Das Volk scheiterte an den Ständen

von Christoph Reichenau 30. November 2020

Die Konzernverantwortungsinitiative ist am Ständemehr gescheitert. Warum? Und was bleibt trotz des Scheiterns der Initiative übrig? Ein Kommentar zur Abstimmung.

An der Stadt Bern lag es erfreulicherweise nicht. Rund 60% stimmten ab, gut 9/10 davon per Post, und 74,68% der Stimmenden sagten Ja zur «Konzernverantwortungsinitiative». Das ist wiederum ein eindeutiges Ergebnis, über das man sich freuen darf. Seit Langem hatten die vielen, vielen Fahnen und Transparente in Orange an Balkonen, Gartenzäunen, Mauern keinen Zweifel daran gelassen, dass Bern zustimmen würde.

Auch der Kanton Bern gehört zu den Ja-Sagern. Zwar lag die Stimmbeteiligung mit 48,3% unter jener in der Stadt, wo es auch um die Gemeindewahlen ging, doch 54,6% der Stimmenden standen hinter der KOVI. Doch Berns Standesstimme war mit jenen von Genf, Waadt, Freiburg, Neuchâtel, Jura, Zürich, Basel-Stadt und Tessin in der Minderheit gegenüber den 14,5 anderen Kantonsstimmen.

Es waren die unter 50-Jährigen, die Frauen, die Städterinnen und Städter sowie die mit höheren Bildungsabschlüssen, die gemäss Nachbefragung überdurchschnittlich zum Volksmehr für die Initiative beitrugen (50,7%).

Gründe des Scheiterns

Sie sind deutlich am Ständemehr gescheitert. Nun kann man sich fragen, wie zeitgemäss das Ständemehr ist, wie sehr es der liberalen, offenen urbanen Schweiz schadet. Das ist freilich eine müssige Frage: Die Abschaffung des Ständemehrs wird am Ständemehr scheitern.

Nicht müssig, sondern zentral ist die Frage: Warum ging der Kampf für die Initiative letztlich verloren, die noch vor drei Wochen gute Chancen hatte?

Ich sehe diese Gründe:

  • • Die Kampagne der Gegnerinnen und Gegner, angeführt durch Bundesrätin Keller-Sutter und orchestriert durch die Berner Agentur furrerhugi, verunsicherte mit teilweise unlauteren, ja falschen Aussagen die letzten Unentschiedenen.
  • • Gerade in der Coronazeit wollten Manche keine zusätzliche Belastung oder Unsicherheit für die Wirtschaft, wie die Gegnerschaft dies behauptete. Sie befürchteten Nachteile bei einem schweizerischen Alleingang.
  • • Das Engagement der Kirchen, die geradezu eine christlich-ethische Pflicht zum Ja propagierten, ging Einigen zu weit.
  • • Die Frage, ob und wie weit KMU betroffen sein könnten, liess sich nicht einfach und eindeutig beantworten.
  • • Und den Gegenvorschlag der Bundesversammlung, der eine Berichterstattung der Unternehmen verlangt, qualifizierten die Befürworter schnöde als «Hochglanzbroschüre» ab.
  • • Vor allem aber kamen sich wohl Manche nicht ernst genommen vor, die unsicher waren, Fragen stellten, Zweifel hatten. Das einfache Motto der Initianten, es gehe schlicht um Anstand, war nicht überall hilfreich.

Was bleibt?

Das Ausgreifen der Schweiz in die praktizierte Solidarität im Ausland mit den Mitteln des Rechts ist denkbar knapp gescheitert. Ist also nichts geblieben, ausser dass eine gehässige, teilweise unanständige und sehr emotionale Auseinandersetzung zu Ende ist, in der beide Seiten sich Lügen vorgeworfen haben?

Mitnichten. Es bleiben zwei wichtige Errungenschaften. Die eine ist der Gegenvorschlag, der demnächst in Kraft tritt. Er verpflichtet die Unternehmen ab einer bestimmen Grösse zur Berichterstattung über das, was die KOVI wollte. Das ist sehr viel weniger als es die Initiative vorsah, es ist aber nicht nichts.

Und die zweite, wichtigere Errungenschaft ist die im ganzen Abstimmungskampf von den Gegnerinnen und Gegnern ins Feld geführte Behauptung, auch sie seien für die Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards, auch sie seien gegen Kinderarbeit, auch sie verlangten von den Unternehmen Anstand, Verantwortung, Haftung. Wir dürfen festhalten: Alle wollen das! Daran dürfen und müssen wir ab jetzt Jene erinnern, die beim Volk in der Minderheit blieben und fürs Erste leider doch gewonnen haben.