«Wir müssen leben»

von Nina Hurni 20. März 2025

Anti-Rassismus Zu Besuch im Living Room im Breitsch, einem Ort der Platz für Kunst, Gemeinschaft und Widerstand bietet – und für ganz viel Leben. Im Gespräch erzählen die Kollektivmitglieder Claske Dijkema, Nataliia Hradanovych und Mohamed Wa Baile was ihnen der Ort bedeutet.

Als wir in den Living Room eintreten, wird gerade im hinteren Teil, in der Küche Kaffee gekocht und das Gespräch dreht sich um die Vernissage einer Ausstellung der ukrainischen Künstlerin Olga Subotinas. Claske Dijkema erzählt davon, wie sehr sie die schwere Thematik und die trotzdem feierliche Stimmung berührt haben. Nataliia Hradanovych, welche die Ausstellung mitorganisiert hat, sagt: «Wir müssen ja trotzdem leben», und Mohamed Wa Baile erklärt an uns gerichtet: «Deshalb auch: The Living Room! Hier können wir alle, die da draussen immer kämpfen auch einfach mal leben.»

Die Kämpfe, die von den Beteiligten im Living Room ausgetragen werden, sind sehr unterschiedlich. Der Raum ist aus dem Berner Stammtisch gegen Rassismus heraus entstanden, nach einer Weile hat sich aber ein eigenes Kollektiv gebildet und der Raum bietet heute Platz für politische Anliegen aus ganz verschiedenen Themenfeldern. Ein grosses Bücherregal voll von postkolonialer, feministischer und queerer Literatur bildet das «Archiv», von dem alle Leute jederzeit Bücher ausleihen oder ihre eigenen beisteuern können.

Verschiedene Kollektive treffen sich hier für Sitzungen, Künstler*innen nutzen den Raum als Atelier, es finden Ausstellungen und Filmabende statt. Jeden Freitag ist das «Anti-Café», der Raum ist offen und es gibt Kaffee und Essen ohne fixe Preise. Die drei Personen, die sich mit uns zum Gespräch treffen, verbindet trotz vieler Unterschiede, ein gemeinsamer Wille zum Widerstand.

Claske Dijkema ist Dozentin an der Berner Fachhochschule im Departement Soziale Arbeit. Sie beschäftigt sich in der Forschung und privat schon lange mit Marginalisierung, Migration und Rassismus. Als die Black-Lives-Matter-Bewegung an Fahrt aufnahm, publizierte ein Kollektiv von Studierenden in Basel, wo sie damals unterrichtete, ein Statement, das sie sehr berührte. Eine dieser Studierenden war im Living Room aktiv – so lernte sie diesen besonderen Ort kennen und begann nach einer Weile, sich aktiv im Kollektiv zu engagieren.

Der Living Room ist aus dem Berner Stammtisch gegen Rassismus heraus entstanden.

Nataliia Hradanovych ist erst seit zwei Monaten im Kollektiv. Sie ist Künstlerin und Bauleiterin und vor drei Jahren aus der Ukraine in die Schweiz geflohen. Ihren Beruf als Bauleiterin kann sie hier trotz über 20-jähriger Erfahrung nicht ausüben, weil sie keine Stelle bekommt. Dafür hat sie seit ihrer Ankunft in der Schweiz umso mehr Zeit in ihre Kunst investiert. Die Kunst hilft ihr auch, mit der Flut an Emotionen umzugehen. Im Living-Room hat sich eine Community von Künstler*innen aus der Ukraine gebildet, zu denen auch Olga Subotinas gehört, die zu dieser Zeit gerade im Raum ausstellt.

Mohamed Wa Baile ist Mitgründer der Allianz gegen Racial Profiling in der Schweiz. Den Kampf gegen gewaltsame Polizeikontrollen erlebt er schon sein ganzes Leben lang am eigenen Körper, er wurde immer wieder kontrolliert und aufgrund seines Widerstandes auch verhaftet. Er realisierte irgendwann: «Ich kann hier sterben und die Polizei formt dann eine Version von mir, die aggressiv und gewalttätig ist – obwohl ich das nicht bin». Die Allianz begleitet verschiedene Rechtsstreite rund um Racial Profiling. Wa Baile ist ausserdem Bibliothekar und Theaterautor, er hat unter anderem die Stücke «Beautysalon» und «Wer hat Angst vorm Weissen Mann» geschrieben.

Kunst und Gemeinschaft

Kunst ist für das Kollektiv des Living Room ein zentraler Bestandteil des Widerstandes. Kunst sei die beste Art, die Meinung von Leuten zu verändern, weil sie nicht nur Information, sondern auch Emotion ausdrückt, sagt Hradanovych. Kunst werde deshalb immer wieder als Propaganda missbraucht, sei aber auch ein Mittel des Widerstands, weil Schicksale für andere zugänglich gemacht werden können – wie beim Fotoprojekt von Olga Subotinas, das gerade ausgestellt wird. Dieses dokumentiert die Flucht von Subotina und ihrer Familie. Ihre Tochter hatte während dieser beschwerlichen Reise Geburtstag – auf einem Schwarzweissporträt von ihr ist mit rotem Marker ein Luftballon mit «Happy Birthday» aufgemalt. Es ist diese Reibung, die berührt.

Als Akademikerin ist es genau das, was mich in der Kunst interessiert – diese Freiheit.

Für Dijkema ist Kunst eine Möglichkeit, sich jenseits von Sprache zu verständigen und Gemeinschaft zu schaffen. Sie erinnert sich an einen Workshop vom kurdischen Künstler Tuncay Akbaba, der im Living Room ausstellte. In diesem Workshop kamen verschiedene Leute zusammen, die zum Teil erst gerade aus der Türkei in der Schweiz angekommen waren – dementsprechend war keine gemeinsame Sprache vorhanden. Alle malten gemeinsam auf ein grosses Blatt, zuerst verhalten kleine Blümchen an den Rand, dann immer grösser, mutiger, stets ohne Sprache miteinander in Verhandlung.

«Am Ende wurde es ein verrücktes Gemälde, wir bemalten uns gegenseitig die Hände und legten sie aufs Papier», schildert Dijkema die Szene und strahlt dabei. Wa Baile geht darauf ein: «Es ist genau das, was mich als Künstler interessiert, dieser Prozess, nicht das Resultat.» Er erzählt von seinem letzten Theaterprojekt, einem Stück namens «Beautysalon», das in der Dampfzentrale uraufgeführt wurde, und für das er den Text geschrieben hat. «Fast alle die an diesem Projekt arbeiteten, waren Schwarz. Wir haben uns überlegt, wie wir dieses aggressive System durchbrechen können und uns ohne Hierarchien im Kollektiv organisieren und mit Spass arbeiten können. Durch die Kunst fanden wir eine neue Art, zusammenzuarbeiten.»

Dijkema meint dazu: «Als Akademikerin ist es genau das, was mich in der Kunst interessiert – diese Freiheit.» In der Forschung müsse sie sich stets in engen Formen, Regeln und Normen bewegen. Für sie bedeutet diese Freiheit auch, dass sie nicht alles immer kritisch hinterfragen muss. Wenn eine Community einen Film zeigen will, muss sie nicht zwingend einverstanden sein, wenn darin ein nationalistisches Verständnis eines Staates transportiert wird, wo sie als Akademikerin definitiv widersprechen würde.

Widersprüche aushalten

Der Living Room ist Begegnungszone von unterschiedlichen Gruppen. Das geht nicht immer ohne Konflikt. Wa Baile erinnert sich, wie einmal eine Person aus einem Film davongelaufen ist, weil sie ihn problematisch fand. Der Film wurde dann ausgeschaltet und die Person ist zurückgekommen – es gab eine Diskussion. Niemand hat im Kollektiv «das Sagen», was im Raum passieren darf und was nicht. Viel beruht auf Eigeninitiative, wer sich den Raum nehmen will, bekommt ihn. Das hat natürlich auch seine Tücken.

Hradanovych erinnert sich noch genau, wie verwirrt sie anfänglich war, weil ihr nicht klar war, wen sie nun fragen soll, wenn sie ein Projekt im Living Room ausstellen möchte. Sie hat dann alle möglichen Leute gefragt und irgendwann entschied sie: Wir machen es einfach. Im Januar stellte sie gemeinsam mit anderen das Projekt «Turbulence» aus, das sich mit der aktuellen, turbulenten Zeit auseinandersetzt. Andere Leute trauten sich das vielleicht nicht, aber: «Wenn wir alle Entscheidungen gemeinsam treffen, machen wir wahrscheinlich gar nichts», sagt Dijkema. Denn alle arbeiten ehrenamtlich und sind noch anderswo engagiert. Und wenn es ein Problem gibt, dann können sie es immer noch in den gemeinsamen Sitzungen besprechen.

Doch die Frage bleibe, wie sie den Leuten, die Lust haben, etwas zu organisieren, das Gefühl geben, dass sie sich diesen Raum aneignen können, wenn ihr Vorhaben zu den Werten des Living Room passt. Denn es könne nicht alles vom Living-Room-Kollektiv selbst ausgehen.  Das Kollektiv selbst verwendet viel Energie darauf, Sorge zum Raum zu tragen und Geld für die Miete aufzutreiben – ein stetiger Kampf. Der Living Room erhält keine Strukturförderung und muss das Geld deshalb immer wieder aufs Neue zusammensuchen.

Immer wieder kommt also die Frage auf, wie der Living Room noch offener werden kann. Eine wichtige Rolle spielt dabei die rein räumliche Offenheit durch die grossen Fenster. Dijkema und Wa Baile erzählen von Mohamed Abdulkadir, der bei BKW arbeitete und in der Bäckerei oder der Migros sein Mittagessen holte. Dabei ging er immer am Living Room vorbei. Einmal fragte er, ob er sich dazusetzen dürfte. So lernte man sich kennen, es stellte sich heraus, dass er sich in Aarau, wo er wohnt, ebenfalls aktivistisch gegen Rassismus engagiert. Mittlerweile gehört er zum Kollektiv und ist Kassier des Vereins.

Es geht auch darum, Leute zu treffen, die man sonst nicht getroffen hätte, sagt Dijkema. «Viele Leute haben den Eindruck, dass der Living Room ein sehr intellektueller Ort und primär Schwarzen Personen vorbehalten ist. Dabei sollte es wirklich ein Ort für alle sein, mit einer speziellen Betonung auf Leute, die marginalisiert sind», sagt Wa Baile und ergänzt, «während wir draussen kämpfen, können wir hier davon träumen, was wir mit unseren Kämpfen gerne erreichen möchten.»