Politik - Kolumne

Gesund?

von Sophie 1. Juli 2025

Vista Activa Sophie widmet sich in dieser Kolumne der Frage, woher unsere Vorstellungen eines gesunden Körpers stammen. Und wünscht sich eine Gesellschaft, die nicht den perfekten Menschen formen will.

Letzten Sommer begleitete mich das Buch Hässlichkeit von Moshtari Hilal. Ich wünschte, ich hätte es schon vor Jahren gelesen. Es ist ein Bruch mit unserem Verständnis von Hässlichkeit und verlieh mir die Stärke, mich in meinem haarigen Körper wohlzufühlen. Stärke, die ich mir und vielen anderen Menschen schon lange wünsche.

Doch nicht nur darum hätte ich das Buch schon gerne vor ein paar Jahren gelesen. Hilal beschreibt in ihrem Buch, mit welchem gesellschaftspolitischen Kalkül Bilder von Hässlichkeit entworfen wurden. Wie Ärzt*innen die Gesichter von Menschen vermessen und damit systematisch zur Ausgrenzung beigetragen haben. Wie Schönheitschirurgie Menschen den Zugang zu anderen gesellschaftlichen Schichten verspricht, also beim Ablegen ihrer «Hässlichkeit», statt beim Umdenken des Hässlichen ansetzt.

Hässlich sind die Körper, die nicht kontrollierbar erscheinen.

Mit diesem Buch wurde mir einmal mehr bewusst, wie sehr unser Verständnis von Schönheit und gesunden Körpern durch herrschende Machtverhältnisse geprägt ist und wie stark dieser Einfluss sich auf medizinische Behandlungen auswirkt. Viele unserer Bilder von gesunden Körpern stammen aus kolonialen und faschistischen Ideologien. Der gesunde Körper ist stark, robust und schmerzfrei. Damals wie heute ging es darum, herrschende Machtverhältnisse auf verschiedenen Ebenen zu legitimieren und aufrechtzuerhalten.

Unsere Gesellschaft schliesst Körper aus, die nicht gesehen werden sollen. Körper und Geschichten, die als unzumutbar gelten. Hässlich sind die Körper, die nicht kontrollierbar erscheinen. Die Körper, die nicht im Sinne des Systems funktionieren, die als unberechenbar gelten – all jene Körper, die zu müde, zu fordernd, zu laut, zu da sind.

Hilal beschreibt, wie die Eugenik im 19. Jahrhundert die Gesichtszüge von Sträflingen, Menschen mit psychischen Erkrankungen und rassifizierte Gruppen wie Juden*Jüdinnen vermass. Gesucht wurde nach dem Bösen und Schlechten im Anderen. Indem Menschen nach ihrem Aussehen kategorisiert wurden, wurde ihnen ihre «Minderwertigkeit» als angeboren zugeschrieben. Diese Bilder sind bis heute präsent und beeinflussen unser Handeln.

Eine Studie vom BAG zeigt, dass sich der Gesundheitszustand von migrantischen Körpern und Menschen über die Dauer ihres Aufenthalts in der Schweiz verschlechtert. Die Studie zeigt auch, dass Zahnärzt*innenbesuche für viele Menschen ein Luxus sind – mit schlechten Zähnen gelten wir gesellschaftlich als hässlich. Hässlichkeit wird vor unseren Augen versteckt: «Flüchtlinge werden an einem Ort konzentriert» (in den Worten des österreichischen Innenministers), Drogenabgabestellen und Psychiatrien werden an den Stadtrand verbannt, öffentliche Räume behindern Menschen.

Als Enkelkind nationalsozialistischer Grosseltern wünsche ich mir eine Gesellschaft, die nicht versucht, perfekte Menschen zu formen. Wir müssen uns fragen, wer den gesunden Idealkörper erschaffen hat und wer damit ausgeschlossen wird. Ich entscheide mich dazu, mich mit den Hässlichen, den Ausgestossenen und den Unzumutbaren zu verbünden, bis es diese Kategorien nicht mehr gibt. Ich widersetze mich dem Streben nach dem einen gesunden Idealkörper. Denn der ideale Körper wird niemals für alle erreichbar sein und das soll er auch nicht. Dieser Körper ist geprägt von unserem erlernten Verständnis von Schönheit, Hässlichkeit und Gesundheit.

Wir müssen uns fragen, wer den gesunden Idealkörper erschaffen hat und wer damit ausgeschlossen wird.

Als Ärztin und Patientin wünsche ich mir eine Medizin, die sich fragt, ob etwas aus gesellschaftlichen Normen als krank bezeichnet wird oder aus einem medizinischen Leidensdruck. Ich wünsche mir eine Medizin, die die Bedürfnisse von Menschen sieht und sie dahin begleitet, wo es sich für sie gut und gesund anfühlt.

Mit dem Kollektiv geplaper tun wir genau das: vor ziemlich genau einem Jahr haben wir die Internetplattform geplaper.ch veröffentlicht, auf der Gesundheitsfachpersonen empfohlen werden können, die diskriminierungssensibel arbeiten. Unsere Arbeit zeigt auf, dass es Gesundheitsfachpersonen gibt, die sich der Normierung widersetzen, die Diskriminierung anerkennen und die Menschen hinter ihren Patient*innen und Klient*innen sehen.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Geplaper schafft eine Plattform, auf der wir uns austauschen können – uns erzählen können, wo wir respektvoll behandelt werden. Wir setzen damit ein Zeichen, dass wir nicht mit dem vorherrschenden Verständnis von guter medizinischer Betreuung und einem einseitigen Verständnis von Gesundheit einverstanden sind. Es macht uns stark, uns zu verbünden und für Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und die Behandlung vielfältiger Menschen und Körper einzustehen.