«In der Stadt ist der Rassismus viel versteckter»

von Noah Pilloud 15. September 2025

Antirassismus In ihrem neuen Buch «Rassismus im Rückspiegel» blickt Angélique Beldner zurück auf die letzten Jahrzehnte und darauf, wie sich der Umgang der Schweizer Gesellschaft mit Rassismus verändert hat. Die Journalistin und Moderatorin im Gespräch über Fortschritt, Backlash und darüber, dass die Haltung mancher Städter*innen das Sprechen über Rassismus erschwert.

Das Buch heisst «Rassismus im Rückspiegel» am Ende werfen Sie jedoch auch einen Blick in die Zukunft. Dieser fällt sehr optimistisch aus. Woher nehmen Sie diese Zuversicht?
Angélique Beldner: Zunächst einmal bin ich im Grundsatz ein positiv denkender Mensch. Und ich will daran glauben, dass die Sensibilisierungsarbeit greift, die wir zur Verminderung von Rassismus leisten. Ohne daran zu glauben, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Natürlich gibt es Phasen, in denen auch ich zweifle und auch während des Schreibprozesses gezweifelt habe. Wenn man gewisse Entwicklungen auf der Welt beobachtet, könnte man denken, dass es in vielen Bereichen Rückschritte gibt. Die gibt es vielleicht kurzzeitig auch. Doch wie ich im Buch schreibe, folgt auf jede Bewegung eine Gegenbewegung. Je stärker die Bewegung ausfällt, desto stärker wird wohl die Gegenbewegung sein. Auch daraus entsteht wieder etwas Neues. Ich wollte nicht, dass das Buch negativ aufhört. Ich wollte so hoffnungsvoll wie möglich sein.

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Die Berner SRF-Moderatorin Angélique Beldner beim Sportplatz Weissenstein  (Foto: David Fürst).

Den aktuellen Backlash sprechen Sie auch im Schlusskapitel an, etwa wenn es um die Wokeness geht. Für einige Menschen ist sie heute ein Reizthema, weil sie sich durch sie in ihrer Redefreiheit eingeschränkt fühlen. Woher kommt dieser Backlash?
Wenn ein Thema in der Mitte der Gesellschaft ankommt, wird es auch in der Mitte der Gesellschaft diskutiert. Deshalb erscheint der Backlash so gross, weil in dieser Diskussion die Stimmen in die eine wie in die andere Richtung lauter sind und mehr wahrgenommen werden. Aus diesen extremen Stimmen erstarkt aber die Mitte.

Wenn Sie in den Rückspiegel schauen und die Entwicklung mit all den Fort- und Rückschritten sehen: Wo stehen wir heute in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Rassismus?
Ich betrachte im Buch, was wir zu welcher Zeit unter Rassismus verstanden haben und wie wir in der jeweiligen Zeit damit umgingen. Dabei fällt auf, dass das heutige Verständnis eines strukturellen, institutionellen Rassismus erst in den letzten Jahren angekommen ist. Das sehe ich als grossen Fortschritt. Erst so können wir das Thema dort anpacken, wo es seinen Kern hat. So gesehen sind wir also weiter als noch vor ein paar Jahren, aber es braucht noch sehr viel mehr. Zuerst kam die Erkenntnis, dann kamen erste Bemühungen für eine Veränderung. Jetzt geht es an die Umsetzung. Und da gibt es noch viel zu tun.

Ich bin nicht fremd, ich werde fremd gemacht.

Das Verständnis von Rassismus hat sich also verändert. Im Buch beschreiben Sie eine Ausdifferenzierung des Rassismusbegriffs: In den Siebzigerjahren wurde noch nicht zwischen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unterschieden, heute hingegen schon. Wo liegt denn da genau der Unterschied?
Es gibt Überschneidungen, aber die Begriffe sind nicht deckungsgleich. Fremdendfeindlichkeit kann ein Teil von Rassismus sein, aber Rassismus ist nicht ausschliesslich fremdenfeindlich motiviert. Ich war beispielsweise mit Rassismus konfrontiert aber nie direkt mit Fremdenfeindlichkeit. Ich bin nicht fremd, ich werde fremd gemacht. Zudem war die Fremdenfeindlichkeit, von der man in den Achzigern und Neunzigern gesprochen hat, eine sehr offensichtliche. Wenn zu dieser Zeit von Fremdenfeindlichkeit die Rede war, dann ging es um brennende Asylzentren, darum, dass Menschen Angst davor hatten auf der Strasse zusammengeschlagen zu werden. Das hat mit dem strukturellen Alltagsrassismus wenig zu tun.

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Angélique Beldner – vielen bekannt als Moderatorin der SRF-Sendung «1 gegen 100» (Foto: David Fürst).

Sie leben in Bern. Erleben sie den Umgang in der Stadt anders als in anderen Teilen der Schweiz?
Viele Städter*innen sehen sich oft als fortschrittlich und meinen, das Thema betreffe sie weniger, vielleicht auch deshalb, weil sie in der Stadt mit der sichtbaren Diversität eher konfrontiert sind. Diese Haltung erschwert das Sprechen über Rassismus. In der Stadt ist der Rassismus viel versteckter.

Inwiefern erschwert das die Diskussion über Rassismus?
Je versteckter, desto schwieriger ist es, etwas aufzuzeigen und zu benennen. Und schwierig sind Diskussionen oft mit Menschen, die sich selbst als bewusst antirassistisch sehen und geben wollen, es aber – meist ungewollt – nicht unbedingt sind. Gerade diese Menschen haben manchmal eine Verweigerungshaltung und wollen keine Diskussionen führen. Denn sie sind ja davon überzeugt, es längst besser zu wissen.

Verbinden wir Rassismus noch zu sehr mit einem individuellen moralischen Versagen, statt die strukturelle, gesellschaftliche Dimension zu erfassen?
Solange man auf dieser individuellen Ebene bleibt, bedeutet das, dass man nicht versteht, dass das Problem weit darüber hinaus geht. Wenn ich von meiner individuellen Geschichte erzähle, sehen viele die gesellschaftliche Dimension dahinter nicht. Dass es zwar eine individuelle Erfahrung sein mag, diese aber mit Strukturen in unserer Gesellschaft zu tun hat und damit eben mit uns allen. Es geht nur begrenzt um meine Geschichte oder jene eines anderen Betroffen. Es geht um unsere Geschichte. Die Geschichte unserer Gesellschaft.

Ich hatte nach dem ersten Buch mit Martin R. Dean, indem wir uns intensiv über unsere eigenen Rassismuserfahrungen austauschen, das Bedürfnis, für das neue Buch von meinen persönlichen Erfahrungen weg zu kommen.

Dennoch bilden Ihre persönlichen Erlebnisse den Hauptstrang im Buch. Weshalb haben Sie sich für diese persönliche, autobiographische Herangehensweise entschieden?
Ich hatte nach dem ersten Buch mit Martin R. Dean, indem wir uns intensiv über unsere eigenen Rassismuserfahrungen austauschen, das Bedürfnis, für das neue Buch von meinen persönlichen Erfahrungen weg zu kommen. Denn persönliche Erfahrungen sollten nicht nötig sein, um Rassismus benennen zu können. Ich wollte die gesellschaftliche Dimension aufzeigen und wie sich ein Land über die Jahrzehnte im Umgang mit Rassismus entwickelt hat. Im Schreibprozess merkte ich aber, dass persönliche Erfahrungen es zugänglicher und wohl auch nachvollziehbarer machen. Und so entstand dieser sehr persönliche Blick auf ein Stück Schweizer Gesellschaftsgeschichte.

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Angélique Beldner, prägende TV-Stimme der Schweiz, liest am Mittwoch im Progr aus ihrem Buch vor (Foto: David Fürst).

Viele Erlebnisse, die Sie schildern haben auch mit Misogynie und Sexismus zu tun. Sie benutzen dann jeweils die Formulierung «als Schwarzes Mädchen» oder «als Schwarze Frau». Was macht diese Mehrfachdiskriminierung von Schwarz und Frau sein in der Schweiz Ihrer Meinung nach aus?
Es ist eine Diskriminierung, die oft aneinandergeknüpft ist. Im Buch beschreibe ich das Beispiel, dass ich im Urlaub als Kind einmal für eine Prostituierte gehalten wurde. Ich weiss nicht, wie manchem weissen Schweizer Mädchen das passiert ist. Junge Frauen sind ohnehin häufig mit Sexualisierung konfrontiert, bei Schwarzen Mädchen spielt ein zusätzlicher Aspekt hinein. Bei Schwarzen Männern sind es andere Aspekte. Racial Profiling erleben Schwarz gelesene Männer beispielsweise häufiger als Schwarz gelesene Frauen.

Kommen wir nochmals auf den Umgang mit Rassismus in Bern zu sprechen: Auf institutioneller Ebene geschieht hier einiges. Es gibt die Aktionswochen gegen Rassismus und Anlaufstellen. Auch Zivilgesellschaftliche Initiativen gibt es einige. Doch Diskussionen über konkrete Fälle von Rassismus erhitzen nach wie vor die Gemüter. So war es etwa beim Wandalphabet im Schulhaus Wylergut der Fall. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
An den Bestrebungen, die Sie ansprechen, sehen wir, dass viele eben nicht rassistisch sein wollen und weiterkommen möchten. Gleichzeitig sieht man an Beispielen wie dem Wandalphabet, dass man sich über gewisse Dinge lange kaum Gedanken gemacht hat. Dies führt dazu, dass nicht wenige dann erst einmal abwehrend reagieren. Dann fallen Sätze wie: «Ich bin selbst mit diesem Wandalphabet aufgewachsen und hatte nie ein Problem damit und mir hat auch nie eine von Rassismus betroffene Person gesagt, dass sie ein Problem damit hat.» Genau deshalb sind Ausstellungen wie jene, die es zum Wandalphabet gab, unheimlich wertvoll, weil sie einerseits aufklären und anderseits auch einen Diskurs anregen, der notwendig ist, um gewisse Dinge zu dekonstruieren.

Einige Dinge, die meine Kinder in den ersten Schuljahren erlebt haben, erachtete ich damals selbst nicht als problematisch. Heue sehe ich das kritischer. Beim Spiel ‹Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann› würde ich heute einschreiten.

Wo wir vom Wandalphabet sprechen: Die rassistische Sozialisierung durch die Bildung nimmt viel Raum ein in Ihrem Buch. Sie beschreiben, wie Sie selbst in der Primarschule rassistisches Denken vermittelt erhalten haben. Heute haben Sie selbst Kinder. Wie gehen die Schulen heute mit dem Thema Rassismus um?
Das ist nach wie vor unterschiedlich und hängt – leider – von den Lehrpersonen ab. Wenn es eine Auseinandersetzung gibt, dann weil einzelne Lehrpersonen sensibilisiert oder selbst betroffen sind. Institutionalisiert ist das noch nicht. Noch ist die Erkenntnis nicht da, dass dieses Thema so wichtig ist, dass wir uns alle damit befassen müssen. Gleichwohl habe ich in der Schullaufbahn meiner Kinder eine Entwicklung erlebt. In dieser Zeit habe ich aber auch selbst einen Wandel durchgemacht. Einige Dinge, die meine Kinder in den ersten Schuljahren erlebt haben, erachtete ich damals selbst nicht als problematisch. Heue sehe ich das kritischer. Beim Spiel «Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann» würde ich heute einschreiten.

Im Buch beschreiben Sie, dass sie eine Selbstlüge benötigten, um sich Ihren Raum zu nehmen. Heute haben Sie diesen Raum und können ein Vorbild für andere sein. Was wollen Sie jungen Schwarzen Menschen, die sich diesen Raum nehmen wollen, mit auf den Weg geben?
Lasst euch nicht entmutigen! Und vergesst nicht, dass ein Raum mit euch stets wertvoller wird. Weil ihr einen Raum erweitert, neue Perspektiven mitbringt.


Angélique Beldner: Rassimus im Rückspiegel. 192 S. Limmat Verlag, 2025