Der 2003 neu gewählte Stiftungsrat, der die Geschicke des «Schulheim Ried» zu leiten hatte, war nicht besonders stolz auf die vergangenen 188 Jahre der Institution. Er wusste, dass es da eine schwierige und belastende Geschichte aufzuarbeiten galt. Er wollte sich bei den Jugendlichen entschuldigen, welche «auf der Grube» hatten leben müssen und dort, so das Vorwort zum Buch, «nicht das erfuhren, was ihnen zustand: Schutz, Wertschätzung, Wohlwollen, physische und psychische Unversehrtheit». Als Zeichen des Bedauerns erhielten alle Ehemaligen ein Exemplar des Buches geschenkt.
Den historischen Teil des Buches hatte der Berner Autor und Journalist Fredi Lerch verfasst. In akribischer Arbeit hatte er die Jahresberichte der Institution, Sitzungsprotokolle, Berichte von Aufsichtsbehörden und anderes mehr durchforscht. Was er herausfand, fügte sich laut dem Präsidenten des Stiftungsrats «zu einem stimmigen Bild» der Institution zusammen, die 1825 unter dem Namen «Rettungsanstalt für arme und verlassene Buben» gegründet worden war. Die Ehemaligen, an welche sich das Buch richtete, sprechen heute von «unserem Gruebe-Buch».
Einem aber gefiel das Erzählte ganz und gar nicht: Dem Ex-Heimleiter Hans-Peter Hofer, der mit seiner Ehefrau im Jahre 2000 die Nachfolge des langjährigen und berüchtigten Heimleiterehepaars Paul und Lotti Bürgi übernommen hatte. Er fühlte sich fachlich blossgestellt und in seinem angeblichen Reformbestreben zu wenig gewürdigt. Das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihm gezeichnet worden sei, müsse korrigiert werden.
Ein nur vermeintlich geschlichteter Streit
2016, also mehr als 3 Jahre nach Erscheinen des Buches, verlangte Hofer ein gerichtliches Verbot des Vertriebs und des Nachdrucks des Buches. Noch während der vorangehenden Schlichtungsverhandlung kam es zu einer Einigung zwischen den Parteien: Die Stiftung, welche das Buch herausgegeben hatte, verzichtete auf die weitere Verbreitung. Da das Heim nicht mehr existierte, der Vertrieb des Buches weitgehend abgeschlossen war und mit relevanten Verkäufen nicht mehr gerechnet werden konnte, hatte sie kein Interesse mehr an einem womöglich langwierigen Prozess. Der Autor verpflichtete sich seinerseits, das Werk nicht mehr zu verbreiten. Die Sache schien damit erledigt.
Nicht so für Hans-Peter Hofer. Der hatte den Vergleich zwar auch unterschrieben, doch war ihm das offenbar nicht genug. Weitere drei Jahre später attackiert er nun in zwei umfangreichen Artikeln der «Berner Zeitung» den Autor Fredi Lerch. Dieser habe ihm zu Unrecht fehlende Qualifikationen als Heimleiter unterstellt. Und der späteren Präsidentin des Stiftungsrates wirft er vor, ihn nicht genügend unterstützt zu haben.
Hintergrund dieses Vorwurfs ist die Tatsache, dass dem im Jahre 2000 neu als Heimleiter gewählten Hans-Peter Hofer die notwendigen beruflichen Qualifikationen für die Leitung einer Institution wie des «Knabenheims auf der Grube» fehlten. Insbesondere verfügte er nicht über die erforderliche Ausbildung im sozial- und heilpädagogischen Bereich. Für den im Zeitpunkt der Wahl amtierenden Stiftungsrat war dies offenbar nicht massgeblich gewesen, für die zuständige kantonale Behörde hingegen schon. Diese erteilte nämlich nur eine provisorische Betriebsbewilligung und ordnete an, dass Hofer die fehlende Ausbildung innerhalb eines Jahres nachholen müsse. Nachdem er sich zunächst dazu bereit erklärt hatte, stellte er später die Notwendigkeit dieser Ausbildung wieder in Frage und weigerte sich, sie anzutreten. Der in der Zwischenzeit neu besetzte Stiftungsrat konnte dies angesichts der klaren Haltung der kantonalen Behörde nicht akzeptieren, weshalb das Arbeitsverhältnis im Jahre 2005 aufgelöst wurde.
Das aber scheint Hans-Peter Hofer nie verkraftet zu haben. Er ist überzeugt, alles richtig gemacht zu haben und nur am Widerstand eines ihm feindlich gesinnten Umfelds gescheitert zu sein. Mit seinem Rundumschlag in der «Berner Zeitung» rührt er ein weiteres Mal im abgestandenen Wasser seiner «Gruebe»-Vergangenheit. Neues ist den umfangreichen Berichten aber nicht zu entnehmen. .
Ein Beitrag zur Kulturgeschichte
Die Sachverhalte sind nämlich längst geklärt. Die Geschichte des «Knabenheims auf der Grube», ist durch Fredi Lerch auf überzeugende und nachvollziehbare Weise dargestellt worden. Die Auseinandersetzung mit Hans-Peter Hofer, die in dieser Geschichte aber nur wenig Platz einnimmt, ist anhand der Sitzungsprotokolle des Stiftungsrates dokumentiert. Der Stiftungsrat hat mit der Auflösung der Institution, mit der Würdigung des Geleisteten und mit der Entschuldigung für «erlittenes und ertragenes Unrecht», einen fälligen Schlussstrich unter 188 Jahre Heimgeschichte gezogen.
Das von Thomas Hirter und Andrea Stebler kunstvoll gestaltete «Gruebe-Buch» ist aber weit mehr als nur eine Darstellung der 188-jährigen Geschichte der Institution. Marina Bolzli, Gerhard Meister und Wolfgang Hinte haben mit eigenen Texten weitere Aspekte zum Bild des Erziehungs- und Schulheims beigetragen. Das Buch hätte es verdient, als Erinnerungswerk für diese Institution und als kulturgeschichtliches Lehrstück erhalten zu bleiben.
Es ist mehr als bedauerlich, ja höchst befremdlich, dass die noch vorhandenen Exemplare des Buches um eines vermeintlichen privaten Friedens willen vernichtet wurden. Entgegen der Behauptung der «BZ» ist das Buch nämlich nicht «gerichtlich verboten». Die Stiftung hat sich aus unternehmerischen Gründen freiwillig verpflichtet, es nicht mehr zu verbreiten. Ob diese Entscheidung vernünftig war oder nicht, darf dahingestellt bleiben. Klar ist aber, dass am Inhalt des Buches weiterhin ein öffentliches Informationsinteresse besteht. Journal B hat sich daher dazu entschlossen, es über seine Webseite wieder zugänglich zu machen.