Der Kipppunkt ist am 18. September 1982 erreicht: Mit einem Demonstrationszug unterstützen Jugendliche in Bern ihre Forderung nach einer Wiedereröffnung der ehemaligen Reitschule als autonomes Jugendzentrum. Als Beobachterin am Rande mit dabei ist auch die FDP-Grossrätin Leni Robert.
Kaum bei der Reitschule angekommen, werden die Demonstrierenden von einem Grossaufgebot von Polizeigrenadieren aufgehalten, mit Gewalt auf den Vorplatz der Polizeikaserne am Waisenhausplatz getrieben und dort stundenlang festgehalten. Unter den Festgehaltenen ist auch die FDP-Grossrätin. Verantwortlich für den Polizeieinsatz sind Gemeinderat Marco Albisetti und der Vorsteher der Stadtpolizei Otto W. Christen, beide ebenfalls Aushängeschilder der Berner FDP.
Empört berichtet sie am Tag nach der Demonstration auf einer Pressekonferenz vom brutalen und unverhältnismässigen Polizeieinsatz.
«Es war meine erste Begegnung mit staatlicher Gewalt», erzählt Leni Robert an der Buchvernissage vom Montagabend im Berner Rathaus, wo die von der Journalistin Bettina Hahnloser verfasste Biografie vorgestellt wird. Empört berichtet sie am Tag nach der Demonstration auf einer Pressekonferenz vom brutalen und unverhältnismässigen Polizeieinsatz. Der Vorstand der stadtbernischen FDP sieht das Problem aber nicht beim Vorgehen der Polizei, sondern bei der Kritik am Parteikollegen Albisetti. Er verurteilt Leni Roberts Auftritt als Nestbeschmutzung und als Solidarität mit Gesetzesbrechern.
Vom Grossrat über den Nationalrat zur ersten Frau im Berner Regierungsrat
Als besonders erfolgreich erweist sich Leni Robert bei Parlamentswahlen. Schon bei der ersten Wahl nach Einführung des Frauenstimmrechts ist sie 1971 als einzige Frau auf der Liste der Jungfreisinnigen in den Berner Stadtrat gewählt worden. Bei den Grossratswahlen von 1974 landet sie auf dem ersten Ersatzplatz der FDP-Liste und rutscht 1977 in das Kantonsparlament nach. Auch bei den Nationalratswahlen 1979 landet sie auf dem ersten Ersatzplatz. Bei den Grossratswahlen von 1982 erzielt sie als FDP-Vertreterin das beste Stimmenergebnis sämtlicher Kandidatinnen und Kandidaten aus bürgerlichen Parteien.
Nach heftigen parteiinternen Auseinandersetzungen bietet ihr die FDP-Parteiführung schliesslich den letzten Listenplatz an, was Leni Robert ablehnt.
Trotzdem will die Berner FDP sie bei den Nationalratswahlen 1983 nicht mehr auf ihrer Liste haben. Nach heftigen parteiinternen Auseinandersetzungen zwischen städtischer und kantonaler FDP bietet ihr die Parteiführung schliesslich als Kompromiss den letzten Listenplatz an, was Leni Robert ablehnt. Zusammen mit weiteren Dissidenten aus der FDP und mit Vertreterinnen und Vertretern des Jungen Bern kandidiert sie auf einer «Freien Liste» für den Nationalrat und wird prompt gewählt. Gleichzeitig verliert die FDP Bern einen ihrer damals noch 6 Sitze im nationalen Parlament.
Noch dicker kommt es für die FDP bei den Regierungsratswahlen 1986: Der Kanton Bern steht unter dem Schock der Berner Finanzaffäre, und die beiden bisherigen FDP-Regierungsräte stellen sich nicht mehr zur Wiederwahl. Bei der Wahl geht die Partei, die sich seit der Gründung des Kantons als staatstragend verstanden hatte, gleich gänzlich leer aus. Gewählt werden Benjamin Hofstetter von der Freien Liste als Vertreter des Berner Juras und seine Parteikollegin Leni Robert. Diese wird damit die erste Regierungsrätin des Kantons Bern.

Schicksalsschläge und Anfeindungen
Alle diese Karriereschritte zeichnet Bettina Hahnloser in ihrem Buch kenntnisreich und einfühlsam nach. Sie konnte sich dabei unter anderem auf eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten stützen, die Leni Robert aufbewahrt hatte. «Es war kein Archiv, sondern ein Keller voller Papier», wird Leni Robert an der Buchvernissage über dieses Material sagen.
Ausgiebig gewürdigt wird im Buch von Bettina Hahnloser auch das alles andere als einfache Privatleben Leni Roberts. Schon nach wenigen Ehejahren stirbt ihr Ehemann und Vater des einzigen Sohnes an Krebs. Sie arbeitet als Journalistin und schafft es irgendwie, Erwerbstätigkeit, politische Arbeit und die Aufgaben der alleinerziehenden Mutter aneinander vorbeizubringen. Dafür wird sie von vielen bewundert, von andern aber auch angefeindet, nicht zuletzt von politisierenden Männern, die sich durch die plötzlich vorhandene weibliche Konkurrenz bedroht fühlen.
Als sie seine Avancen zurückweist, entwickelt er sich zum üblen Stalker, der sie mit verleumderischen Schreiben eindeckt.
Besonders dreist treibt es ein FDP-Grossrat, der eine Zeitlang als «Bund»-Redaktor tätig war. Er schreibt begeisterte Kommentare über die politischen Aktivitäten von Leni Robert, in die er sich offenbar verliebt hatte. Als sie seine Avancen zurückweist, entwickelt er sich zum üblen Stalker, der sie mit verleumderischen Schreiben eindeckt. 1983 gründet ebendieser Stalker – dessen Name im Buch verschwiegen wird, obwohl es sich um eine öffentliche Person handelt, deren Identität leicht zu eruieren ist – zusammen mit dem Rechtsfreisinnigen Erwin Bischof den «Berner Bär». Von Beginn an fährt das Blatt eine langanhaltende Kampagne gegen Leni Robert, die erst nach einem Strafverfahren gegen dessen Geschäftsführer eingestellt wird.
Rückblick auf viele Errungenschaften
Das Buch vermittelt nicht nur das Bild einer beeindruckenden Person, sondern zeichnet auch ein anschauliches Bild der politischen Situation in Stadt und Kanton Bern in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Sehr vieles hat sich in diesen Jahren verändert, und nicht selten zum Guten. Allein der Rückblick auf Errungenschaften, die Leni Robert in ihrer nur vierjährigen Tätigkeit als Erziehungsdirektorin des Kantons Bern im Schulwesen und an der Universität bewirken konnte, zeugt von ihrem nachhaltigen Wirken und von ihrer politischen Weitsicht.
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Das Buch macht aber auch nachdenklich: Bei der Lektüre über das rechtsbürgerliche Beharren auf Recht und vermeintlicher Ordnung in den 1980er-Jahren und über die Machenschaften zur Ausschaltung von Leni Robert innerhalb der Berner FDP wird man unweigerlich an aktuelle Vorgänge in dieser Partei erinnert. Auch heute scheint es dort wieder opportun zu sein, nach polizeilicher Gewalt zu rufen und liberale Stimmen, vor allem weibliche, klein zu halten. Dass dies politisch nicht gerade klug ist, müsste das Beispiel von Leni Robert eigentlich klar gemacht haben: Vor ihrem Austritt aus der FDP hatte diese Partei im Kanton Bern noch 6 Sitze im Nationalrat. Heute ist es gerade noch einer. Der Aufruhr um Leni Robert ist der Partei gar nicht gut bekommen. Das aber scheint die aktuelle Leitung dieser Partei nicht daran zu hindern, die damals gemachten Fehler zu wiederholen.
Leni Robert und ihre Biografin Bettina Hahnloser im Berner Ratssaal. (Foto: Urs Frieden)
