Das Wetter meint es gut mit den Veranstalter*innen: Es regnet. Es ist zwar nur etwas zwischen Nieselregen und leichtem Schauer, was da vom Himmel fällt, aber es verleiht dem Szenario mehr Authentizität. Sollte das nicht reichen, tauchen die Besucher*innen spätestens dann ein, wenn sie an den Bundesweibeln vorbei ins Berner Rathaus eintreten.
«Vielen Dank, sind Sie dem Aufruf gefolgt! Hier ist Ihr Dossier, die Notratssitzung beginnt bald», werden die Besucher*innen am Eingang begrüsst. Auf eine Wand aus weissem Leintuch sind braune Wassermassen projiziert. Auf Bildschirmen läuft eine Nachrichtensendung. Bilder von Überschwemmungen reihen sich aneinander, am unteren Bildrand läuft ein Banner mit Eilmeldungen.
Das angesprochene Szenario: Es ist das Jahr 2037 und eine Jahrtausendflut sucht die Schweiz heim. Weil der Bundesrat in den Jahren zuvor wiederholt Notrecht erlassen hat, wurde die Volksinitiative «Notrecht beschränken, Volk stärken!» angenommen. Die Initiative besagt, dass per Notrecht erlassene Gesetze durch einen aus der Bevölkerung ausgelosten Notrat bestätigt oder mittels Veto blockiert werden müssen. Alle Besucher*innen des Stücks «Die Jahrtausendflut» sind Teil dieses Notrats.
Um die nötige Entscheidungsgrundlage zu liefern, steht dem Teilnehmer*innen ein Panel an Expert*innen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zur Verfügung.
Im Stück geht es darum, zu entscheiden, ob die Schweiz den Grünhelmen beitreten soll, einem Verbund von 143 Nationalstaaten, die sich zur gegenseitigen Unterstützung und Koordination von Massnahmen zur Klimaanpassung, zum Klimaschutz und zur Katastrophenhilfe verpflichtet haben. Die Grünhelme haben der Schweiz in ihrer Notsituation ein Hilfsangebot unterbreitet. Dieses ist allerdings an einen Beitritt zur Organisation geknüpft. Zwei Stunden haben die Teilnehmer*innen Zeit, um sich ihre Meinung zu bilden und am Ende entsprechend abzustimmen.
Ein Heimspiel und ein Comeback
Das Stück «Die Jahrtausendflut» ist eine Zusammenarbeit des Think Tanks foraus, dem Theater- und Gesellschaftsprojekt Proberaum Zukunft sowie Bühnen Bern. Proberaum Zukunft hat sich darauf spezialisiert, fiktive Schlüsselereignisse der Geschichte zu entwerfen, in denen die Versammelten wegweisende Entscheidungen treffen müssen. Pre-Enactment nennt sich dieses Konzept. Insgesamt an vier Abenden haben die Organisator*innen die Debatte zur Jahrtausendflut im Berner Rathaus simuliert.
Um die nötige Entscheidungsgrundlage zu liefern, steht den Teilnehmer*innen ein Panel an Expert*innen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zur Verfügung. Im Fall der Jahrtausendflut sind das etwa die Grünen-Politikerin Regula Rytz, die FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro sowie der ehemalige Abteilungsleiter «Übertragbare Krankheiten» beim Bundesamt für Gesundheit, Daniel Koch. Letzterer tritt als Delegierter des Bundesrates auf. In der Rolle der Nationalratspräsidentin leitet Andrea Sprecher, die Generalsekretärin der SP-Zürich, die Notratssitzung.

Um die Diskussion zu starten und in Gang zu halten haben die Organisator*innen ebenfalls bekannte Politiker*innen gewinnen können. Quasi ein Heimspiel hat beispielsweise FDP-Stadtrat und derzeitiger Stadtratspräsident Tom Berger. Und auch SP-Nationalrat Fabian Molina tritt an jenem Abend and Redner*innen-Pult. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach meinem Rücktritt als Nationalrat jemals wieder an einer Ratsdebatte teilnehmen werde», scherzt er zu Beginn seines Votums.
Das fiktive und doch sehr realitätsnahe Szenario verleitet einige Debattenteilnehmer*innen zu Spässen und Seitenhieben mit Verweis auf die Gegenwart. So richtet ein Redner die Frage an Fabian Molina, weshalb er mit seiner Zustimmung zum Grünhelmbeitritt eine Ausweitung der Dienstpflicht in Kauf nehme, wo er sich im Jahr 2025 doch gegen die «Service-Citoyen-Initiative» ausgesprochen habe. «Damals war nicht klar, wofür der Dienst überhaupt geleistet werden soll», kontert dieser. Zu einem anderen Zeitpunkt heisst es über Borkum, es handle sich um eine «ehemalige Insel in der Nordsee».
Typisch Schweiz
Bei all den Scherzen und Sticheleien droht die Debatte zwischendurch ins Kabarettistische abzugleiten. Dabei handelt es sich beim Szenario um eine ausserordentliche Notlage. Und bei der zu treffenden Entscheidung geht es um das Überleben tausender Menschen. Das ruft Jacqueline de Quattro den Anwesenden an einem Punkt wieder ins Gedächtnis. «Es kommt mir vor, als befänden wir uns in einem Schmierentheater. Ich bitte Sie, die Sache ernst zu nehmen», mahnt sie. Ist das noch Figurenrede oder schon Regieanweisung. Irgendwie beides und die Ermahnung erfüllt ihren Zweck.
Die Klimakrise verursacht hierzulande bereits jetzt jedes Jahr Schäden.
Die Debatte wirft einige interessante Fragen auf. Etwa jene, ob es gerecht ist, wenn klimabewusste Junge Dienst leisten müssen, um die Versäumnisse aus der Vergangenheit auszubügeln. Oder die Frage, ob ein Land in einer Notsituation Hilfe von der internationalen Gemeinschaft erwarten kann, ohne etwas zurückgeben zu wollen. «Erpressung», nennt ein Redner das Angebot der Grünhelme etwa.

Letzten Endes ist die Debatte aber auch einfach sehr schweizerisch. Die Argumente bewegen sich entlang derselben Bruchlinien, die in der hiesigen Politik immer wieder auftreten. Der Hauptkonflikt heisst in diesem Fall Isolationismus versus internationale Zusammenarbeit und Solidarität in der internationalen Gemeinschaft.
Ob ein repräsentativ ausgeloster Notrat zur selben Entscheidung gekommen wäre, wie das Publikum an jenem Abend, bleibt fraglich. Das Format dürfte vor allem bereits Politikinteressierte angezogen haben und in der Stadt Bern wird die politische Schlagseite durchgedrückt haben. Jedenfalls war der Entscheid am Ende überdeutlich: 135 Ja zu 22 Nein bei 9 Enthaltungen. Dies, obwohl die Gegenvoten während der Debatte beinahe präsenter wirkten. Aber auch das gibt in gewisser Weise ein Abbild der Schweizer Gesellschaft: Auch wenn eine laute Minderheit die Debatte prägt, gibt es oft eine schweigende Mehrheit, die sich ihre Meinung unaufgeregt bildet.
Ein äusserst realistisches Szenario
Was in den Tagen danach bleibt, ist das Staunen darüber, wie erschreckend echt und unmittelbar sich die ganze Situation angefühlt hat. Das liegt nicht nur daran, dass die Stimme von Daniel Koch Erinnerungen an eine tatsächliche ausserordentliche Notlage weckt. Und auch nicht an der gekonnten Inszenierung. Das Szenario ist gut gewählt. Die Bedrohungslage durch Hochwasser ist bestens bekannt. Dass es in Zukunft grössere Hochwasserereignisse geben wird, ist äusserst wahrscheinlich.
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Die Klimakrise verursacht hierzulande bereits jetzt jedes Jahr Schäden. Ihre Auswirkungen werden mit den Jahren noch stärker spürbar. Das ist eine Gewissheit, die im Alltag oft in den Hintergrund gerät. Eine Vorstellung, die gedanklich oft in den Bereich einer nebulösen, schwammig umrissenen Zukunft verdrängt wird. Die Inszenierung hat diese Vorstellung in die Gegenwart geholt.
Es ist wünschenswert, dass aus dieser Zukunft ein Sinn für die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit der Bedrohung in die Gegenwart hinübergeschwappt ist. Damit auch in Zukunft Raum bleibt für Scherze und Spässe.
