«Wie stabil kann ein Frieden sein, der verordnet wurde?»

von Janine Schneider 9. Oktober 2025

Geschichte Herrscht, 30 Jahre nach den post-jugoslawischen Kriegen, Frieden im Balkan? Und wie erinnern sich die Menschen hüben wie drüben an diese Zeit. Diesen Fragen gehen Marina Porobić und Tanja Miljanović am (Hi)Story Festival nach.

Paris, der 14. Dezember 1995: Der serbische Präsident Slobodan Milošević, der kroatische Präsident Franjo Tuđman und der Vorsitzende im bosnisch-herzegowinischen Präsidium, Alija Izetbegović, unterzeichnen das Abkommen von Dayton. Mit diesem Friedensabkommen wurde vor bald dreissig Jahren der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet. Doch mit dem Abkommen waren die gesellschaftlichen Spaltungen keineswegs überwunden, bis heute herrscht ein fragiles politisches Gleichgewicht in der Region und immer wieder stellt sich die Frage, wie stabil ein Frieden sein kann, der von aussen verordnet wurde.

Diesen Fragen und Debatten widmet sich das (Hi)Story Festival, das nächste Woche in Bern stattfindet. Unter dem Titel «30 Jahre nach dem Krieg – Frieden?» finden zahlreiche Podiumsdiskussionen und Lesungen mit Autor*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus Südosteuropa und der Diaspora statt. «Ein Festival für eine europäische Erinnerung, die Türen öffnet und Brücken schlägt», so formulieren es die beiden Kuratorinnen Marina Porobić und Tanja Miljanović.

Beide kamen mit ihren Familien als Kind oder Jugendliche in die Schweiz und haben sich heute in Kultur und Politik als wichtige Stimmen etabliert. Porobić, Kunsthistorikerin und Kuratorin, wirkte an verschiedenen Festivals mit und arbeitet aktuell beim Bundesamt für Kultur. Miljanović ist Osteuropahistorikerin, Politikerin und Stadträtin der Grünen Freien Liste Bern. 2024 erschien ihr Buch «Wenn wir wieder Menschen sind», in dem sie über eine Kindheit im Krieg schreibt.

Journal B: Wie erleben Sie die Erinnerung an die postjugoslawischen Kriege der 1990er-Jahre heute in der Schweiz?

Marina Porobić: Als der russische Angriffskrieg in der Ukraine begann, sprachen viele vom ersten Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Das hat mich sehr erstaunt, aber es zeigte, wie sehr die Kriege auf dem Balkan bereits in Vergessenheit geraten sind. Gleichzeitig begegnen mir sehr viele Menschen in der Schweiz, die sagen, sie wüssten eigentlich gar nicht genau, was damals passiert sei.

Und wie erleben Sie die Erinnerung an den Krieg in der Bevölkerung mit einem ex-jugoslawischen Hintergrund?

Tanja Miljanović: Was ich in meinem Umfeld oft erlebe, ist, dass man in die Zukunft blicken möchte. Dass man nicht andauernd auf diese Kriege und die Situation auf dem Balkan behaftet werden möchte. Dadurch geht manchmal aber auch eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung verloren. Gleichzeitig habe ich, nachdem mein Buch herausgekommen ist, so viele Rückmeldungen von jungen Menschen erhalten, deren Eltern geflüchtet waren. Sie meinten, dass sie durch das Buch einen Zugang hätten, um mit ihnen über diese Zeit zu sprechen. Deshalb haben wir auch sehr viele literarische Lesungen am Festival. Literatur ist so viel zugänglicher für eine breite Bevölkerungsschicht als wissenschaftliche Debatten.

Wahrer Frieden bedeutet Prosperität und dass sich Gesellschaften frei entwickeln können.

Porobić: Das ist vielleicht auch eine Generationenfrage. Viele Menschen haben damals einen Bruch erlebt: sei es als Angehörige mit Familien in Kriegsgebieten, sei es als Geflüchtete. Diese Menschen leben nun entlang diesem  Bruch. Um damit umzugehen, haben sie verschiedene Strategien entwickelt.

Der Titel des Festivals ist «30 Jahre nach dem Krieg – Frieden?». Wie sehen Sie das: Herrscht heute Frieden auf dem Balkan?

Miljanović: Je nachdem, was wir unter Frieden verstehen. Wenn Frieden bedeutet, dass die Waffen ruhen, dann herrscht Frieden. Aber ich denke, solange eine Gesellschaft politisch oder institutionell blockiert ist, wie es sicherlich in Bosnien und Herzegowina der Fall ist, ist es schwierig von Frieden zu sprechen. Wahrer Frieden bedeutet auch Prosperität und dass sich Gesellschaften frei entwickeln können.

Marina Porobić ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. (Foto: David Fürst)

Porobić: Die aktuelle Situation in Serbien aber auch in Bosnien und Herzegowina zeigt, wie instabil die Region ist. Mit dem Festival möchten wir eben dieser Frage nachgehen: Wie stabil kann ein Frieden sein, der von aussen verordnet wurde, wie es in Bosnien und Herzegowina mit dem Dayton Friedensvertrag der Fall ist? Welches sind überhaupt Voraussetzungen für den Frieden? Es geht auch um die Fragen der gegenseitigen Erwartungen, die damals im Raum standen. Jene Europas an die ex-jugoslawischen Staaten und jene dieser Staaten an Europa.

Miljanović: Und die Frage ist auch, was man machen kann, damit die Gesellschaft zusammenwächst. Wir glauben, dass Austausch sehr wichtig ist. Es ist wichtig, sich zu treffen, zusammen zu sprechen, über die Geschichte, aber auch, um gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Und dieses Festival ist ein ganz kleines Puzzleteil, mit dem wir zu diesem Diskurs beitragen wollen.

Mit dem Festival wollen Sie auch Stimmen hörbar machen, die ansonsten wenig wahrgenommen werden. Welches sind denn die lauten Stimmen?

Miljanović: Es ist sehr unterschiedlich. Es gibt durchaus Stimmen aus dem Raum, die viele erreichen, wie zum Beispiel ein Saša Stanišić. Mir scheint, dass es aber oft die Stimmen von Männern sind, obwohl manche Autorinnen schon länger publizieren und mehr Preise gewonnen haben. Deshalb haben wir insbesondere Autorinnen eingeladen. Zum anderen berichten Medien oft über die populistischen Politiker, die an der Macht sind. Dabei gibt es so viele gute Grassroot-Initiativen, die das Zusammenleben ermöglichen.

Ich finde es wichtig, dass wir mit dem Festival eine Plattform für Dialog schaffen.

Porobić: Ich denke, die Mechanismen, die bestimmten Gruppen Sichtbarkeit verschaffen, sind immer dieselben. Das gilt nicht nur für Themen, mit denen wir uns am Festival befassen. Wichtig ist, dass wir Themen setzen und neue Perspektiven einbringen. Dafür braucht es Stimmen, die aktuell weniger oder gar nicht Gehör finden.

Miljanović: Ausserdem finden wir Selbstrepräsentation sehr wichtig. Es wurde und wird sehr viel über den Westbalkan berichtet, punktuell und meist negativ. Aber es gibt immer noch erst wenige Stimmen, die für sich selbst sprechen können. Und wenn der Balkan zu Europa gehört – und das tut er – dann muss man diesen Stimmen Gehör verschaffen.

Tanja Miljanović ist Osteuropahistorikerin, Politikerin und Stadträtin für die GFL. (David Fürst)

Auf der Festivalhomepage schreiben Sie, es geht ums Zurückblicken, um auch über die Zukunft nachzudenken. Welche Zukunft wünschen Sie sich für die Region?

Miljanović: Ich wünsche mir persönlich, dass die demokratischen Initiativen, die es gibt, mehr Gehör und Sichtbarkeit kriegen und sich durchsetzen können.

Porobić: Ich weiss nicht, wie relevant meine persönlichen Wünsche sind. Diese haben vielleicht auch etwas Romantisierendes oder Nostalgisches. Aber auf jeden Fall finde ich wichtig, dass wir mit dem Festival eine Plattform für Dialog schaffen. Ich bin froh, dass Tanja und ich uns da sehr einig sind. Es ist wichtig, dass ein Dialog über demokratische Prozesse stattfindet mit vielen verschiedenen Perspektiven und Stimmen. Und so vielleicht auch der Diskurs in eine andere Richtung gelenkt werden kann.

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