Wer sich in der Schweiz in einer Notlage befindet, hat ein Recht auf Hilfe. So steht es in der Bundesverfassung. Im Wortlaut besagt der Artikel 12 der Bundesverfassung: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»
Im Fall von Notschlafstellen will der Kanton Bern nun den Zugang einschränken. Nur wer eine gültige Aufenthaltserlaubnis hat, soll in einer Notschlafstelle übernachten können. Das hält der Kanton Bern in seinen neuen Leistungsverträgen fest. Für die Juristin Melanie Studer sind Notschlafstellen eine direkte Umsetzung des Rechts auf Hilfe in einer Notlage.
Pflichten aus dem Migrationsrecht sind sachfremd und und dürfen damit keine Bedingung für Hilfe in Not sein
«Dementsprechend steht diese neue Voraussetzung in den Leistungsverträgen des Kantons etwas unter Verdacht, nicht zwingend mit Artikel 12 der Bundesverfassung vereinbar zu sein», meint die Dozentin am Institut für Sozialarbeit und Recht der Hochschule Luzern. Sie schätzt die Regelung unter anderem deshalb als problematisch ein, weil somit Leistungen, die allen Menschen in Not zustehen an Bedingungen geknüpft werden.

«Pflichten aus dem Migrationsrecht, insbesondere die Pflicht, bei der Papierbeschaffung oder bei der Ausreise mitzuwirken, sind sachfremd und und dürfen damit keine Bedingung für Hilfe in Not sein», sagt Studer. Die Juristin verweist dabei auf Urteile des Bundesgerichts.
Wer hat ein Anrecht auf Schlafplätze?
Dass er mit der Unterstützung von Notschlafstellen das Recht auf Hilfe in Not umsetzt sieht auch der Kanton Bern so. Dennoch sieht er kein Problem mit der neuen Regelung. Diese hat der Kanton eingeführt, nachdem die Stadt Bern darauf hingewiesen hat, dass die Notschlafstellen mehr Plätze benötigen.
«Wenn man uns mitteilt, die Nachfrage sei sehr gross und man benötige zusätzliche Plätze, müssen wir in der logischen Konsequenz schauen, dass diese Plätze vor allem den Personen zugute kommen, die einen Anrecht darauf haben», Sagt Gundekar Giebel, Mediensprecher der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI), «das heisst Personen aus der Schweiz und Personen die sich in der Schweiz aufhalten dürfen.»

Nach dieser Logik haben Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus kein Anrecht auf einen Schlafplatz in einer Notschlafstelle. Für Personen, die die Schweiz verlassen müssen, gebe es spezielle Einrichtungen, meint Giebel dazu. «Dafür ist im Kanton Bern die Sicherheitsdirektion zuständig.»
Giebel spricht die sogenannten Rückkehrzentren für abgewiesene Asylsuchende an. Diese befinden sich meist an abgelegenen Orten. Es kann also vorkommen, dass Hilfsbedürftige spätabends gar keine Möglichkeit mehr haben, zur Unterkunft zu kommen. «Wenn in einem konkreten Fall keine andere Möglichkeit besteht als die Notschlafstelle, dann sehe ich nicht, wieso die Notschlafstellen nicht zuständig sein sollten», meint Juristin Studer.

Für diesen Fall habe der Kanton vorgesorgt, entgegnet Giebel: «Wir haben die Klausel im neuen Leistungsvertrag, dass es in begründeten Einzelfällen zu sehr kurzen Aufenthalten kommen kann in einer Notschlafstelle, somit werden diese Fälle abgedeckt.»
Laut einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz besitzen 61% der Obdachlosen in der Schweiz keinen offiziellen Aufenthaltsstatus. Wer übernachtet mit der neuen Regelung also in den Berner Notschlafstellen? Zahlen dazu gibt es erstmals im nächsten Frühjahr. Dann muss die Stadt Bern dem Kanton Bericht erstatten.
Hier den ganzen Audiobeitrag von RaBe-Info nachören:

Sind die neuen Leistungsverträge mit Artikel 12 der Bundesverfassung vereinbar? (Foto: David Fürst)
