Sie pendelt zwischen Bern und Beirut

von Rita Jost 7. November 2025

B-Kanntschaft Die Berner Journalistin Meret Michel hat ein Buch über ihre zweite Heimat Beirut geschrieben. Für alle, die verstehen wollen, warum sie so vieles im Nahen Osten nicht verstehen.

Sie ist jung, Mutter einer vierjährigen Tochter, alleinerziehend und lebt seit 2017 als freie Journalistin in Beirut. Über diese Stadt, deren Geschichte und Alltag hat sie jetzt ein Buch geschrieben. Und zwar ein äusserst lesenswertes – eines, das den Alltag in dieser Weltmetropole zwischen Ost und West so schildert, dass Leser*innen zu verstehen beginnen, warum sie so vieles im Nahen Osten nicht verstehen.

Meret Michel ist gerade wieder einmal in Bern und hat sich mit Tochter Sama bei ihren Eltern in Niederwangen einquartiert. Anlass ist die Vernissage ihres Buchs («Beirut, Splitter einer Weltstadt», Hirzel Verlag). In einigen Tagen wird sie zurück nach Beirut fliegen und wieder eintauchen in ihren anderen Alltag. Es ist ein Alltag, der so viel unübersichtlicher, lauter, komplexer und unvorhersehbarer ist als der Alltag im vergleichsweise beschaulichen Bern: «Ein Alltag, der das Leben der Menschen bestimmt, und der immer wieder mal ein falsches Gefühl von Stabilität vorgaukelt, bevor dieses durch die Wucht plötzlicher Veränderungen weggefegt wird.» So beschreibt sie es in ihrem Buch.

Meret Michel lernte Arabisch praktisch im Selbststudium – und verfeinerte es im Austausch mit Geflüchteten aus Syrien. (Foto: David Fürst).

Auf in den «Arabische Frühling»

Michel lebt mit ihrer Tochter den grössten Teil des Jahres in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Sie hat dort eine kleine Wohnung, schreibt Reportagen, recherchiert, trifft Interviewpartner*innen, bringt ihre Tochter zur Vorschule und hält aus, was Menschen in der Region seit Jahren aushalten müssen: das Leben auf einem Pulverfass. So jedenfalls denken wohl die meisten ihrer Bekannten und Verwandten hier in der Schweiz. Sie selber sieht es nicht so. Riskant sei ihr Leben nicht, sagt die zierliche dunkelhaarige Frau bei einer Tasse Kaffee in Bern, sie lebe in einer relativ sicheren Gegend der Stadt, ja, die Instabilität und die dauernden Veränderungen seien zwar Tatsache in der ganzen Region, aber eben auch das faszinierend Herausfordernde, das ihr immer wieder Stoff für Reportagen liefere.

Praktisch im Selbststudium hatte sie sich nach ihrem Politologiestudium in Zürich und Hamburg und einer Ausbildung an der Reportageschule in Reutlingen Arabisch beigebracht und in Deutschland im Kontakt mit Geflüchteten aus Syrien perfektioniert.

Umwälzungen, konkret der so genannte «Arabische Frühling», waren auch der Grund, weshalb Michel vor sieben Jahren die Koffer packte und sich in Beirut eine berufliche Existenz aufzubauen begann. «Diese Vorgänge haben mich politisiert wie nichts zuvor,» sagt sie, «ich hatte das Gefühl, da passiert gerade etwas so Aussergewöhnliches, da muss ich hin.» Praktisch im Selbststudium hatte sie sich nach ihrem Politologiestudium in Zürich und Hamburg und einer Ausbildung an der Reportageschule in Reutlingen Arabisch beigebracht und in Deutschland im Kontakt mit Geflüchteten aus Syrien perfektioniert.

Mit Kind zum Interview

Und dann zog sie einfach mal los. Damals noch ohne Kind. Seit gut vier Jahren aber lebt sie in Beirut mit ihrer Tochter, die sie alleine grosszieht. Und sie pendelt hin und her zwischen Beirut und Bern. Wie schafft sie das? Meret Michel ist sich gewohnt, diese Frage (vorab im Gespräch mit berufstätigen Frauen) gestellt zu bekommen. Sie hat eine einfache Antwort: «Ich liebe diesen Beruf und ich liebe meine Tochter. Als sie zur Welt kam, habe ich mir gesagt, Reporterin kann ich auch mit Kind sein.» Und siehe: es geht. Klar, sagt sie, es gebe Aufträge, die sie ablehnen müsse, tagesaktuelle Berichterstattungen wären beispielsweise nicht möglich, denn es gibt Tageszeiten, da kann sie nicht schreiben oder für Radiostationen zur Verfügung stehen – am Morgen früh zum Beispiel, wenn die Tochter erwacht! –, aber sonst sei fast alles möglich. Sama habe sie in den ersten Jahren oft einfach mitgenommen zu Interviews oder auf Recherche. Seit die Kleine in die Kita geht, sei es einfacher geworden. Die Mutter hat tagsüber wieder kinderfreie Stunden und kann schreiben und recherchieren. Aufträge hat sie genug. Existenzängste habe sie nie gehabt, «ich lebe sehr bescheiden und komme mit wenig Geld aus.»

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Wie lange Meret Michel noch als Reporterin in Beirut leben wird, weiss sie nicht. (Foto: David Fürst)

Meret Michel hatte von Beginn weg Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und sie fand relativ schnell Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Reportagen abdruckten. In der Schweiz die WOZ, die NZZ, die Republik, in Deutschland Die Zeit. Ab und zu ist sie auch im «Echo der Zeit» von Radio SRF zu hören. Mit ihrem perfekten Arabisch kommt sie einfach an Einheimische heran, und mit ihrem Riecher für gute Geschichten abseits der Tagesaktualität füllt sie eine Lücke für Stoff, den Vollzeitkorrespondent*innen aus Zeitgründen oft nicht bearbeiten können.

Die Menschen hinter den Schlagzeilen

In der Coronazeit reifte dann der Gedanke, ein Buch zu schreiben über ihre faszinierende neue Heimatstadt und ihre Bewohner*innen. Das Leben in dieser unstabilen Region, die tägliche Ungewissheit, das wollte sie schildern, die Geschichte dieses Vielvölkerstaats mit seiner Geschichte zwischen Ost und West erklären. Lange suchte die Journalistin nach einem roten Faden für ein Buch über eine Stadt, die fast so viele Gesichter wie Menschen hat. Sie fragte sich: «Wie kann man all diese Gemeinschaften, die hier aneinander vorbeileben, die Narrative, die sich gegenseitig widersprechen unter ein gemeinsames Dach stellen?» Und landete schliesslich bei Begegnungen mit Menschen. Entstanden ist ein buntes Mosaik von Geschichten, die Hintergründe zu Schlagzeilen aus den letzten Jahren erhellen. In elf Kapiteln schreibt sie im Dialog mit Menschen z.B. über die Massenproteste 2019, den Kollaps in der einst blühenden Finanzmetropole, über die gewaltige Hafenexplosion im August 2020 und ihre Folgen für die Überlebenden und Traumatisierten, aber auch über die Hisbollah und den eskalierten Krieg mit Israel 2024, über die Flüchtlingssituation und das Verhältnis des Libanons zu seinen Nachbarstaaten.

Meret Michel schafft es, die «Splitter einer Weltstadt» (Untertitel des Buchs) journalistisch gekonnt zu einem Bild zusammenzufügen, das trotz Zerrissenheit fassbar und stimmig wirkt. Sie schafft es, weil sie trotz journalistischer Distanz, ganz nah bei den Leuten forscht und Zahlen und geschichtliche Daten quasi en passant einflicht.

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«Beirut» liest sich leicht und kommt aus ohne einseitige Kriegsrhetorik, obwohl die Konflikte und ihre Protagonisten im Buch durchaus Themen sind. Eine Frage drängt sich auf im persönlichen Gespräch mit der Autorin: wie erleben die Menschen in Beirut den aktuellen Krieg um Gaza, wie hat er sie verändert? Meret Michel wirkt plötzlich sehr ernst: «Sie sind natürlich entsetzt, aber vor allem masslos enttäuscht vom Westen. Das Vertrauen in Europa und seine viel gepriesenen Menschenrechte ist meiner Meinung nach völlig zerstört, ich denke nachhaltig zerstört.» Sie könne sich im Moment nicht vorstellen, wie dieses Vertrauen je wieder zurückgewonnen werde könne.

Sie selber reist nun wieder zurück. Für wie lange wird sie noch als Reporterin in Beirut leben? Sie weiss es nicht. Wenn ihre Tochter eingeschult wird, muss sie sich wohl zwischen Beirut und Bern entscheiden. Sorgen macht sie sich deswegen vorläufig noch nicht. Sie kann leben mit ungewissen und instabilen Verhältnissen.