Friedrich Jenni, Berns radikalster Buchdrucker

von Fredi Lerch 2. September 2015

Stefan Humbel war im Rahmen der Historisch-Kritischen Werkausgabe Mitherausgeber von Gotthelfs Kalender-Geschichten. Dabei hat er einen anderen Kalendermacher wiederentdeckt, dem Bern kein Denkmal gesetzt hat.

Zwischen 1840 und 1845 hat Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf beim Buchdrucker Christian Albrecht Jenni in Bern den «Neuen Berner Kalender» herausgegeben. Die Texte, die er als Kalendermann schrieb, liegen samt zwei Kommentarbänden in der entstehenden Edition von Gotthelfs Werken (HKG) bereits vor.

Dieser Buchdrucker Jenni hatte einen Sohn, Friedrich (1809-1849), der die Verlagsbuchhandlung seines Vaters unter dem Namen «Jenni, Sohn» weiterführte. Seit 1840 gab er die Wochenzeitung «Der Gukkasten» heraus, die Friedrich Engels in einem Aufsatz zur Schweizer Presse als einziges qualitativ nennenswertes «Witzblatt» bezeichnete. 1845 und 1846 erschienen bei Jenni zusätzlich zwei Jahrgänge eines Volkskalenders: der «Gukkasten-Kalender».

Stefan Humbel, Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut und ehemaliger HKG-Mitarbeiter, hat nun die beiden Jahrgänge dieses Kalenders in einem Band neu herausgegeben, sorgfältig kommentiert und mit einem Nachwort versehen.

Ein antiklerikaler Aufklärer

Volkskalender seien, so Humbel im Nachwort, «das wohl populärste Genre der Zeit» gewesen sei. Nicht verwunderlich deshalb, dass Jenni selber zum Kalendermann wurde: Er hatte eine Mission. Im «Gruss an den Leser» der Ausgabe von 1845 hielt er fest: «Wir wollen in ernstem und komischem Gewande den Fortschritt anstreben, das Volk aufklären und belehren und rücksichtslos mit den Waffen des Spottes und der Satyre die Volksverdummer, Freiheitshasser, Speichellecker, Egoisten, Philister, Heuchler, vernagelten Köpfe, Selbstbewunderer, Jesuiten sammt ihren Freunden und Consorten angreifen und sie dem Urtheil des Publikums blosstellen.» Unterschrieben hat er diesen Gruss so: «Geschrieben in der Verbannung, d. 15. Okt. 1844».

Auf den Tag genau ein Jahr später datierte er das Grusswort des 1846er-Kalenders unter dem Eindruck der beiden Freischarenzüge gegen Luzern vom 8. Dezember 1844 und dem 31. März 1845. Diesmal schloss er den Gruss mit dem Hinweis, letztes Jahr habe er den Kalender wegen «Pressprozessen» in der Verbannung geschrieben, diesmal «im Gefängniss, weil ich das Werk von Edgar Bauer, ‘Streit der Kritik gegen Kirche und Staat’, gedrukt habe». Jenni war demnach ein antiklerikaler Aufklärer von einer Radikalität, dass er sich auch um die Zensur der gemässigt liberalen Berner Regierung nicht scherte. Humbel positioniert Jennis Verlag «in der radikalliberalen Ecke». Jenni stand, könnte man sagen, ganz am linken Flügel jener freisinnigen Bewegung, die 1847 den Sonderbundskrieg gewann und im Jahr darauf den Bundesstaat Schweiz gründete.

Kontroverse Stimmen zu den Freischärlern

Im Kalender 1846 hat Jenni die Ereignisse des (bedeutenderen) zweiten Freischarenzugs nacherzählt; die Geschichte vom gescheiterten Zug auf Luzern und jene von der «grimmigen Nacht» von Malters, als die Freischärler auf dem Rückzug in einen nächtlichen Hinterhalt gerieten und zusammengeschossen wurden, 28 von ihnen starben. Jennis Darstellung liest sich stellenweise wie eine Kriegsreportage – so parteiisch, wie «embedded journalists» auch heutzutage berichten: «Von allen Seiten, aus allen Fenstern, Dächern, Kellern sprühte es Kugeln auf die Freischärler, die sich aber mit ihren Gewehren, Kanonen und konkrevischen Raketen, so wüthend vertheidigten, daß troz ihrer ungünstigen Stellung, der Sieg fast auf ihre Seite gefallen wäre, endlich aber mußten sie gänzlich erschöpft unterliegen und ihr Feuer einstellen.» (S. 235)

Pfarrer Bitzius, der Kalendermann in Lützelflüh, war dagegen ein konservativer Gegner der bernischen Radikalen und hatte (in unveröffentlichen Notizen zum nicht erschienenen «Neuen Berner Kalender» von 1846) bereits für den Ausgang des ersten, ebenfalls gescheiterten Freischarenzugs vom 8. Dezember 1844 nur Hohn übrig. Zwar seien die Radikalen bis eine halbe Stunde vor Luzern gekommen, «aber dan von selbst wieder heim gelaufen und zwar handlich, sie rühmten nachher, in 18 Stunden 14 gelaufen zu sein, Zeitungen schrieben falsch nach und sagten 18 in 14.» Die Radikalen seien zwar «humane Herren», die die Todesstrafe abschaffen wollten, aber «mit allen möglichen Waffen» losziehen würden, und zwar nicht «gegen Spatzen oder Krähen. O nein – gegen Menschen – gegen Christen – wen auch katholische – gegen eidgenößische Brüder […] Jst das die Cultur der Zeit? Es graut uns vor ihr, an den Granzen [sic!] der Bestialität liegt sie bereit.» (HKG, D-1, «Neuer Berner-Kalender», S. 798 f.).

Prototyp, nicht Marginalie

Die Gegenüberstellung zeigt, wie reizvoll es sein kann, kommentierte Originalquellen nebeneinander einsehen zu können, die die polarisierte politische Situation der 1840er Jahre aufleben lassen. Ein unvermeidliches Problem des monumentalen HKG-Projekts ist es, dass sie in der kommenden Zeit Tausende von Kommentarseiten publiziert, die die 1840er Jahre grundsätzlich über das Erkenntnisinteresse eines zunehmend ressentimentgeladenen pfarrherrlichen Radikalenfressers aus dem Emmental fokussiert (vgl. «Zeitgeist und Berner Geist», 1851). Es ist kein Zufall, das Christoph Blocher am Neujahrsanlass 2011 in Wynigen vorab über Gotthelf referiert hat.

Deshalb ist die Wiederveröffentlichung der beiden «Gukkasten-Kalender» mehr als eine (ausgesprochen schön gestaltete) Marginalie. Sie ist ein nötiger Beitrag zur Relativierung von Gotthelfs Stimme als umfänglich zugänglicher Quelle. Es gab damals im Bernbiet nicht nur Bitzius, sondern viele andere (Fellenberg, die Gebrüder Schnell, Ochsenbein, Stämpfli etc.) – und eben auch Friedrich Jenni. Wichtig wäre, wenn die Forschenden am HKG-Projekt auch die Stimmen von Gotthelfs liberalen und radikalen Gegenspielern mit weiteren Begleitpublikationen wieder zugänglich machen würden. So gesehen ist Stefan Humbels Arbeit zweifellos beispielhaft.

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Als gebürtiger Roggwiler erlaube ich mir noch, darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel auch Johannes Glur (1798-1859) eine Publikation verdient hätte. Er war der Verfasser der «Roggwyler Chronik» (1835), und als Teilnehmer am zweiten Freischarenzug publizierte er die «Huldigung den Freischaaren und Rechtfertigung des Freischaarenzuges vom 8. Dezember 1844 und 31. März und 1. April 1845» sowie die «Notizen und Kritiken: den letzten Freischaarenzug betreffend» (beides 1845). Vermutlich auch deshalb spottete Gotthelf, der Radikalenfresser, im Kapitel 28 der «Käserei in der Vehfreude» 1850 in einem Nebensatz: «[…] er wäre sein Lebtag für einen Narren gehalten worden gleich dem guten Doktor Glux zu Unghoblete.» Im Oberaargau weiss man: Glux heisst Schluckauf und im Klartext meint Bitzius Doktor Glur zu Roggwyl. Das bleibt dem Bernburger Pfaffen unvergessen.