Sie ist jung, Mutter einer vierjährigen Tochter, alleinerziehend und lebt seit 2018 immer wieder für längere Zeit als freie Journalistin in Beirut. Über diese Stadt, deren Geschichte und Alltag hat sie jetzt ein Buch geschrieben. Und zwar ein äusserst lesenswertes – eines, das den Alltag in dieser Weltmetropole zwischen Ost und West so schildert, dass Leser*innen zu verstehen beginnen, warum sie so vieles im Nahen Osten nicht verstehen.
Meret Michel ist gerade wieder einmal in Bern und hat sich mit ihrer Tochter bei den Eltern einquartiert. Anlass war die Vernissage ihres Buchs («Beirut, Splitter einer Weltstadt», Hirzel Verlag). In einigen Tagen wird sie zurück nach Beirut fliegen und wieder eintauchen in ihren anderen Alltag. Es ist ein Alltag, der so viel unübersichtlicher, lauter, komplexer und unvorhersehbarer ist als der Alltag im vergleichsweise beschaulichen Bern: «Ein Alltag, der das Leben der Menschen bestimmt, und der immer wieder mal ein falsches Gefühl von Stabilität vorgaukelt, bevor dieses durch die Wucht plötzlicher Veränderungen weggefegt wird.» So beschreibt sie es in ihrem Buch.

Auf in den «Arabische Frühling»
Michel lebt mit ihrer Tochter den grössten Teil des Jahres in der libanesischen Hauptstadt. Sie hat dort eine kleine Wohnung, schreibt Reportagen, recherchiert, trifft Interviewpartner*innen, bringt ihre Tochter zur Vorschule und hält aus, was Menschen in der Region seit Jahren aushalten müssen: das Leben auf einem Pulverfass. Ein riskantes Leben? Sie sieht es nicht so. Sie lebe in einer relativ sicheren Gegend der Stadt, sagt die zierliche dunkelhaarige Frau bei einer Tasse Kaffee in Bern, aber ja, die Instabilität und die dauernden Veränderungen seien natürlich eine Tatsache – in der ganzen Region.
Praktisch im Selbststudium hatte sie sich nach ihrem Politologiestudium in Zürich und Hamburg und einer Ausbildung an der Reportageschule in Reutlingen Arabisch beigebracht und in Deutschland im Kontakt mit Geflüchteten aus Syrien perfektioniert.
Sie spricht unterdessen gut Arabisch. Praktisch im Selbststudium hatte sie sich nach ihrem Politologiestudium in Zürich und Hamburg und einer Ausbildung an der Reportageschule in Reutlingen die Sprache beigebracht und in Deutschland im Kontakt mit Geflüchteten aus Syrien perfektioniert.
2018 packte sie dann endgültig die Koffer und begann sich in Beirut eine berufliche Existenz aufzubauen. «Ich hatte das Gefühl, da passiert gerade so Historisches, das geht mich etwas an.»
Mit Kind zum Interview
Damals war sie noch ohne Kind. Seit gut vier Jahren hat sie eine Tochter. Und sie pendelt hin und her zwischen Beirut und Bern. Wie schafft sie das? Meret Michel ist sich gewohnt, diese Frage (vorab im Gespräch mit berufstätigen Frauen) gestellt zu bekommen. Sie hat eine einfache Antwort: «Ich liebe diesen Beruf und ich liebe meine Tochter. Als sie zur Welt kam, habe ich mir gesagt, Reporterin kann ich auch mit Kind sein.» Und siehe: es geht. Klar, sagt sie, es gebe Aufträge, die sie ablehnen müsse, tagesaktuelle Berichterstattungen wären beispielsweise nicht immer möglich, denn es gibt Tageszeiten, da kann sie als Mutter einer Vierjährigen nicht schreiben oder für Radiostationen zur Verfügung stehen «in den frühen Morgenstunden beispielsweise ist es für mich schwierig, weil die Kleine mich braucht.» Aber sonst hat sich Meret Michel eingerichtet. Die Tochter nahm sie in den ersten Jahren oft einfach mit zu Interviews oder auf Recherche. Seit die Kleine in die Kita geht, sei es einfacher geworden. Die Mutter hat tagsüber wieder ruhige Stunden und kann schreiben und recherchieren. Aufträge hat sie genug. Existenzängste kenne sie nicht, «ich lebe sehr bescheiden und komme mit wenig Geld aus.»

Und Meret Michel hatte von Beginn weg Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sie fand relativ schnell Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Reportagen abdruckten. In der Schweiz die WOZ, die NZZ, die Republik, in Deutschland Die Zeit. Ab und zu ist sie auch im «Echo der Zeit» von Radio SRF zu hören. Dank ihrem Arabisch kommt sie einfach an Einheimische heran, und mit ihrem Riecher für gute Geschichten abseits der Tagesaktualität füllt sie eine Lücke für Stoff, den Vollzeitkorrespondent*innen aus Zeitgründen oft nicht bearbeiten können.
Die Menschen hinter den Schlagzeilen
I2022 reifte dann der Gedanke, ein Buch zu schreiben über ihre faszinierende neue Heimatstadt und ihre Bewohner*innen. Das Leben in dieser unstabilen Region, die tägliche Ungewissheit, das wollte sie schildern, die Geschichte dieses Vielvölkerstaats mit seiner Geschichte zwischen Ost und West erklären. Lange suchte die Journalistin nach einem roten Faden für ein Buch über eine Stadt, die fast so viele Gesichter wie Menschen hat. Sie fragte sich: «Wie kann man all diese Gemeinschaften, die hier aneinander vorbeileben, die Narrative, die sich gegenseitig widersprechen unter ein gemeinsames Dach stellen?» Und landete schliesslich bei Begegnungen mit Menschen.
Entstanden ist ein buntes Mosaik von Geschichten, die Hintergründe zu Schlagzeilen aus den letzten Jahren erhellen. In elf Kapiteln schreibt sie im Dialog mit Menschen z.B. über die Massenproteste 2019, den Kollaps in der einst blühenden Finanzmetropole, über die gewaltige Hafenexplosion im August 2020 und ihre Folgen für die Überlebenden und Traumatisierten, aber auch über die Hisbollah und den eskalierten Krieg mit Israel 2024, über die Flüchtlingssituation und das Verhältnis des Libanons zu seinen Nachbarstaaten.
Meret Michel schafft es, die «Splitter einer Weltstadt» (so der Untertitel des Buchs) journalistisch gekonnt zu einem Bild zusammenzufügen, das trotz Zerrissenheit fassbar und stimmig wirkt. Sie schafft es, weil sie trotz journalistischer Distanz, ganz nah bei den Leuten forscht und Zahlen und geschichtliche Daten quasi en passant einflicht.
Journal B unterstützen
Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.
«Beirut» liest sich leicht und kommt aus ohne einseitige Kriegsrhetorik, obwohl die Konflikte und ihre Protagonisten im Buch durchaus Themen sind. Eine Frage drängt sich auf im persönlichen Gespräch mit der Autorin: wie erleben die Menschen in Beirut den aktuellen Krieg um Gaza, wie hat er sie verändert? Meret Michel wirkt plötzlich sehr ernst: «Sie sind natürlich entsetzt, aber vor allem masslos enttäuscht vom Westen. Das Vertrauen in Europa und seine viel gepriesenen Menschenrechte ist meiner Meinung nach völlig zerstört, ich denke nachhaltig zerstört.» Sie könne sich im Moment nicht vorstellen, wie dieses Vertrauen je wieder zurückgewonnen werde könne.
Sie selber reist nun wieder zurück. Für wie lange wird sie noch als Reporterin in Beirut leben? Sie weiss es nicht. Es beschäftigt sie im Moment noch nicht gross. Sie kann leben mit ungewissen und instabilen Verhältnissen.
Journalistin Meret Michel unterwegs – hier im Botanischen Garten Bern (Foto: David Fürst)
