Unübersehbar steht das alte Loeblager auf dem «Weyer-West»-Areal zwischen Mulden, Containern und Kranelementen, die rund um das Gebäude gelagert werden. Als wir beim alten Loeblager ankommen, wird gerade der Schriftzug «LOEBLAGER» in pinken Lettern auf dem Vordach angebracht. Für die anstehenden Tage der offenen Tür will man sich von der besten Seite zeigen.

Wo früher das Berner Warenhaus Loeb seine Ware umschlug, werden heute Bilder gemalt, Hüte gemacht, Stücke komponiert, Mischpulte zusammengebaut, Kleider genäht und ganz vieles mehr. Seit 2011 wird das Gebäude der Burgergemeinde Bern durch zahlreiche Kreativschaffende zwischengenutzt. Das Erdgeschoss und das umliegende Areal belegt zu grossen Teilen eine Gartenbaufirma.

Marcel Schneider und Ronny Hardliz sind seit dem Anfang dabei. Sie führen uns durch die vier Stockwerke des ehemaligen Lagerhauses und zeigen uns die beeindruckende Vielfalt an Ateliers und Kleingewerbe, die sich in den letzten vierzehn Jahren an der Ziegelackerstrasse entwickelt hat.

Das Gebäude sei für die kreativen Nutzungen ideal. Die bauliche Struktur sei einerseits sehr geeignet für die zahlreichen Ateliers. Und die räumliche Nähe erlaube den kreativen Austausch untereinander und die Nutzung von Synergien.
Interessengemeinschaft im Dialog mit Stadt und Burgergemeinde
Geht es nach der Burgergemeinde und dem Stadtrat, soll das Haus jedoch einem Neubau weichen. Lediglich die dazugehörige Speditionshalle würde, wenn möglich, erhalten bleiben. Die Pläne sind Teil der Überbauungsordnung (UeO) «Weyermannshaus West», über die die Stimmberechtigten am 30. November abstimmen werden. Die Mieter*innen des alten Loeblagers reagierten auf den geplanten Abriss mit der Gründung der «Interessengemeinschaft altes Loeblager» (IG ALL) und haben Anfang Jahr Einsprache gegen die UeO eingereicht.

Zur IG gehören neben Marcel und Ronny auch die rund 70 anderen Mietenden des alten Loeblagers. Die IG hatte sich auch politisch für eine Abänderung der UeO eingesetzt, mit der die Erhaltung und Aufstockung des Lagergebäudes als Option möglich würde. Alle Stadtratsmitglieder hatte sie im Vorfeld der Behandlung im Rat angeschrieben, vor der Debatte auf dem Rathausplatz demonstriert. Immerhin wurden zwei Anträge der vorberatenden Kommission für Planung, Verkehr und Stadtgrün (PVS) angenommen. Sie verlangen, dass sich der Gemeinderat für eine möglichst lange Weiternutzung des Lagers bis zum Abriss und die «langfristige Verankerung künstlerischer und kultureller Nutzungen im Areal Weyermannshaus West» einsetzt.
Wenn wir mit der Burgergemeinde und der Stadt etwas entwickeln können, macht es mehr Spass, als gegeneinander zu agieren
Die IG trage den Entscheid mit Fassung, erläutern Marcel und Ronny. Zentral sei, dass man mit der Stadt und auch der Burgergemeinde in einen konstruktiven Dialog getreten sei. Auch deshalb verzichte die IG auf einen Abstimmungskampf gegen die UeO. «Wenn die UeO nicht angenommen wird, haben wir den Status quo. Das ist natürlich okay für uns», sagt Ronny. «Aber wenn sie angenommen wird, werden wir aufgrund des versprochenen Prozesses auch zu einer guten Lösung kommen.» Stadtpräsidentin Marieke Kruit habe einen Austausch zwischen der Stadtverwaltung und dem alten Loeblager mit dem Ziel angestossen, dauerhaft Raum für künstlerische und kulturelle Nutzungen im Areal Weyermannshaus West oder auch ausserhalb des Areals zu etablieren.

Und die Burgergemeinde werde in der nächsten Phase eruieren, wie die IG in den weiteren Prozess eingebunden werden kann, vielleicht sogar als eigenständige Bauträgerin. Diese Chancen wolle man sich nicht leichtfertig verspielen. «Klar muss man zwischendurch auf die Barrikaden – und das haben wir ja auch gemacht», ergänzt Marcel. «Aber wenn wir mit der Burgergemeinde und der Stadt etwas entwickeln können, macht es mehr Spass, als gegeneinander zu agieren.»

Trotzdem wäre aus Sicht der IG ganz klar der Erhalt und allenfalls die Aufstockung des Lagers die beste Lösung. Auch aufgrund der städtischen Klimastrategie mache dies mehr Sinn als ein Abbruch mit Neubau. Die Stadt widerspreche sich da selbst, denn auf der Basis der vorliegenden UeO werde diese Option verhindert. Sie sieht vor, dass auf dem Grundriss des Lagerhauses ein Hochhaus und ein Quartierplatz entstehen. Für die Realisierung anderer Pläne bräuchte es später eine Abänderung der UeO mit erneuter Volksabstimmung.
Wohnraum auf Kosten von kreativen (Frei-)Räumen
Der Konflikt zwischen baulicher Verdichtung und kreativen Räumen ist in der Stadt Bern nicht neu. Ein jüngeres Beispiel ist die Entwicklung des ehemaligen Tramdepots Burgernziel: Über zwei Jahrzehnte wurde das Areal auf vielfältige Weise zwischengenutzt: Die grosse Freifläche und die Depothalle waren Schauplatz unterschiedlichster Veranstaltungen, ein Teil des Depotgebäudes diente als Brocki, und das Restaurant Punto im Nebengebäude war ein beliebter Quartiertreffpunkt. Als das Bauprojekt vorgestellt wurde, war bei vielen die Enttäuschung gross – nicht nur über das Verschwinden des grössten Freiraums im Quartier, sondern auch darüber, dass die neuen Pläne keinen Raum für kreative Nutzungen oder einen Treffpunkt vorsahen, der den Verlust zumindest etwas hätte ausgleichen können. Nach der Eröffnung des als «Fleischkäse» verschmähten Neubaus sahen sich wohl viele in ihrer Kritik bestätigt.

Nun ist die Marginalisierung von kreativen (Frei-)Räumen beim Gaswerkareal und beim Weyermannshaus wieder ein zentrales Thema. Die Stadtratsdebatte zur Überbauungsordnung zeigte, dass der drohende Verlust auch viele Ratsmitglieder bewegt. David Böhner von der Alternativen Linken (AL) unterstrich in seinem Votum die Wichtigkeit von Kreativräumen für die urbane Qualität einer Stadt. Die AL unterstützte deshalb auch den Rückweisungsantrag, der von Grünem Bündnis und GFL wegen verschiedener Vorbehalte eigereicht wurde, aber erfolglos blieb.
Mit uns wird das Quartier für die neuen Bewohnenden viel interessanter
Der Stadtrat sieht sich in einer Zwickmühle: Einerseits zeigt er Verständnis für die Vorbehalte der Betroffenen, die ebenfalls die Verdrängung des Gewerbes und Befürchtungen über Mieterhöhungen im angrenzenden Untermattquartier durch eine Gentrifizierung (Aufwertung) des Gebiets umfassen. Auch der Verkehr ist ein Thema: Statt der für gut erschlossene Gebiete angestrebten Parkplatzquote von 0,2 pro Wohnung werden auf dem Areal 0,35 Parkplätze pro Wohnung zulässig sein.

Schliesslich wurde der Bedarf nach neuen Wohnungen aber höher gewichtet als die zahlreichen Einwände, deren Berücksichtigung eine erneute Zusatzrunde beim Projekt nötig gemacht hätte, das ohnehin schon im Verzug ist. SP-Fraktionschef Dominik Fitze brachte es in seinem Votum für die SP/JUSO-Fraktion folgendermassen auf den Punkt: «Am Ende ist Politik die Abwägung von Prioritäten und Interessen. Und dabei kommen wir am Ende ganz klar zum Schluss: Es ist ein gutes Projekt, das die Stadt vorwärtsbringt und ihrer Entwicklung dient, weil wir so rasch wie möglich diese 1’200 Wohnungen haben wollen.»

Die IG habe Verständnis dafür, dass Stadt und Gemeinde mit dem Bau von Wohnungen vorwärts machen wollen. Marcel und Ronny streichen aber auch den Wert eines gut funktionierenden Kreativraumes für ein städtisches Quartier hervor. Dies sei nicht nur kulturell wertvoll, sondern für die gesamte Identität und Wohnqualität des Quartiers: «Mit uns wird das Quartier für die neuen Bewohnenden viel interessanter», fasst es Ronny zusammen. Langfristig müsse dies nicht zwingend im bestehenden Gebäude sein. Vieles spreche jedoch dafür, das alte Loeblager nicht gleich abzureissen, sondern als Potential im anstehenden Transformationsprozess zu sehen.
Kritik von der FDP – IG verteidigt ihr vorgehen
Es gab im Rat indes nicht nur Verständnis für die Zwischennutzenden. Einige Bürgerliche haben das Lobbying der IG als zu fordernd wahrgenommen. Die FDP sah in der Debatte gar eine Gefahr für kreative Projekte in der Stadt Bern, wie Thomas Hofstetter im Fraktionsvotum ausführte: Andere Immobilienbesitzende könnten künftig davor zurückschrecken, Zwischennutzungen zu ermöglichen, wenn dies nur «Probleme und Aufwand» verursachen.
Es wächst und wird kreditwürdig, da muss man doch weiter investieren
Die IG verteidigt ihr vorgehen. Man führe es auch auf die Einsprache und das engagierte Auftreten gegenüber der Burgergemeinde und dem Stadtrat zurück, dass die Anliegen der zahlreichen Nutzenden nun ernst genommen würden. Es gelte auch anzuerkennen, dass sich im alten Loeblager in den 14 Jahren seiner Zwischennutzung etwas Besonderes entwickelt habe. Ronny spricht von «Startup-Strukturen». «Das ist FDP-Jargon», fügt er schmunzelnd hinzu, «es wächst und wird kreditwürdig, da muss man doch weiter investieren».

Was Ronny damit meint, zeigt sich etwa im Dachgeschoss. Hier baut das Kleinunternehmen «Varia Instruments», an dem auch Marcel beteiligt ist, spezielle Mischpulte zusammen und exportiert sie in die halbe Welt.

Die Verpackung wird dank den hausinternen Synergien von der Siebdruckerei im zweiten Stock bedruckt. Sehr erfolgreich ist auch die kleine Produktionsfirma Trinipix, die etwa an Simon Baumanns preisgekröntem Film «Wir Erben» beteiligt war und Ronny bei seinem künstlerischen Dokumentarfilm über den Handel mit Eselshäuten unterstützt. Es sind Beispiele, die das wirtschaftliche Potential des kreativen Ökosystems aufzeigen.

Am 30. November werden die Mietenden des alten Loeblagers wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Wenn die UeO abgelehnt wird, bleibt vorerst alles beim Alten. Im wahrscheinlicheren Fall einer Annahme sind Dank der aktiven Unterstützung der Stadt und der Burgergemeinde die Chancen intakt, dass sich für das einzigartige Biotop eine passende Lösung finden lässt.
Dieses Wochenende sind im alten Loeblager Tage der offenen Tür.
Mehr über den Nutzungskonflikt auf dem Gaswerkareal gibt es nächste Woche im Journal B zu lesen.
Geht es nach der Burgergemeinde und dem Stadtrat, soll das Haus einem Neubau weichen. (Foto: David Fürst)
