110 Werke aus 110 Lockdowntagen

von Rita Jost 28. Juli 2020

Die neuste Galerie Berns nennt sich «concierge». Das passt ganz gut, denn der Raum am Nydeggstalden 7 ist nicht grösser als eine Hauswartsloge. Auf knapp drei Quadratmetern zeigt im Moment Susanne Anliker Collagen, die in 110 Tagen Lockdown entstanden sind.

«Schere, Leim, Papier» ist das Werk überschrieben, und wie viel Leim nötig war für die 110 doppelseitig gestalteten A5-Karten das veranschaulicht ein Glasbehälter am Eingang. Fast 100 leere Klebestifte. Susanne Anliker, die 68-jährige Obstbergbewohnerin hat vor Jahren begonnen, aus den unterschiedlichsten bedruckten Papieren – Prospekte, Kunstkataloge, Geschenkpapier – kunstvolle Karten zu gestalten. Sie schnipselt, zerschneidet und setzt neu zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört und genau deshalb überraschend passt. Und gefällt.

Normalerweise entstehen diese Werke in der Freizeit und werden – oft laminiert – an Freundinnen und Bekannte verschenkt, ab und zu auch an Ausstellungen verkauft. Diesmal haben die Werke eine besondere Geschichte: Sie sind in der Zeit des Lockdowns (16. März bis 11. Mai 2020) entstanden. In den 110 Tagen also, als der geschäftige Alltag, die Hektik, der Verkehr, das Leben draussen allgemein stillstand. Tagelang habe sie geschnitten, geleimt, zusammengefügt und gestaltet, erzählt Susanne Anliker. Aus einer bunten Papiersammlung ist dieses einzigartige Werk entstanden.

Die Ruhe und Ereignislosigkeit dieser Tage haben diese feinste Arbeit offenbar regelrecht befördert. Die Sammlung ist ein wahres Kontrastprogramm zu der Ereignislosigkeit und der kollektiven Abkapselung der Menschen in diesem Frühling. Da verstecken sich Paläste hinter feinsten Papierstreifen, da wachsen Bergmassive aus Swimmingpools, da lugen aristokratische Porträts hinter fein ziselierten Vorhängen hervor. Die Vielfalt ist enorm, die Werke füllen zwei Wände der kleinen Galerie vollständig aus. Die Originale der doppelseitigen Karten können in der Galerie gekauft werden. An der Wand der Minigalerie bleiben sie noch bis Mitte August als Kopie hängen. Jeweils am Dienstag und Donnerstag zwischen 16.00 und 18.00 ist Susanne Anliker in der Galerie anwesend.

Noch ein Wort zum Raum: er ist entstanden bei der Renovation der Häuserzeile am Nydeggstalden. Das Berner Architekturbüro SAJ hat die Häuser umgebaut und den kleinen Raum rechts vom Eingang der Hausnummer 7 sanft renoviert, dh. mehr oder weniger in seinem Urzustand belassen. Niemand wusste genau, wozu er einst gedient hatte. Aber da die ganze Überbauung auf den ursprünglichen Festungsmauern der Stadt stehen, passt «concierge» ganz gut, denn: concierges nannte man im Mittelalter die Burgwächter.