesgerichts hätte eine Beschwerde gegen den Artikel bei dieser Formulierung gute Erfolgschancen, was zu einer Streichung des Artikels führen könnte. Diese Argumentation erschliesse sich der AL nicht, sagt Raffael Joggi: «Das Bundesgericht hat ja keine Pflicht zur Kostenüberwälzung festgestellt. Warum sollte die Stadt Bern also nicht von dem im Polizeigesetz verbrieften Recht gebraucht machen, allgemein keine*Kostenüberwälzung vorzunehmen?»

Die Demokratischen Jurist*innen halten ebenso wenig vom Argument der FSU. Dass die offene Formulierung zur Aufhebung des gesamten Artikels führen könnte, sei juristisch nicht überzeugend: «Das Bundesgericht definiert den Grundrechtsschutz anhand des tatsächlichen Verlaufs und Charakters einer Kundgebung – es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass eine pauschale Regelung zugunsten ideeller oder politischer Veranstaltungen unzulässig wäre.» Die Demokratischen Jurist*innen sehen daher die Formulierung «Kundgebungen mit ideellem, politischem oder nicht kommerziellem Charakter» als die geeignetere.

Wird jetzt nachjustiert?

Aus juristischer Sicht weist die vom Stadtrat gewählte Formulierung also gewisse Lücken auf. Zumindest für Teile des Stadtrats liegen die Absicht des Artikels und die Auslegung durch den Gemeinderat nun auseinander. Gut möglich, dass der Stadtrat versuchen wird, hier nachträglich anzupassen. Die AL will den Begründungsbericht des Regierungsrats jedenfalls im Stadtrat traktandieren.

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Wollen Teile des Stadtrats die Formulierung im Kundgebungsreglement anpassen, sind hitzige Diskussionen vorprogrammiert. Denn die Debatte rund um die konkrete Ausformulierung laufen auf eine grundsätzliche Frage hinaus: Soll die Stadt in Ausnahmefällen von der Möglichkeit der Kostenüberwälzung Gebrauch machen können? Für die AL dürfte die Antwort hier wohl Nein lauten. Das RGM-Lager wird in dieser Angelegenheit vermutlich gespalten sein.

Für die Rechtssicherheit ist es bedeutend, ob der Stadt die Möglichkeit zur Kostenüberwälzung grundsätzlich offen steht. Ob sie in Zukunft je wieder Kosten weiterverrechnen wird, ist hingegen eine andere Frage. Wie der Gemeinderat im Begründungsbericht schreibt, ist der Verwaltungsaufwand wesentlich höher als die verrechneten Kosten. Die Kostenüberwälzung hat daher mehr symbolischen Charakter.