Eine Gebärmutter für Nadula

von Janine Schneider 11. Juni 2025

Kunsthalle Bern Die Kunsthalle öffnet nach Umbau und Verhüllung mit Kunst, die Ahnen befreit: Die namibische Künstlerin Tuli Mekondjo holt mit der Installation «Onjuo ya Nadula: Nadula’s Sacred Dwelling» ein museales Objekt zurück ins Leben.

Als Tuli Mekondjo ihre Grossmutter zum ersten Mal sah, war sie neun Jahre alt. Bis dahin hatte sie in Flüchtlingslagern in Angola und Sambia gelebt – ihre Eltern hatten sich der namibischen Befreiungsarmee SWAPO angeschlossen, die von 1966 bis 1989 einen Guerillakrieg gegen die südafrikanische Besatzungsmacht führte. Erst Namibia 1990 die Unabhängigkeit erlangte, konnte die Familie in ihre Heimat im Norden des Landes zurückkehren.

Bis heute erinnert sich die Künstlerin an die erste Begegnung mit ihrer Grossmutter: «Eine ältere Frau stand mitten im Omahangu-Feld. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass sie meine Grossmutter ist, aber intuitiv rannte ich auf sie zu und umarmte sie.» Vor allem ihre Hände blieben ihr in Erinnerung: Unglaublich schrumpelig und zerfurcht, wie trockene Flussbetten, von der vielen Arbeit, die sie in ihrem Leben erledigt hatte, von den Kindern, die sie geboren, aber auch von dem vielen Leid, das sie erlebt hatte: So viele der eigenen Söhne und Töchter waren im Krieg gegen die südafrikanische Besatzung getötet worden. «In diesem Moment gab es nur mich, meine Grossmutter und ihre Hände», erzählt Mekondjo, «Das war der Moment, in dem ich begriff, was ich in meinem Leben machen möchte. Dass ich etwas mit meinen Händen erschaffen möchte.»

Die namibische Künstlerin hat sich mit ihren Werken zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Namibia, zur Rückgabe von Kulturgütern und zu den Stimmen der namibischen Frauen in der Geschichte des Lands einen Namen gemacht.

35 Jahre später steht Tuli Mekondjo in einem grossen Raum der Berner Kunsthalle. Die namibische Künstlerin hat sich mit ihren Werken zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands in Namibia, zur Rückgabe von Kulturgütern und zu den Stimmen der namibischen Frauen in der Geschichte des Lands einen Namen gemacht. Wobei sie sich in erster Linie als Vermittlerin zu ihren Ahnen begreift, die fortführt, was diese aufgrund des Krieges und des Kolonialismus nie erschaffen konnten. Ab dem 12. Juni zeigt die Kunsthalle die erste Schweizer Einzelausstellung mit Werken der Autodidaktin Mekondjo. Zeitgleich läuft auch eine Einzelausstellung mit den Werken des US-Amerikaners Melvin Edwards. Begleitet und kommentiert werden die beiden Ausstellungen von einer Installation der jungen New Yorker Künstlerin Tschabalala Self.

Die Traumata des Bodens

Für Mekondjos eigens für die Kunsthalle geschaffenen Installation Onjuo ya Nadula: Nadula’s Sacred Dwelling wurden die Wände blau gestrichen – «wie der weite Himmel Namibias». Der Raum soll zu einer namibischen Landschaft werden, denn nicht nur die Traumata der Menschen und ihrer Körper müssten verarbeitet werden, erklärt Mekondjo, «sondern auch die Traumata des Bodens». In der Mitte des Raumes steht eine niedrige Hütte aus rotem Lehm. Der Lehm ist noch frisch, gerade gestern hat Mekondjo den äusseren Teil der Hütte fertiggestellt. «Solche Hütten werden in Namibia für Rituale um Geburten und Todesfälle verwendet», erklärt sie, «So bleibt zum Beispiel ein Kind nach der Geburt traditionellerweise noch weitere drei Monate in der Hütte, wo es mit den Ahnen bekanntgemacht wird, bevor es in die weite Welt kommt.» Die Hütte ist deshalb für Mekondjo auch eine Metapher für die Gebärmutter – und damit verbunden mit all ihren Vorfahrinnen, die schon in einer solchen Hütte ein Kind geboren haben. Es war auch ihre Grossmutter, die ihr beigebracht hatte, diese Lehmhütten zu bauen.

Wenn wir diese Objekte aus den sehr begrenzten Räumen der Museumsdepots nehmen, geben wir ihnen einen Moment zum Atmen, geben wir auch uns die Möglichkeit, mit diesen Objekten zu interagieren und sie zu verstehen.

Nun soll die Hütte ein temporäres Zuhause für Nadula werden. Nadula ist eine Okana –in der westlichen Ethnografie werden solche Figuren als Fruchtbarkeitspuppen bezeichnet– wie sie vor hundert Jahren oft für Frauen hergestellt wurden. «Wurde eine Frau später schwanger, so nannte sie das Kind nach der Puppe. Es wurde zur Verkörperlichung dessen Geistes.» Ob je ein Kind Nadula getauft wurde, weiss man nicht. Die Puppe landete, wie so viele andere namibische Kulturgüter, in einem europäischen Museum, in diesem Fall im Ethnografischen Museum in Neuchâtel. Hier wurde sie während Jahrzehnten in einer Schachtel aufbewahrt. Ende Mai hat Tuli Mekondjo das Ethnografische Museum in Neuchâtel besucht und sich die Sammlungsgegenstände aus Namibia angeschaut. Nun wird Nadula als Teil der Installation die Hütte bewohnen. «Die Idee ist, ihr ein Zuhause zu geben. Ich will ihr die Möglichkeit geben, sozusagen durch diese Gebärmutter wieder geboren zu werden.»

Moment zum Atmen

Mekondjos Installation wirft auch wichtige Fragen zur Debatte rund um die Rückerstattung von Kulturgütern aus ehemaligen Kolonien auf. Fragen, die sich nicht nur an die europäischen Museen, sondern auch an die namibische Gesellschaft richten: «Wollen wir diese Objekte zurück in unsere Gemeinschaft nehmen und versuchen, die Geister unserer Vorfahren zu besänftigen, die immer noch darin wohnen? Und wenn ja, wie? Sollen wir sie wirklich von einem europäischen Museum übernehmen und sie in Namibia wieder in ein Museum stecken? Was ist dann der Unterschied?», fragt Mekondjo.

Das Bedürfnis, Gegenstände zu sammeln, mit giftigen Chemikalien zu konservieren, damit sie hundert Jahre aufbewahrt werden können, sei etwas sehr Westliches, erklärt sie im Gespräch. Europäische Institutionen sollten akzeptieren, dass Gegenstände nach ihrer Rückgabe vielleicht einen anderen Zweck als den eines musealen Objekts erfüllen würden. Ihre Installation versteht sie denn auch als eine alternative Antwort zur klassischen Rückgabe von Kulturgütern: «Wenn wir diese Objekte aus den sehr begrenzten Räumen des Museumsdepot nehmen, geben wir ihnen einen Moment zum Atmen, geben wir auch uns die Möglichkeit, wirklich mit diesen Objekten zu interagieren und sie zu verstehen.» Es ist auch eine Möglichkeit für Berner*innen, mehr über eine Geschichte zu erfahren, von der die wenigsten hier bisher etwas wissen.

Vernissage: Heute Mittwoch, 11.6., um 19 Uhr | Ausstellung bis 17.8. | www.kunsthalle-bern.ch

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Berner Kulturagenda erschienen.