Politik - Kolumne

Stille, rebellische Selbstfürsorge

von Ari 19. März 2025

Vista Activa Unsere Kolumnistin macht sich Gedanken über Selbstfürsorge und Aktivismus. Sie kommt zum Schluss: Selbstfürsorge ist rebellisch und aktivistisch zugleich.

Das kalte Wasser läuft über meine Finger. Ich bin in der psychologischen Beratungsstelle, die ich nun schon eine Weile besuche. Die Toilette hier ist grau, eng und fast schon lieblos. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Es fühlt sich immer noch komisch an, gleich so viel Raum einzunehmen und vor allem die Zeit eines fremden Menschen, der eine Stunde lang mit mir über nichts anderes spricht als über mich und meine Gefühle.

Während ich mein Herz schlagen höre und den Wasserhahn zudrehe, weicht mein Blick von meinem Spiegelbild ab und landet auf dem einzigen, nicht grauen Fleck in dieser Toilette: Eine Postkarte, die an der Wand klebt. Ich lese: «In a society that profits from your self-doubt, liking yourself is a rebellious act» (In einer Gesellschaft, die von deinem Selbstzweifel profitiert, ist es ein rebellischer Akt, dich selbst zu lieben).

Gleichzeitig raubt mir die Tatsache, dass unsere Welt so viel Veränderung nötig hat, unheimlich viel Energie.

Eine halbe Stunde später erzähle ich meiner Psychotherapeutin von der Überforderung, die ich oft im Alltag spüre. Wir finden heraus, was ich eigentlich schon länger weiss: Dass der Aktivismus, also die viele unbezahlte Arbeit für ein grösseres, aber extrem weit entferntes und ungreifbares Ziel, zu dieser Überforderung beiträgt. Viel Energie, die ich in den Aktivismus stecke, fehlt mir an anderen Orten. Gleichzeitig raubt mir die Tatsache, dass unsere Welt so viel Veränderung nötig hat, unheimlich viel Energie. Wenn ich durch mein Engagement aktiv etwas dazu beitrage, diese Veränderung anzustreben, komme ich besser mit der Realität klar.

Das Sehen einer Notwendigkeit für Veränderung und somit der Wille gegen den Ist-Zustand zu rebellieren, begleitet mich schon lange. Als Kind war ich rebellisch, indem ich mich früh weigerte, Fleisch zu essen und die abgetragenen Kleider meines älteren Bruders trug, weil ich keine neuen kaufen wollte. Und als meine Eltern mit dem Auto zum Hofladen ins nächste Dorf fuhren, weigerte ich mich, zu ihnen in das Auto zu steigen und fuhr alleine mit dem Fahrrad hin. Rückblickend klingt das ziemlich unbeholfen, aber es fühlte sich so wichtig an, diesem grossen Bedürfnis nach Rebellion nachzugehen.

Dieses Gefühl hat sich kaum verändert, doch mittlerweile bin ich vor allem durch meine aktivistische Tätigkeit rebellisch. Dabei komme ich immer wieder an meine persönlichen Grenzen und manchmal überschreite ich sie sogar. Ich kenne viele Mit-Aktivist*innen, denen es genauso geht. Krass eigentlich, wenn ich das hier so schwarz auf weiss sehe.

Ab und zu sprechen wir in aktivistischen Kreisen darüber, dass wir zu uns selbst schauen müssen, um engagiert zu bleiben. So wird in vielen Gruppen, in denen ich mich bewege und bewegt habe, immer wieder über die aktuellen persönlichen Kapazitäten geredet. Das ergibt Sinn, denn ohne Respekt für unsere Grenzen heute, werden wir morgen nicht gemeinsam auf der Strasse stehen!

Die Postkarte an der Wand brachte mich nun auf einen neuen Gedanken: Selbstfürsorge ist nicht nur die Voraussetzung für nachhaltigen Aktivismus, nein, Selbstfürsorge ist Aktivismus!

Diese Aussage fühlt sich gewagt und ungewohnt an. Warum nur? Ich gehe einen Schritt zurück und überlege mir, was Selbstfürsorge eigentlich ist und sein kann.

Selbstliebe, Selbstfürsorge und noch mehr «Self-Care» sind mittlerweile schon fast abgenutzte Begriffe in unserem Wortschatz. Sie sind von Selbstoptimierung, Leistungsdenken und kapitalistischen Interessen geprägt. Oft verstärken sie Gefühle von «nicht genug» zu sein, statt sie kleiner zu machen. Doch was kann Selbstfürsorge sonst noch sein? Was ist das genaue Gegenteil davon?

Selbstfürsorge ist nicht nur die Voraussetzung für nachhaltigen Aktivismus, nein, Selbstfürsorge ist Aktivismus!

Ich denke an eine Art von Selbstfürsorge, die radikal ist; sie fühlt sich im ersten Moment ein bisschen falsch an, weil wir so geprägt sind von bestimmten Mustern und Vorstellungen, aber im zweiten Moment (oder irgendwann vielleicht) fühlt sie sich so tief richtig an, wie keine andere Art der Selbstfürsorge. Sie lässt sich nicht messen, wie sportliche Aktivität, gesunde Ernährung oder eine bestimmte Menge «Me-Time».

Diese Selbstfürsorge wird von einer ganz klaren, ehrlichen Haltung sich selbst gegenüber ausgemacht. Ehrlichkeit den eigenen Bedürfnissen und Grenzen gegenüber, Loyalität zu sich selbst und sogar eine gewisse Kompromisslosigkeit. Wenn ich auf diese Weise über Selbstfürsorge nachdenke, dann kann ich mich gut mit dem Gedanken anfreunden, dass diese Art von Selbstfürsorge eine Rebellion ist. Und ja, auch dass diese Selbstfürsorge Aktivismus ist.

Doch was heisst das jetzt konkret? Für mich ist es eine selbstoptimierende und schlussendlich kontraproduktive Art der Selbstfürsorge, wenn ich alles dafür tue, um alleine und möglichst schnell meine psychische Gesundheit auf die Reihe zu kriegen (was natürlich weder kurzfristig noch langfristig viel bringt). Stattdessen möchte ich Zeit, Raum, Unterstützung und eine Therapie in Anspruch nehmen. Ich möchte in meinem Alltag nicht nur mein Überleben sichern, sondern nachhaltige Räume für meine Gefühle und ihre Verarbeitung schaffen. Das ist die Selbstfürsorge, die ich kultivieren will. Das ist eine Form von Aktivismus, die ich ausführen will.

Ich möchte in meinem Alltag nicht nur mein Überleben sichern, sondern nachhaltige Räume für meine Gefühle und ihre Verarbeitung schaffen.

Doch dieser Aktivismus macht andere Arten von Aktivismus nicht weniger wichtig. Darum lass uns weiter in Gruppierungen aktiv sein, Aktionen, Events und Strategien erarbeiten, über bestehende und zukünftige Strukturen reflektieren und diskutieren, Lösungs- und Handlungsansätze suchen und finden. Und dadurch die Welt ein kleines bisschen, aber stetig verändern. Aber lass uns auch diese authentische Art der Selbstfürsorge weiterhin kultivieren und pflegen, weil sie genauso aktivistisch ist wie all unsere Sitzungen. Und auch diese Veränderungen haben wir dringend nötig.

Wahre Selbstfürsorge ist eine Rebellion. Zwar oft eine stille, aber ganz bestimmt nicht eine weniger wichtige als jene, für die wir lautstark auf die Strasse gehen.