Manchmal funktioniert Demokratie wie am Schnürchen! Am 18. September 2013 hat der Gemeinderat über das weitere Vorgehen auf dem Gaswerkareal entschieden. Das Stadtplanungsamt erhielt den Auftrag, den Grundeigentümer des Areals, das EWB, schriftlich über den Entscheid zu informieren. Das ist laut Stadtplaner Mark Werren im Lauf des 23. Septembers geschehen.
Und siehe da: Bereits mit Datum vom 30. September verschicken das EWB und die Losinger Marazzi AG einen gedruckten «Synthesebericht Workshop-Verfahren 2012/13 Kurz-Version / September 2013», in dem zu lesen ist: «Losinger Marazzi AG nimmt als private Entwicklungspartnerin die inhaltliche und prozessuale Verantwortung bis zum Vorliegen einer Planungsvorlage wahr.»
Die Öffentlichkeit muss zugeben: Bei der Produktion von Broschüren ist Losinger Marazzi flink.
Fredi Lerch
Weil diese Firma von ihrem Glück ja erst seit der Briefkastenleerung am 24. September wissen kann, muss die Berner Öffentlichkeit neidlos zugeben: Bei der Produktion von Hochglanzbroschüren ist sie flink. Am 2. Oktober war die Publikation in den Händen der Teilnehmenden an den Workshops, die dem aktuellen Planungsstand vorausgegangen sind.
In das Vorwort des Berichts teilen sich Stadtplaner Mark Werren, EWB-CEO Daniel Schafer und Alec von Graffenried, Direktor Nachhaltige Entwicklung bei der Losinger Marazzi AG. Letzterem ist darin der wirklich schöne Satz gelungen: «Nachhaltig ist es, gemeinsam mit allen Projektbeteiligten und Interessengruppen neue Quartierstrukturen zu entwickeln und die Betroffenen, im Sinne echter Partizipation, mit einzubeziehen.»
Was man im Sandrain-Quartier sagt
Eine kleine Enttäuschung muss allerdings hinnehmen, wer den Bericht durchliest: Der Wille der Leute aus dem Sandrain- und dem Marziliquartier, die laut einer vorliegenden «Teilnehmerliste» am 3. Workshop doch unzweifelhaft und zweifellos ehrenamtlich «partizipiert» haben, sucht man vergebens. Haben die alle nur still zugehört? Oder haben sie zwar etwas gesagt, aber kein einziges vernünftiges Argument, das die Redaktion des «Syntheseberichts» mindestens hätte erwähnen können?
Hansjörg Ryser ist Präsident des Quartierleists Schönau-Sandrain und kann belegen, dass es anders ist. Der Vorstand des Leists hat nach dem dritten Workshop mit Datum 7. Februar 2013 zehn «Thesen zur Planung altes Gaswerkareal» verabschiedet. Dieses Dokument wurde damals sowohl an das Stadtplanungsamt als auch an die Projektleitung der Losinger Marazzi AG geschickt.
Niemand, der diese Thesen liest, wird sagen können, sie seien nicht sachlich, fundiert und substantiell.
Fredi Lerch
Niemand, der diese Thesen liest, wird sagen können, sie seien nicht sachlich, fundiert und substantiell. Nehmen wir nur das Stichwort Wohnraum, weil nach dem Willen des Gemeinderats deswegen ja die städtische Grundordnung geändert und Wohnraum im Umfang von bis zu 50’000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche gebaut werden soll.
Hier postuliert das Papier des Leists gleich in These 1 einen Mix von «Genossenschaftswohnungen, Alterswohnungen und erschwinglichen Familienwohnungen, also nicht nur Wohnungen im ‚gehobenen Segment’». Die These 2 regt an, platzsparend in die Höhe zu bauen und den Wohnungsbau beim Kopf der Monbijoubrücke zu zentrieren, um «das letzte nicht-überbaute, grosszügige Freizeit- und Naherholungsgebiet» der Stadt für «zukünftige Generationen» bestmöglich zu erhalten. Argumente von geradezu purlutterer stadtplanerischer Vernunft, die man im «Synthesebericht» gerne in diesem Wortlaut gelesen hätte.
Zweifellos wäre das Papier des Leists für die zuständigen Fachleute Pflichtlektüre. Bedauerlich deshalb, dass weder die Projektleitung der Losinger Marazzi AG – in diesem Fall etwas weniger flink – noch das Stadtplanungsamt bisher Zeit gefunden haben für eine Stellungnahme zu den Anliegen des Standortquartiers.
Was man im Marzili-Quartier sagt
Auch die Raumplanerin und SP-Stadträtin Gisela Vollmer hat als Vertreterin des Quartiervereins Marzili sehr wohl Argumente.
• Erstens: «Wir wollen auf diesem Areal keine Schwimmhalle, weil es auch nach Ansicht der städtischen Verkehrsplanung für den Öffentlichen Verkehr schwierig zu erschliessen ist.» (Hier gibt es übrigens eine Differenz zur These 6 des Schönau-Sandrain Leists: Dort wird der Bau der Schwimmhalle als möglich bezeichnet, wenn gleichzeitig der Durchgangsverkehr auf der Sandrainstrasse eliminiert und der Öffentliche Verkehr «deutlich» ausgebaut wird.)
• Zweitens: «Wir haben uns gegen die Verlegung der Marzili-Schule aufs Gaswerkareal gewehrt.» Diese Verlegung ist vom Tisch und zwar weil die Stadt unterdessen einen Weiterausbau der Schule am bisherigen Standort plant.
• Drittens: In Übereinstimmung mit dem Sandrainquartier ist man im Marzili der Meinung, das Gaswerkareal sei «vor allem öffentlicher Raum». Darum müsse der Wohnungsbau – in Übereinstimmung mit der Aareraumplanung 2008 – an der Strasse konzentriert werden. Konkret sei, so Vollmer, eine Wohnüberbauung beidseits der Sandrainstrasse und ihre Umfunktionierung von der Durchgangs- zur Quartierstrasse zu prüfen. Diese Variante hat der «Synthesebericht» vergessen zu erwähnen.
Partizipation in der Praxis
Gisela Vollmer hat den zugesandten Bericht durchgesehen und stellt fest: «Er spiegelt die Meinungen der Workshops nicht, insbesondere nicht die Aussagen, die von den Quartieren her klar formuliert worden sind.»
«Die Kurzfassung des Berichts hat die Konsistenz eines Luftballons.»
SP-Stadträtin Gisela Vollmer
Hansjörg Ryser sagt: «Der Meinungsbildungsprozess in den Workshops war anregend und aufschlussreich. Aber die Standpunkte waren sehr heterogen – bei den unterschiedlichen Hintergründen der gut fünfzig Teilnehmenden keine Überraschung. Vor allem ist im Plenum nie eine eigentliche Schlussverlautbarung diskutiert worden. Darum konnte man aus den Workshops die unterschiedlichsten Folgerungen ableiten.»
Diese Folgerungen hat nun die Marazzi Losinger AG nach Public-Relations-Überlegungen formuliert. Verständlich: Immerhin sollte mit dem Getexteten ein rotgrün dominierter Gemeinderat überzeugt werden. Vollmers Resümee nach der Lektüre: «Die Kurzfassung des Berichts hat die Konsistenz eines Luftballons.»
Vor dem Hintergrund dieser Kritik zeigt sich die zukunftsweisende Qualität des PR-Tons, den im «Synthesebericht» der Vorwortautor Alec von Graffenried so bewundernswürdig anschlägt: «Dieser Dialog war für uns als Immobilienentwicklerin sehr spannend.»