«Gewalt ist keine Privatsache»

von Janine Schneider 4. August 2025

Häusliche Gewalt Das Stadtberner Projekt «Tür an Tür» möchte die Nachbarschaft und das nahe Umfeld für häusliche Gewalt sensibilisieren. Aktuell setzt es im Stadtteil 4 Kirchenfeld-Schosshalde Impulse.

An der Wand hängt ein grosser Bogen Papier, auf welchen verschiedene Teilnehmer*innen mit dickem Filzstift ihre Erwartungen an den heutigen Nachmittag notiert haben.

«Mich weniger überfordert fühlen, wenn ich Gewalt mitbekomme.»

 «Wie eingreifen, ohne selbst ‹übergriffig› zu sein?»

«Wann muss ich die Polizei alarmieren?»

Rund 20 Personen haben sich an diesem Samstagnachmittag Ende Juni für einen Workshop zu häuslicher Gewalt im Träffer eingefunden, dem ehemaligen Kirchgemeindehaus Schosshalde, seit einigen Jahren Quartiertreff. Unter den Teilnehmenden sind auffallend viele junge Frauen. Einige sind da, weil sie beruflich mit häuslicher Gewalt zu tun haben, andere, weil sie in ihrer direkten Nachbarschaft immer wieder damit konfrontiert sind. «Man fühlt sich einfach sehr ohnmächtig», wird später eine Teilnehmerin erzählen, die regelmässig mitbekommt, dass die Nachbarsmädchen geschlagen werden.

Der Workshop ist ein Anlass von Tür an Tür – einem Stadtberner Projekt, das die Nachbarschaft für die Thematik häusliche Gewalt sensibilisieren und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen soll. Nachdem das Projekt von 2020 bis 2023 im Stadtteil Bümpliz-Bethlehem erstmals durchgeführt wurde, zog es 2024 weiter in den Stadtteil 4 Kirchenfeld-Schosshalde.

Im Jahr 2024 handelte es sich bei 47 Prozent der Strafanzeigen in der Schweiz um Fälle häuslicher Gewalt.

Die Zahlen, die Adina Merlin, Projektleiterin von Tür an Tür, gleich zu Beginn des Workshops aus der Polizeistatistik zitiert, zeigen das Ausmass des Problems: Im Jahr 2024 handelte es sich bei 47 Prozent der Strafanzeigen in der Schweiz um Fälle häuslicher Gewalt, umgerechnet sind täglich durchschnittlich 58 Menschen von häuslicher Gewalt betroffen. Und dabei handelt es sich nur um die Fälle, die zur Anzeige kommen. «Wir gehen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus», betont Merlin.

Die Nachbarschaft spielt eine grosse Rolle

Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG) versteht unter häuslicher Gewalt jegliche Formen körperlicher, sexueller*, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt. Weiter schreibt das EBG, häusliche Gewalt finde «meist innerhalb der Familie und des Haushalts statt, kann aber auch Personen aus aktuellen oder ehemaligen Beziehungen betreffen, die nicht im selben Haushalt wohnen.»

Ein Umfeld, das wegschaut, wenn häusliche Gewalt ausgeübt wird, legitimiert diese auch.

«Insbesondere psychische und ökonomische Gewalt ist viel schwieriger zu erkennen als physische Gewalt», betont Adina Merlin, ihre Spuren seien weniger offensichtlich. Ökonomische Gewalt liegt beispielsweise vor, wenn jemand keinen Zugriff auf das eigene Konto hat, psychische bzw. soziale Gewalt zum Beispiel, wenn eine Person dem Partner, der Partnerin immer mitteilen muss, wo sie sich befindet. Stefanie Brem, eine Anwältin aus dem Quartier, die sich auf Familienrecht spezialisiert hat, weist darauf hin, dass die strafrechtliche Definition häuslicher Gewalt viel enger ist: «Soziale oder ökonomische Gewalt ist in der Regel strafrechtlich nicht relevant.»

Nachdem Adina Merlin in vielen Angeboten für Opfer häuslicher Gewalt gearbeitet hat, interessierte es sie, in der Prävention tätig zu werden. (Foto: Janine Schneider)

Adina Merlin hat lange Zeit in der Opferhilfe gearbeitet, in Schutzeinrichtungen für Frauen und Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. «Damals habe ich gemerkt, dass Nachbarschaften eine sehr grosse Rolle spielen, wenn es um häusliche Gewalt geht», erklärt sie, «ein Umfeld, das wegschaut, wenn häusliche Gewalt ausgeübt wird, legitimiert diese auch.» Handkehrum könne Zuspruch oder Hilfe von aussen den Wendepunkt in einer gewaltvollen Beziehung darstellen. «Ich habe viele Geschichten gehört von Frauen, die täglich gehofft haben, dass sie Hilfe von aussen bekommen, dass ein Nachbar oder eine Nachbarin die Polizei ruft oder einfach nur sagt, ich höre, was da passiert.»

Beziehungen sind Privatsache, Konflikte sind Privatsache, aber Gewalt ist es nicht.

Das ist auch der Grund, weshalb auf eine interfraktionelle Motion im Stadtrat hin das Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz der Stadt Bern zusammen mit der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit ein neues Projekt aufgleiste, das sich bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt spezifisch dem Umfeld widmet. Ziel ist es, mehr Wissen zu häuslicher Gewalt zu vermitteln und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Denn es brauche einen gesellschaftlichen Wandel, sagt Merlin: «Wir müssen verstehen, dass häusliche Gewalt keine Privatsache ist. Beziehungen sind Privatsache, Konflikte sind Privatsache, aber Gewalt ist es nicht.»

Erfahrungen aus dem Pilotprojekt

Für die erste Durchführung sei der Stadtteil 6 gewählt worden, erklärt Merlin, weil es in Bümpliz und Bethlehem starke Quartierstrukturen gibt: viele Vereine, Institutionen, Quartiertreffpunkte, Schlüsselpersonen, die ins Projekt miteinbezogen werden konnten. «Das ist nun im Stadtteil Kirchenfeld-Schosshalde sehr viel schwieriger», sagt die Sozialarbeiterin. Tatsächlich ist der Stadtteil sehr heterogen und weit verzweigt, es gibt nur wenig Quartierstrukturen, die genutzt werden können. Auch sonst gäbe es neue Herausforderungen. «So stossen wir oft auf das Vorurteil: Häusliche Gewalt gibt es hier bei uns nicht.» Dass das nicht stimmt, zeigt sich am Workshop im Träffer: Praktisch alle hatten schon einmal in ihrem Umfeld oder der Nachbarschaft mit häuslicher Gewalt zu tun.

Wir stossen oft auf das Vorurteil: Häusliche Gewalt gibt es hier bei uns nicht.

Auf welche Weise ist das Projekt Tür an Tür nun im Stadtteil 4 präsent? Im Juni fand eine Plakataktion im Qartier statt. Ein Rundgang auf der Website zeigt Wege in und aus häuslicher Gewalt auf. Workshops wie derjenige im Träffer sollen konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigen sowie sensibilisieren und können privat angefragt werden. Die Stadt übernimmt die Kosten. Ausserdem sollen vermehrt Anregungen aus dem Quartier aufgegriffen werden. Eine solche Aktion fand am Valentinstag statt, als Freiwillige Papierblumen und Informationsflyer verteilten.

Der Onlinerundgang wurde zu einem analogen Rundgang umgestaltet und konnte so eine Weile im Stadtteil begangen werden. (Foto: zvg)

Tür an Tür bleibt noch bis Ende 2026 im Quartier Kirchenfeld-Schosshalde. Danach soll es weiterziehen. Und die Frage stellt sich, was bleibt, wenn das Projekt fort ist. «Wir haben schon im Stadtteil 6 gemerkt, dass es nicht so einfach ist, das Thema langfristig und nachhaltig im Quartier zu implementieren.» Tür an Tür versteht sich denn auch eher als Impulsgeber. In welchem Quartier es als nächstes Impulse setzt, ist noch unklar.