Im Teigwarengraben

von Jovana Nikic 29. April 2024

Kolumne Manchmal trifft man Menschen, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Aber worüber sprechen? Unsere Kolumnistin hat Antworten.

Kennen Sie das? Ob an der Bushaltestelle bei der Lorraine, im Hallenbad im Neufeld oder beim Klassentreffen an der Aare: Immer wieder begegnet man Menschen aus der Schulzeit, dem alten Turnverein oder dem Orchester, Leute, die man seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Leute, die man damals öfter sah als die eigenen Eltern.

Und da ist er: ein riesiger Graben. Ein Graben gefüllt mit verstrichenen Jahren, eine Lücke der Teilhabe am gegenseitigen Leben.

Und darauf folgt eine Abhandlung standardisierter Fragen, wie es denn der Person gehe, was sie im Leben treibe, mit der Idee, diesen Graben nach jeder Antwort ein kleines bisschen zuschütten zu können und sich wieder so zu kennen, wie vor der mehrjährigen Pause. Also fragt man, ob sie noch mit Simon zusammen sei, Nein? Hätte man sich ja denken können. Und doch fragt man, weil man sich im Smalltalk nur auf den letzten Wissenstand beziehen kann. Man kannte sich schliesslich wirklich gut.

Ein regelrechtes Fettnäpfchen-Hüpfen, wenn man bedenkt, dass verdammt viel in fünf Jahren passieren kann. Doch wo anfangen? Bei der Optik passiert ja Einiges: Der damals kleinste Mitschüler ist nun drei Köpfe grösser als man selbst und obschon man erstaunt darüber ist, scheint es doch recht bescheuert, das Gespräch mit dem Erstaunen über dessen Wachstumsschub zu beginnen.

Ein regelrechtes Fettnäpfchen-Hüpfen, wenn man bedenkt, dass verdammt viel in fünf Jahren passieren kann.

Auch Haarschnitte, Haarfarbe, Gesichtszüge oder Statur änderten sich womöglich, und darauf zu verweisen, wie der Mensch damals war, scheint mir fraglich, ja gar übergriffig. «Boah hast du abgenommen, so toll» – im ersten Moment ein Kompliment, beim zweiten Durchdenken heisst das einfach: Früher warst du dicker.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass man einfach über Veränderungen hinwegsehen könnte, diese gar nicht erst wahrnehme. Dennoch ist es nicht an uns, diese zu kommentieren. Wahrscheinlich daher der Satz «Gut siehst du aus!» Kein Vergangenheitsbezug, kein Vorurteil darüber, wieso die Person abgenommen hat und vor allem – und das feiere ich:  Keine Selbstoffenbarung darüber, dass die eigene Wahrnehmung gefragt sei, nur weil man sich früher mal gut kannte, im Sinne von: Ich weiss wie du früher mal warst.

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Wenn es nicht das Optische ist oder Beziehungen, die man thematisiert, stellt sich die Frage nach dem beruflichen Werdegang. Doch wieso? Fragen wir, weil es uns wirklich interessiert, oder weil wir innerlich tief hoffen, dass die Person nicht mehr erreicht haben könnte als wir selbst? Fragen wir, weil wir erstaunt über die Entwicklung der vor uns stehenden Person sind oder weil wir uns einfach selbst besser fühlen möchten?

Letztens poppte eine Nachricht in unserer Whatsapp-Gruppe der Fachmittelschule auf. Eine Einladung zum Klassentreffen. Wieso treffen wir uns denn jetzt? Kontakt hat man ohnehin mit den Leuten gehalten, mit denen man es wollte.

Es bleibt die grosse Hoffnung, dass man selbst jene Person sein könnte, die die vielversprechendste Entwicklung durchlebt hat.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist es tatsächlich Folgendes: Eine Evaluation, um sich selber einordnen zu können. Wer ist wie weit gekommen, wer hat sich inwiefern verändert und die grosse Hoffnung, dass man selbst jene Person sein könnte, die die vielversprechendste Entwicklung durchlebt hat. Den Fragen nachzugehen, ob der Klassenclown noch immer rumalbert oder womöglich nun an Depressionen leidet, ob die Streberin ihren Hörnlisalat mit den anderen Beilagen auch so vergleicht wie ihre Noten damals, oder auch erwachsen geworden oder gar einer Sekte beigetreten ist.

Bei Begegnungen mit jahrelangen Gräben bleibt nicht viel mehr als «Gut siehst du aus» zu sagen, sich zu überlegen, ob man sich wirklich melden wird, wenn man es nach dem unangenehmen Smalltalk behauptet;  mit bestem Wissen und Gewissen ans Klassentreffen zu gehen als jene Person die man heute ist, ohne sich für irgendetwas rechtfertigen zu müssen, das die anderen nicht erlebt haben;, respektvoll zu bleiben, sich einzugestehen, dass man sich nicht mehr kennt und seinen Teigwarensalat  so gut zu würzen, dass er im Direktvergleich als Bester abschneidet.