Es war ein erstaunlicher Medienhype: Zeitungen und Radios im In- und Ausland fanden es im Juni 2022 mitteilenswert, dass ein Konzert in der Brasserie Lorraine nach der Halbzeitpause nicht mehr fortgesetzt wurde. Offenbar hatte ein Teil des ohnehin nicht sehr zahlreichen Publikums keine Lust auf eine Fortsetzung des Konzerts gehabt. Band und Veranstalterin hatten sich dem Wunsch, die Veranstaltung zu beenden, gebeugt.
Warum dieses abgebrochene Konzert in einem Quartierlokal so viel Aufmerksamkeit verdiente, war von Anfang an rätselhaft geblieben. Waren politisch exponierte Personen involviert gewesen? War es zu Gewaltausbrüchen gekommen? War irgendwem irgendein relevanter Schaden entstanden? Nichts von alledem. Im Gegenteil: Die Berner Lokalband erlangte schlagartig Berühmtheit und durfte sogar an einem nationalen Anlass der Weltwoche auftreten.
Eigentlich hätte von Anfang an klar sein müssen, dass davon aus juristischer Sicht nicht die Rede sein konnte.
Als journalistische Begründung für den Medienhype musste die Behauptung herhalten, dass es sich um eine Auseinandersetzung um «kulturelle Aneignung» handle. Mag ja sein. Aber warum wurde diese lokale Auseinandersetzung um angebliche kulturelle Aneignung Gegenstand internationaler Berichterstattung? Was unterschied die Veranstaltung in der Brasserie Lorraine von den Tausenden anderer Konzerte, bei denen das Publikum mit dem auf der Bühne Gebotenen nicht zufrieden ist?
Instrumentalisierung der Justiz
Die unverhältnismässige Berichterstattung war wohl weniger der Veranstaltung selbst geschuldet als vielmehr einem journalistischen Herdentrieb: Worüber die anderen Medien berichten, ist auch für das eigene Medium wichtig. Selbst wenn es sich um eine ausgesprochene Lappalie handelt.
Einen grossen Schritt über die blosse Berichterstattung hinaus ging die Junge SVP. Sie hatte mit der Veranstaltung zwar nichts zu tun, und es war wohl auch niemand aus diesen Kreisen am Konzert gewesen. Aber sie hatten in den Medien von dem abgebrochenen Konzert gelesen oder gehört und daraus geschlossen, dass hier wohl eine Diskriminierung vorliegen müsse. Also stellte die Junge SVP Strafanzeige gegen die Brasserie Lorraine wegen eines angeblichen Verstosses gegen die von ihr doch eigentlich so verhasste Rassismus-Strafnorm.
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Eigentlich hätte von Anfang an klar sein müssen, dass davon aus juristischer Sicht nicht die Rede sein konnte. Der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Alexander Niggli, der über genau diese Strafnorm ein mehr als 1‘000 Seiten dickes Buch geschrieben hat, hatte sich schon früh dahingehend geäussert, dass von einem strafbaren Verhalten nicht die Rede sein könne. Es liege gar keine Diskriminierung vor, und es werde auch niemand herabgewürdigt. Rassismus sei aber nur dann strafbar, wenn eine Gruppe gleichzeitig diskriminiert und herabgewürdigt werde. Das sei ganz offensichtlich nicht der Fall gewesen. Alle übrigen Fachleute, die sich zum Thema äusserten, beurteilten die Sache ähnlich.
Zwei Jahre Strafuntersuchung für nichts
Umso erstaunlicher war es, dass die Berner Staatsanwaltschaft sich bemüssigt fühlte, trotzdem eine Untersuchung einzuleiten. Diese umfasste mehrere Einvernahmen und dauerte über zwei Jahre. Wer den angeblich diskriminierenden Abbruch des Konzertes beschlossen hatte, konnte die Staatsanwaltschaft aber trotz aller Bemühungen nicht eruieren. Im Bestreben, den von vorneherein unsinnigen Aufwand trotzdem irgendwie zu rechtfertigen, erliess Staatsanwalt Marco Amstutz schliesslich einen Strafbefehl. Dieser richtete sich – erneute Überraschung – nicht etwa gegen eine bestimmte Person, die etwas Verbotenes getan haben sollte, sondern gegen die Brasserie Lorraine als Ganzes.
Nun trifft es zwar zu, dass im schweizerischen Strafrecht ausnahmsweise auch die Verurteilung eines Kollektivs möglich ist. Dies aber nur, wenn eine strafbare Handlung «wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden» kann, wie es in Art. 102 des Strafgesetzbuches heisst. Die Brasserie Lorraine ist eine im Handelsregister eingetragene Genossenschaft mit Statuten und einwandfreiem Organisationsreglement, und es ist auch klar, wie sich die verschiedenen Gremien personell zusammensetzen. Ebenso sind die Arbeitsabläufe und Einsatzzeiten klar geregelt. Ein Organisationsmangel lag daher allem Anschein nach nicht vor.
Die Richterin hielt fest, dass Aussageverweigerung nicht ein Organisationsmangel sei.
Trotzdem gelang es besagtem Staatsanwalt nicht, die für den Konzertabbruch verantwortlichen Personen zu finden. Das Beizenkollektiv war nicht bereit, Auskunft darüber zu geben, wer von ihnen am betreffenden Abend den Beschluss gefasst hatte, das Konzert nicht mehr fortzusetzen. Angesichts der Unmöglichkeit, einen Sündenbock zu bezeichnen, kam der besagte Staatsanwalt auf die mehr als merkwürdige Idee, die Aussageverweigerung als Mangel der Organisation zu qualifizieren.
Ein verdientes, aber teures Ende
Es konnte nicht erstaunen, dass die Strafrichterin, welche sich schliesslich mit dem Fall befassen musste, dieser Justizposse ein rasches Ende bereitete. Sie erinnerte daran, dass sich Strafbefehle in aller Regel gegen natürliche Personen richten müssten und dass die vom Gesetz vorgesehene Ausnahme offensichtlich nicht vorliege. Sie hielt auch zu Recht fest, dass Aussageverweigerung nicht ein Organisationsmangel sei, sondern ein verfassungsmässiges Recht, das allen Angeschuldigten zustehe. Da schon damit klar war, dass die beschuldigte Brasserie Lorraine freigesprochen werden musste, brauchte sie sich mit dem ebenso offensichtlich nicht erfüllten Straftatbestand gar nicht erst zu befassen.
Ausser Spesen nichts gewesen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Berner Justiz, auch die Kosten der Brasserie Lorraine für deren Verteidigung. Das leichtfertig vom Zaun gebrochene Verfahren findet damit sein verdientes, aber teures Ende. Angesichts der juristisch eindeutigen Lage ist anzunehmen, dass auch die Staatsanwaltschaft zur Einsicht kommt und die Sache auf sich beruhen lassen wird.
Traurig über dieses Ende des absurden Verfahrens ist einzig die Junge SVP. Deren Präsident schwadroniert in einer ersten Stellungnahme von einer «Kapitulation des Rechtsstaates». Vielleicht sollte er sich einmal ernsthaft mit dem juristischen ABC dieses Rechtsstaates befassen.