Es ist der 11. Oktober, und wieder einmal pilgere ich mit meiner Flagge, meiner Kuffiyye und mit meinen Gedanken bei Gaza und Palästina, nach Bern, zur nächsten Demo. Und es wird nicht die letzte sein.
Wie viele noch? Wie viele, bis sich endlich etwas bewegt?
Hatte ich früher einen Schleier vor Augen, oder gab es seit Jahrzehnten nicht mehr so viele Demonstrationen wie in den letzten zwei Jahren? Und trotzdem: Es tut sich nichts. Oder fast nichts.
Sind wir nicht laut genug? Nicht fordernd genug? Nicht hartnäckig genug?
Vielleicht ist es dieser bekannte Effekt – je mehr Menschen etwas beobachten, desto weniger glauben Einzelne, dass die eigene Stimme zählt. Wie bei einem Unfall, bei dem alle warten, dass jemand den Notruf wählt – und am Ende tut es keine:r.
Lange habe ich gewartet und gehofft, dass es laut wird. In Olten, wo ich wohne.
Doch es passierte nichts.
Warum erwarte ich eigentlich, dass jemand anderes etwas tut, wenn ich es selbst nicht tue?
Also habe ich Ende August, viel zu spät eigentlich, einfach gemacht, statt weiter zu zögern. Olten for Palestine war geboren – spontan und vielleicht etwas chaotisch, aber Hauptsache, es bewegt sich was. Perfektionismus muss wohl warten. Und ja, das klingt jetzt vielleicht nach Werbung, aber hey: Wer einmal einen Anlass organisiert hat, weiss – ohne Werbung kommt keiner. Wir organisieren am Samstag 8. November um 14:00 Uhr ein «Awareness and Solidarity Concert for Palestine» mit Spendensammlung mitten in der Stadt Olten.
Aber jetzt: zurück im Zug nach Bern. Als ich am Bahnhof aussteige und in Richtung des Bahnhofplatzes schreite, ist da ein Gefühl der Angst.
Nicht vor den Demonstrierenden – vor der Polizei.
Die Gänge des Bahnhofs sind gesäumt von Polizist*innen in voller Montur: Helme, Waffen, Hunde. Keine Absperrgitter – lebende Mauern.
Und ich denke: Wenn sie nicht wären, wäre es friedlicher. Diese Präsenz schafft keine Sicherheit, sie ist eine Machtdemonstration. Sie kriminalisiert uns – die, die für Freiheit einstehen.
Ich lege meine Kuffiyye demonstrativ über die Schultern, atme tief ein, lächle und gehe weiter. Kein trotziges Lächeln. Ein friedliches.
Ich bin im Frieden da. Und im Widerstand. Für den Frieden und Menschenrechte und gegen Ungerechtigkeit.
Ich lege meine Kuffiyye demonstrativ über die Schultern, atme tief ein, lächle und gehe weiter. Kein trotziges Lächeln. Ein friedliches.
Ob ich auch zur Demo gehe, fragt mich eine ältere Frau, vielleicht 70 auf der Rolltreppe nach oben Richtung Bahnhofsplatz.
Und warum wir immer noch demonstrieren – «Die haben doch jetzt Frieden gemacht», sagt sie und meinte wahrscheinlich diesen sogenannten «Peace-Plan».
Ich nehme mir einen Moment Zeit, erkläre ihr ruhig die Geschichte Palästinas.
Erzähle zuerst von 1917, der Balfour-Declaration. Dann von der Nakba 1948 und von Safuriyya, dem Dorf meiner Grosseltern, aus dem sie dabei vertrieben wurden.
Vom über hundertjährigem Unrecht am palästinensischen Volk.
Von einem temporären Waffenstillstand, der kein Ende, sondern nur eine Atempause des Leidens bedeutet – wir werden sehen für wie lange. Denn diesem ‘Peace-Plan’ ist nicht zu trauen und vor allen Dingen lässt er das unantastbare Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen völlig aussen vor. Und selbst wenn dieser Waffenstillstand von Israel tatsächlich eingehalten würde – das Ende des Genozids ist nur die erste unserer Forderungen. Wir fordern ein Ende der illegalen Besatzung und der Apartheid.
Sie hört zu, hat Tränen in den Augen, legt ihre Hand auf meinen Arm, drückt fest zu und sagt leise:
«Gute Demonstration. Ich wünsche Ihnen alles Gute.»
Ich wünsche ihr dasselbe. Sie geht ihren Weg, ich gehe meinen – zur Demo. Tief berührt von dieser Begegnung.
Auf an eine friedliche, aber entschlossene Demonstration.
Wir als Palästinenser:innen können uns diese negativen Schlagzeilen gerade nicht leisten.
Im Zug zurück nach Hause zu meinen Kindern lese ich dann die ersten Schlagzeilen:
«Krawalle», «Sachbeschädigung in Millionenhöhe», «gewaltvolle Pro-Palästina-Demonstrant*innen».
Und ich frage mich: War ich auf derselben Demo? Was ist passiert, nachdem ich gegangen bin?
Also schreibe ich Freund:innen, die geblieben sind. Denn ich sah keine Gewalt – nur Menschen, die trotz Wasserwerfern und Gummischrot standhielten. Denn: Nicht bewilligt bedeutet nicht illegal.
Auch im Nachgang haben die demokratischen Jurist*innen sowie Amnesty dazu Stellung genommen. Zivilist*innen waren mitbetroffen, im Wasserwerfer waren Reizstoffe und es wurde auf Bauch- und Kopfhöhe geschrotet. Selbst wenn einige wenige Einzelpersonen sich nicht friedlich verhielten, habe ich andere Erwartungen an die Polizei. Denn diese ist ein staatliches Organ und hat deeskalierend zu handeln.
Die Polizei war vorbereitet auf Eskalation und hat es demonstrativ zur Schau gestellt, noch bevor die Demo begann – und die Mainstream-Medien haben das Ganze dankbar übernommen, um ihr Narrativ weiter zu füttern.
Die Wilden, die Aufmüpfigen, die Linksradikalen, die Islamisten – die, die für den Frieden sind. Wie widersprüchlich und doch so praktisch.
Kein Wort über die über 10’000 Demonstrierenden, die für Gerechtigkeit kamen.
Das SRF hat zuerst von 2‘000 Personen gesprochen, später dann von 5‘000. Das ist ein fataler Fehler! Es wurde also so dargestellt als seien ein viertel der ganzen Demo durchsucht worden und gewaltbereit gewesen. Wie soll ich einem so grossen Medienhaus noch trauen, wenn es nicht mal zählen kann. Oder vielleicht eher «will».
Kein Wort darüber, dass unbewilligt nicht illegal heisst.
Dafür Schlagzeilen, die Machtverhältnisse zementieren – und Täter verkleidet als «Ordnungskräfte» legitimieren.
Ich will nicht verharmlosen, dass Scheiben und Dinge beschädigt wurden.
Natürlich ist Sachbeschädigung nicht ideal – und klar, eine zerbrochene UBS-Scheibe macht mich persönlich nicht traurig. Schliesslich ist diese Bank durch ihre Investitionen in Rüstungs- und Israel-nahe Unternehmen direkt in das Leid in Palästina verstrickt. Ihre Beteiligung an Elbit Systems ist in den letzten zwei Jahren um 875% gestiegen. Zu wissen, dass sie im grossen Stil daran mitverdient, lässt für mich jede Empörung über Glas absurd wirken.
Aber solche Bilder schaden uns: Sie sind Munition für jene, die uns delegitimieren wollen.
Wir als Palästinenser:innen können uns diese negativen Schlagzeilen gerade nicht leisten.
Sie lenken vom eigentlichen Problem ab, übertönen unsere Forderungen, und sie verengen die Debatte auf «Chaos» statt auf Unrecht.
Also sitze ich mit mehr Wut und Verzweiflung im Zug nach Hause, als ich gekommen bin und denke mir:
Was zur Hölle, Bern.
Was zur Hölle, Schweiz.
Was zur Hölle, Welt.
Ich kann das alles nicht mehr.
Aber noch weniger kann sie es – die gleichaltrige, ebenfalls alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, vielleicht auch eine, die gerne singt und tanzt und liest.
Nur, dass sie Hunger hat. Und über ihr Drohnen kreisen und Bomben fallen.
Sie – in Gaza. Im Kongo. Im Sudan.
Ich darf müde sein, ja. Aber aufhören darf ich nicht.
«Ich kann nicht mehr» ist keine Option für meine privilegierte Wenigkeit.
Ich darf müde sein, ja.
Aber aufhören darf ich nicht.
Weil ich in Sicherheit bin – sie nicht.
Weil meine Kinder schlafen – und ihre nicht.
Weil mein Schweigen nichts verändert – aber meine Stimme vielleicht schon. Und dieses «vielleicht» das reicht mir schon.
Free Palestine.
Free all the oppressed.
Wir sind erst wirklich frei, wenn wir alle frei sind.
Die Tatenlosigkeit angesichts der Situation im Nahen Osten ist für Haneen oft kaum zu ertragen. (Illustration: M. S.)
