Politik - Meinung

Bürgerlicher Kollateralschaden

von Raphael Wyss 11. September 2025

Kommentar Wer sich fragt, wieso die Bürgerlichen in den grossen Schweizer Städten kaum mehr Land sehen, findet in ihrer reaktionären Verkehrspolitik einen Teil der Antwort.

Der Entscheid des Bundesrates hat in den letzten Tagen viel zu reden gegeben: Geht es nach der Landesregierung, soll die Einführung von Tempo 30 auf «verkehrsorientierten Strassen» per Verordnung mit zusätzlichen Hürden verbunden werden. Städte- und Gemeindeverband sind erbost über den Eingriff in ihre Souveränität, für den bernischen Verkehrsdirektor Matthias Aebischer grenzen die Pläne an Schikane. Ob der rechtsbürgerlich dominierte Bundesrat Gehör für ihre Kritik hat, ist indes mehr als fraglich.

Die konkreten Folgen der neuen Verordnung – wenn sie denn wie geplant in Kraft tritt – sind derweil noch sehr unklar. So fehlt zum Beispiel eine genaue Definition, wobei es sich überhaupt um eine «verkehrsorientierte Strasse» handelt. Klar ist dagegen, dass Röstis Verordnungspläne in den Städten gar nicht gut ankommen. Die verkehrspolitische Offensive der Bürgerlichen – angestossen von einem freisinnigen Vorstoss im Nationalrat – ist bei genauerer Betrachtung ein schönes Anschauungsbeispiel, wie sich Mitte-Rechts in den grossen Schweizer Städten selbst sabotiert.

Bröckelnde Ideologie

Die offensichtlichen Vorteile von Temporeduktionen im Siedlungsgebiet lassen sich heute nicht mehr präventiv wegdiskutieren. Zu erdrückend ist die Evidenz für ihre positive Wirkung. Auch die Strategie, Temporeduktionen mittels Prozessen bis vor Bundesgericht zu bekämpfen, verliert mit jedem Leitentscheid zugunsten von Tempo 30 an Reiz. Der Kampf gegen Verkehrsberuhigungen, der sich gerade in Bern zu einem Grundmerkmal bürgerlicher Politik entwickelt hat, wird auf Gemeindeebene zusehends schwieriger.

Der Grossangriff auf Tempo 30 könnte genau das Gegenteil des erwünschten Effekts bewirken

Der sich endlich abzeichnende Paradigmenwechsel weg von der autogerechten Stadt, also einer Stadt, die auf die Bedürfnisse des Autoverkehrs ausgerichtet ist, wäre eigentlich eine Chance für die Bürgerlichen gewesen: Sie hätten sich mal unvoreingenommen mit dem Pro und Contra von Verkehrsberuhigungen im Siedlungsgebiet auseinandersetzen und fragen können, ob ihre Opposition dagegen noch sinnvoll und zeitgemäss ist.

Sie wählten einen anderen Weg:  Statt sich auf kommunaler Ebene abzuarbeiten, sollen es nun die oberen Staatsebenen richten, wo die bürgerlichen Ansprüche an städtische Strassen noch mehrheitsfähig sind. In zahlreichen Deutschschweizer Kantonen wurden Initiativen und politische Vorstösse gegen Tempo 30 eingereicht. Und auf Bundesebene hat man per Motion die Verordnungsänderung angestossen, die nun Anlass zu Debatten gibt. Das erklärte Ziel: die Gemeinden an der eigenmächtigen Verkehrsberuhigung ihrer Strassen hindern.

Keine Rücksicht auf Verluste

Die Verlagerung auf die kantonale und nationale Ebene wirkt auf den ersten Blick wie ein kluger Schachzug. Auf den zweiten stellt sich die Frage, wie gut sich die Bürgerlichen ihr Vorgehen überlegt haben. Zum einen könnte der Grossangriff auf Tempo 30 genau das Gegenteil des erwünschten Effekts bewirken: Mit der Thematisierung von Verkehrsberuhigungen werden ihre unbestreitbaren Vorteile nun breit diskutiert – und könnten so in der Prioritätenliste mancher Gemeinde nach oben rutschen.

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Zum anderen dürfte die verbissene bürgerliche Opposition gegen Verkehrsberuhigungen einen indirekten Effekt haben, der nicht zu unterschätzen ist: In den urbanen Gemeinden erleben die Menschen tagtäglich die Vorteile von Temporeduktionen und verkehrsberuhigten Quartieren – wie auch die Nachteile von Tempo 50 auf engen, vielbefahrenen Strassen, wenn man nicht selbst im Auto sitzt. Man muss kein Politstratege sein, um zu erkennen, dass in dieser demografischen Gruppe eine Fundamentalopposition gegen Verkehrsberuhigungen nicht gut ankommt.

Auch in Bern könnte die fortschreitende Politisierung des Themas dazu führen, dass der Druck von links für eine ambitioniertere Verkehrspolitik zunimmt. Der Widerstand der Bürgerlichen ist vorprogrammiert. Ihren Ambitionen, möglichst bald in die städtische Exekutive zurückzukehren, dürfte das nicht helfen – eher im Gegenteil.