Postkarten aus der Schweiz

von Janine Schneider 9. September 2025

Kunst Jedes Jahr lädt das Filmfestival Kino Kosova Kunstschaffende aus dem Kosovo zu einer Residenz ein. Dieses Jahr den interdisziplinär arbeitenden Künstler Yll Xhaferi aus Pristina.

Yll Xhaferi trägt eine auffällige, blaue Brille, hat ein sympathisches Lächeln und gleich zu Beginn eine Anekdote zu erzählen, die irgendwie passt – zu der schweizerisch-kosovarischen Migrationsgeschichte und zur Kunst, die Xhaferi während seiner Residenz hier in Bern konzipiert hat: Als der kosovarische Künstler ein Taxi zum Flughafen in Pristina nahm, fragte ihn der Taxifahrer, wohin er reisen werde. «In die Schweiz, um dort Kunst auszustellen », so Xhaferi. Der Taxifahrer: «Kunst? Nein, du musst dort doch arbeiten und Geld verdienen!»

Es ist das erste Mal, dass der 37-jährige Künstler die Schweiz besucht – er wurde vom Filmfestival Kino Kosova zu einer zweimonatigen künstlerischen Residenz eingeladen, seine Werke werden während des Festivals im PROGR zu sehen sein. Aber gehört hatte Xhaferi schon viel von der Schweiz. «Wie alle im Kosovo kenne auch ich verschiedene Menschen, die in der Schweiz leben und arbeiten», erzählt er.

Mir geht es um die Frage, was kulturell zelebriert wird und was übersehen.

Wenn sie in den Ferien in die alte Heimat fuhren, brachten sie Bilder mit. Bilder einer reichen, wohlhabenden Schweiz, Postkarten mit prächtigen Bergen und schönen Blumenwiesen im Licht eines Sonnenaufgangs. «Dabei war das überhaupt nicht ihr Alltag. Stattdessen haben sie hart gearbeitet – zum Beispiel auf dem Bau – und nicht viel von den Bergen gesehen.»

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Die im Rahmen des Kino Kosova eingeladenen Kunstschaffenden erhalten die Möglichkeit, während zweier Monate im PROGR zu leben und zu arbeiten. (Foto: David Fürst)

Diese Widersprüche interessieren den kosovarischen Künstler und haben ihn auch für seine Berner Werke inspiriert. So hat Xhaferi für die Ausstellung eigene Postkarten kreiert: Darauf sind keine Naturidyllen zu sehen, sondern der städtische Alltag in Bern. Auf einem ist beispielsweise die Strassenkreuzung Genfergasse/Speichergasse zu sehen, in der Mitte ein Schild, auf dem statt Verkehrssymbole Sonnenuntergangsfarben leuchten.

Ich wusste nur, dass ich wie Picasso oder Klee sein will.

Der Text dazu: «To see my sunrise, you have to come from the eastside zebra lines» (Auf Deutsch: Um meinen Sonnenaufgang zu sehen, musst du vom östlichen Zebrastreifen her kommen). «Ich wollte mir staatliche Infrastruktur wie Strassenschilder aneignen und daraus visuelle Metaphern machen.»

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Yll Xhaferi über seinen Entwürfen für die Postkarten. (Foto: David Fürst)

Ein anderes Beispiel: Auf einem seiner grossen Bilder sind zwei Figuren übereinander gemalt: Auf den ersten Blick sieht man einen Fussballer – womit die kosovarische Gemeinschaft in der Schweiz öffentliche Erfolge erzielen konnte und worauf sie stolz ist – auf den zweiten Blick erkennt man darunter den Handwerker, der still und unauffällig arbeitet. «Mir geht es um die Frage, was kulturell zelebriert wird und was übersehen», kommentiert Xhaferi die Bilder.

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Der kosovarische Künstler arbeitet gerne mit verschiedenen Materialien und fröhlich wirkenden, kräftigen Farben. (Foto: David Fürst)

Die Zeichnungen überlebten

Xhaferi wollte schon als Kind Künstler werden. «Ich wusste natürlich nicht, was das heisst. Ich wusste nur, dass ich wie Picasso oder Klee sein will.» Er malte und zeichnete viel. Seine Eltern hätten ihn immer im Wunsch, Kunst zu machen, unterstützt. Auch als der Krieg kam. Die Familie überstand den Krieg unbeschadet, verlor jedoch ihre Wohnung und musste bei einem Verwandten unterkommen. «Als wir unsere Wohnung verliessen, vergruben meine Eltern meine Zeichnungen im Innenhof. Unglaublich, dass sie sich dafür noch Zeit genommen haben!»

Nach dem Krieg war das Haus zerstört, die Zeichnungen hatten jedoch überlebt. Und Xhaferi verfolgte seinen Traum weiter, studierte an der Kunsthochschule in Pristina, wo er heute auch unterrichtet und kann mittlerweile von seiner Kunst leben. Er beschäftigt sich viel mit persönlicher Erinnerung und kollektiver Geschichte, dem öffentlichen und dem privaten Raum, Digitalität und neuen Medien.

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Blick aus dem PROGR. (Foto: David Fürst)

Solche Residenzen wie die des Kino Kosova Festivals sieht er als grossartige Möglichkeit, um sich mit Schweizer und internationalen Künstler*innen auszutauschen. Bis vor Kurzem, erklärt er, sei es auch nicht einfach gewesen, als kosovarische*r Künstler*in  in andere Länder zu reisen – oftmals hätte man einfach kein Visum erhalten. Seit dem ersten Januar 2024 können nun auch die kosovarischen Bürger*innen ohne Visum für 90 Tage in Schengenländer reisen. «Das hat vieles vereinfacht.» Nun steht Künstler*innen wie Yll Xhaferi ganz Europa offen.

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(Foto: David Fürst)