Institutionen brauchen 
Leitung, keinen Chef

von Fredi Lerch 5. Dezember 2018

Das Wohnheim monbijou bern bietet Menschen, die nach schwierigen Zeiten den Weg zurück in die Gesellschaft suchen, begleitetes Wohnen an. Eben ist die Institution 40 geworden. Seit mehr als 35 Jahren wird sie von einem Team geleitet.

Zum vierzigjährigen Bestehen dokumentiert «monbijou bern – begleitetes wohnen in der stadt» in einer Jubiläumsschrift Geschichte und Funktionsweise des Wohnheims Monbijou, wie die Institution bis 2008 hiess. Der Journal B-Mitarbeiter Fredi Lerch hat sie journalistisch und redaktionell betreut. Darin wird die geschichtliche Skizze einerseits ergänzt mit «Aussenblicken» von SupervisorInnen, die jeweils phasenweise in der Institution mitarbeiten, von ehemaligen BewohnerInnen, von einer Praktikantin, einem Gewerkschafter und einer Vertreterin der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Zum anderen bietet die Broschüre «Innenblicke» der Administratorin und von Mitgliedern des Hauswirtschafts- und des Nachtpräsenzteams. Dazu kommt eine ausführlich dokumentierte Diskussion mit dem achtköpfigen Leitungsteam zur Frage: Geht das überhaupt, eine Institution für gut dreissig Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu leiten ohne einen Chef?

Journal B dokumentiert einen Ausschnitt aus dieser Diskussion. (Red.)

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Und wie steht es mit der Identifikation mit dem Arbeitsplatz im Vergleich zu einer hierarchisch organisierten Institution?

Marisa Schürch: Die Identifikation ist grösser, davon bin ich überzeugt. Weil: Wir gestalten unseren Arbeitsplatz voll aktiv mit. Wir leiten beim Arbeiten. Und mich interessiert das meiste, was hier abgeht, weil es ja eben auch mein Laden ist. Darum hat es auch mit mir etwas zu tun, was ein anderes Teammitglied macht. Auch mir ist wichtig, dass das gut herauskommt. Und gleichzeitig gebe auch ich mein Bestes hinein.

Roman Wyss: Das finde ich einen wichtigen Punkt. Alles interessiert. Das ist effektiv so, das merke ich auch. Über die Identifikation wird auch das Interesse stark. Gleichzeitig bin ich immer wieder mit einer riesigen Informationsflut konfrontiert. Während in hierarchischen Betrieben gewisse Informationen nicht zugänglich sind, stehen hier alle offen zur Verfügung. Aus der Motivation, alles wissen zu wollen, wird eine Gratwanderung: Man will gleichzeitig möglichst vieles hereinholen und fokussiert bleiben auf die Bewohnerinnen und Bewohner, deren Bezugsperson ich bin und auf die aktuellen Projekte des Ressorts, in dem ich arbeite.

Claudio Jakob: Was vielleicht auch hierher gehört: Wir haben die Regel, dass alle in Teilzeitanstellungen von 60 bis 80 Stellenprozenten arbeiten. Das ist sonst in Leitungsfunktionen nicht möglich. Wer leiten will, muss andernorts 80- bis 100-Prozent-Stellen akzeptieren. Hier habe ich mit 60 Prozent die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, mich einzubringen, daneben aber im Privaten meine Projekte weiterzuverfolgen, ohne auszubrennen. Auch das erhält die Motivation.

Das klingt jetzt alles sehr schön. Ist man hier denn tatsächlich gefeit vor Konflikten, wie man sie in anderen Betrieben kennt? Stichworte: Meinungsleader und Meinungsleaderinnen, informelle statt formelle Hierarchien, Positionskämpfe, verdeckte Rivalitäten, heimliche Führungsansprüche, sanft-sublime Durchsetzungsmanöver?

Daniel Kappeler: Solche Fragen kommen schnell, wenn es um Teamleitung geht: Was macht ihr mit versteckten Konflikten und wie löst ihr sie? Aber unser Selbstverständnis ist gar nicht so, dass wir von einer starken Harmonieorientierung ausgehen. Sondern: Die Struktur muss ja leben, und sie lebt von Verschiedenheiten. Dabei will ich nichts schönreden. Ich merke an mir, dass auch ich nicht gefeit bin davor, mir am Arbeitsplatz Komfortzonen einzurichten. Die Frage, wie wir Konflikte lösen, hat für mich etwas mit dem Vorurteil zu tun, Konflikte seien etwas, das nicht dazugehören dürfe, das störe und deshalb aus dem Weg geräumt werden müsse. Nein! Zu fragen ist, was heisst Konflikt? Ich kenne nichts, das wir nicht lösen könnten. Natürlich gibt es manchmal ein Ringen, jemand versucht sein Ding durchzubringen, jemand scheisst’s an, und bei einem nächsten Traktandum gibt’s eine gehässige Reaktion. Aber da finde ich: Um Himmels willen, warum auch nicht?

Katharina Müller: Ich würde auch sagen: Konflikte? Die tragen wir aus. Dann haben wir halt mal Krach. Wenn wir später in die Pause gehen und zusammen eine Glace essen, dann ist das wieder in Ordnung. Der Konflikt ist nicht unter den Tisch gekehrt, sondern: Wir können das, wir haben uns offen die Meinung gesagt, und danach ist es in Ordnung, weil wir den Konflikt in einer Art austragen, die den anderen nicht verletzt.

Es hat noch nie eine Kündigung aus Protest gegeben?

Müller: Es hat eine Mitarbeiterin gegeben, die Heimleiterin werden wollte. Weil das hier nicht geht, ist sie in diesem Sinn aus Protest gegangen.

Fritz Jost: Ob wir es auf der Führungsebene oder auf der Betreuungsebene betrachten: Es gibt hier ein gemeinsames Menschenbild. Wir arbeiten mit den Leuten in eine Richtung, wir sprechen die Konflikte an, wir gehen auf die Leute zu, wir suchen die Beziehung und wollen mit ihnen etwas erarbeiten. Dieses Menschenbild leben wir vermutlich sowohl auf der Führungsebene, als auch dann, wenn es um Betreuungsthemen geht.

Wyss: Auch dass das Gegenüber auf der gleichen Hierarchiestufe steht, wenn es zum Konflikt kommt, erleichtert die Auseinandersetzung. Es ist eine fairere, ausgeglichenere Situation. Auch wenn ich ‘verliere’, kann ich mir sagen: Okay, aber ich ‘verliere’ nicht deswegen, weil das Gegenüber höher steht. Das finde ich wertvoll. Dadurch, dass die Konflikte nicht hierarchisch gefärbt sind, ergeben sich bessere Lösungen.

Ihr arbeitet ja mit einer schwierigen Klientel. Nicht alle sind Engel, die hierherkommen. Gibt es nicht auch Schlitzohren, die versuchen, euch als Teamleitung zu spalten?

(Gelächter am Tisch)

Müller: Wir sind schlauer. – Natürlich passiert das, auf jeden Fall. Aber man merkt es ja.

Kappeler: Hier ist wieder die Transparenz, die schon angesprochen worden ist, zentral. Wir schreiben ja aus den Gesprächen mit den Bewohnern und Bewohnerinnen sehr viel auf. Wenn ich darin lese, wird vieles offen und transparent und verhindert schon dadurch ein Stück weit Spaltungsversuche.

Schürch: Und wir sind acht Köpfe, die mitdenken. Irgendjemand merkt’s und irgendjemand bringt’s als Thema. Acht Köpfe sind eine Riesenressource.

Es gibt bei formellen Hierarchien einen Vorteil: Sie sind ausgewiesen. In nichthierarchischen Strukturen entstehen im schlechten Fall nicht ausgewiesene, informelle Hierarchien. Ist das hier kein Problem?

Schürch: Es gibt hier ganz klar informelle Hierarchien. Das hat viel mit Erfahrung zu tun, und vielleicht auch ein bisschen mit der Wesensart der einzelnen. Und trotzdem ist die Arbeit jedes Teammitglieds gleichwertig – wir bekommen ja auch gleich viel Geld dafür. Hier gilt die Lohngleichheit. Für mich hebt das eine das andere auf. Ich profitiere zum Teil auch von den informellen Hierarchien, insbesondere in den ersten Jahren war die Erfahrung der anderen wichtig, und mir fiel auch kein Zacken aus der Krone, wenn ich Wissen abholte, das hier seit zwanzig Jahren gewachsen war. Trotzdem war meine Arbeit vom ersten Tag an gleich viel wert wie jede andere eines Teammitglieds.»

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