Die Initiative «Mühleberg vom Netz» verlangt vom Kanton Bern als dem Mehrheitsaktionär der BKW, dass er für die sofortige Abschaltung des AKWs Mühleberg sorgt. Regierungsrat und Grosser Rat lehnen eine solche staatliche Einschränkung der Betriebsdauer ab. Zu Recht?
Jürg Joss:
Dank dieser Initiative findet nun eine Volksabstimmung statt. Das heisst: Der Bürger, die Bürgerin entscheidet, nicht Regierung oder Parlament. Wenn das Stimmvolk des Kantons Bern findet, das Werk in Mühleberg sei im weiteren Betrieb zu gefährlich, dann hat es jetzt die Möglichkeit und das Recht, es stillzulegen. Erst bei der Umsetzung des Schliessungsentscheids wäre dann der Regierungsrat gefragt. Er müsste als erstes im BKW-Verwaltungsrat dafür sorgen, dass der Wille des Mehrheitsaktionärs – also der Bevölkerung des Kantons – durchgesetzt würde. So gesehen kann die Annahme der Initiative den Regierungsrat gegen das Parlament unterstützen, rotgrüne Energiepolitik zu machen.
Das wäre Unterstützung gegen den bürgerlich dominierten Grossen Rat.
Einerseits. Andererseits gibt es im Kanton Bern einfach sehr viele Verflechtungen: Die BKW hat nicht nur über das Stromgeschäft grossen Einfluss, sondern – das sehe ich als Gemeinderat von Bätterkinden – bei sehr vielen Geschäften bis hinunter auf Ebene der Gemeinden. Die BKW besitzt fast in jedem Dorf Boden, etwa das Land mit einem Transformerhäuschen, und auch das Stromnetz gehört häufig ihr: Wollte sich eine Gemeinde von der BKW unabhängig machen, müsste sie ihr das Stromnetz abkaufen.
Verflechtungen gibt es aber auch auf der personellen Ebene. Nehmen wir Dieter Widmer, der jahrelang als Pressesprecher der BKW gearbeitet hat, bevor er bis zu seiner Abwahl letzthin als BDP-Fraktionschef die kantonale Energiepolitik mitbestimmt hat. Oder der freisinnige Adrian Haas, der 2010 stark für das neue BKW-Atomkraftwerk lobbyiert hat…
…ein neues BKW-Atomkraftwerk?
Man hat das schon fast vergessen: Kurz vor der Fukushima-Katastrophe, am 13. Februar 2011, hat das Stimmvolk im Kanton Bern in einer Konsultativabstimmung mit 51,2 Prozent der Stimmen ja gesagt zu einem neuen AKW, das Mühleberg ersetzen würde. In der Folge haben sowohl die Betreiber von Mühleberg als auch jene von Beznau Baugesuche eingereicht. Beide Gesuche sind bis heute nicht zurückgezogen worden.
Nach wie vor ist für die Atomlobby vieles offen: Zwar hat Doris Leuthard – eine ehemaligen Atomlobbyistin – als Bundesrätin nach Fukushima die «Energiewende» verkündigt. Seither meinen vielen Leute, mit diesem Wort sei der Atomausstieg bereits beschlossene Sache. Aber beschlossen ist noch gar nichts: Es gibt bisher keine Lenkungsabgabe auf Solar- oder Windenergie; es gibt für Alternativenergien kein Bauprogramm des Bunds; es gibt dagegen die Absichtserklärung, dass die Laufzeiten der bestehenden AKW auf fünfzig bis sechzig Jahre zu verlängern seien – und weiterhin möglich ist, dass in einigen Jahren ein neues AKW gebaut wird. Insgesamt ist es mein Eindruck, dass der Bevölkerung die demokratische Kontrolle über die Atomkraftwerke immer weiter entgleitet.
Trotz Fukushima?
Soweit ich sehe hat der Staat seither die Forderung der bürgerlichen Kreise erfüllt und der Energieindustrie nicht dreingeredet. Das AKW Mühleberg zum Beispiel ist nach Fukushima von der Aufsichtsbehörde ENSI aufgefordert worden, aufgrund jener Katastrophe Unsicherheiten im eigenen Werk zu eruieren. Das AKW Mühleberg meldete einige Punkte zurück, das ENSI bat daraufhin um Präzisierungen und eine Auflistung der vorgesehenen Gegenmassnahmen.
Wirtschaftsliberale Kreise, die die unternehmerische Freiheit der BKW hochhalten, müssten den freien Strommarkt gegen das AKW Mühleberg verteidigen.
Jürg Joss
Das heisst: Das ENSI hat nicht festgestellt, was in Fukushima in den typenidentischen Reaktoren passiert ist, und danach von Mühleberg entsprechende Nachrüstungen verlangt, sondern höflich angefragt, welche Probleme der Betreiber zu erkennen und zu beheben bereit wäre. Beispiel: 2011 nannte die BKW als Schwachpunkt die unzulängliche Notkühlung des AKW. Trotzdem wurde zuerst das Projekt einer aareunabhängigen Kühlung mit einem Kühlturm und Ende 2013 dann das Projekt mit einer Kühlung aus der Saane fallen gelassen, letzteres mit dem Argument, das Werk werde ja 2019 sowieso stillgelegt, und eine solche Investition würde sich nur bei einem Langzeitbetrieb lohnen. Das ENSI hat das geschluckt und nun um Darlegung gebeten, wie ein zusätzlicher Sicherheitsgewinn ohne Notkühlung möglich wäre. So läuft das. Seit Fukushima ist sogar den Betreibern klar, dass Mühleberg dringend eine vom Aarewasser unabhängige Notkühlung braucht. Jetzt, drei Jahre später, gibt es dazu nicht einmal mehr ein Projekt.
Ein zentrales Argument der Initiativgegner ist die Behauptung, die BKW habe ja die Abschaltung des AKW Mühleberg für 2019 sowieso angekündigt. Darum sei die Initiative unnötig.
Dass die BKW den Termin von 2019 überhaupt ins Spiel gebracht hat, hat ökonomische Gründe: Unterdessen kostet die Kilowattstunde Strom auf dem freien Markt noch rund 4 Rappen, weil es in Deutschland insbesondere in den Sommermonaten ein Überangebot an Alternativenergien gibt. Das macht die Pumpspeicherwerke überflüssig, die mit billigem Nachtstrom aus den AKW Wasser in die Stauseen hinaufpumpen und mit dem Wasser am nächsten Mittag teuren Spitzenstrom produzieren. Unterdessen gibt es um die Mittagszeit genug Strom aus Sonnenenergie. Trotzdem produziert die BKW in Mühleberg weiterhin Strom pro Kilowattstunde für rund 7 Rappen. Das kann die Firma solange tun, wie sie das Absatzmonopol hat und den Preis diktieren kann. Die wirtschaftsliberalen Kreise, die jetzt die unternehmerische Freiheit der BKW hochhalten, müssten eigentlich auch den freien Strommarkt gegen das AKW Mühleberg verteidigen.
Heisst das nicht, dass die BKW letztlich froh sein müsste, Mühleberg so schnell wie möglich vom Netz nehmen zu dürfen?
Dagegen steht, was Suzanne Thoma als CEO der BKW letzten Samstag im «Bund» gesagt hat: «Ein Strom produzierendes Mühleberg liefert im Vergleich zu einem still stehenden Mühleberg einen Beitrag von rund 120 Millionen Franken zum Konzernergebnis ab.» Darum soll der uralte Reaktor am Netz bleiben.
Diese Strategie ist unternehmerisch falsch: Die BKW hat bis heute immer wieder auf riesige zentrale Anlagen gesetzt, auf Gas- und Kohlekraftwerke und eben auch auf ein neues AKW. Gleichzeitig sehe ich, wie die Bauern landauf landab ihre Dächer zu nutzen beginnen und sich mit Strom nicht nur selber versorgen, sondern Strom auch verkaufen. Eigentlich hätte die BKW diese Dächer unbedingt zusammenkaufen und als Dienstleister und Stromproduzent auftreten müssen. Wo ist das Produktionsgeschäft der BKW, wenn Mühleberg abgestellt ist? Die BKW verpasst im Moment die dezentralisierte Energiezukunft.
Wenn Sie heute operativer Chef der BKW wären: Was würden Sie tun?
(überlegt lange) Wohl ein bisschen verzweifeln. – Die BKW hat sich an veraltete Produktionsstrategien gefesselt und es verpasst, die Fesseln rechtzeitig abzuschütteln.
Lesen Sie den zweiten Teil dieses Journal B-Gesprächs ab Sonntag, 26. April.