«Warum braucht es überhaupt eine Statthalterin?»

von Christof Ramser 18. August 2021

Am 29. August wird die Regierungsstatthalterin Bern-Mittelland gekürt. Im zweiten Wahlgang machen Ladina Kirchen (SP) und Tatjana Rothenbühler (FDP) das Rennen unter sich aus. Im Doppelinterview geben sie Einblick in ihre Überzeugungen.

Tatjana Rothenbühler, Sie sind im Wahlkampf oft auf dem Land unterwegs. Wie erklären Sie dort jemandem den Zweck einer Regierungsstatthalterin?

Tatjana Rothenbühler: Jemandem, der noch keine Berührungspunkte mit einer Statthalterin hatte, würde ich erklären, dass es sich, stark vereinfacht ausgedrückt, um eine Art Sheriff handelt, der in den 76 Gemeinden im Verwaltungskreis Bern-Mittelland für gewisse Bereiche verantwortlich ist und das Recht anwendet. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Baubewilligungsgesuchen, bei Events oder in der Gastronomie. Manche haben mehr mit ihm zu tun, während es bei anderen kaum je Schnittpunkte gibt.

Ladina Kirchen, Sie haben zwei schulpflichtige Kinder. Wie geben Sie den beiden zu verstehen, warum es eine Statthalterin braucht?

Ladina Kirchen: Darüber haben wir zu Hause in den letzten Monaten viel diskutiert. Tatsächlich haben die meisten Bürger und Bürgerinnen wenig oder gar keine Ahnung davon, was eine Statthalterin macht. Für Kinder ist es noch viel schwieriger zu verstehen. Deshalb versuche ich es so zu erklären: Es gibt Wahlen und Abstimmungen sowie Projekte, gegen die man Einsprache erheben kann, zum Beispiel im Baubereich. Dafür ist die Statthalterin dann zuständig und prüft, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Am meisten darunter vorstellen kann man sich wohl bei den Gastronomiebewilligungen, wenn also jemand ein Restaurant eröffnen möchte. Oder im Baubereich, bei Lärmklagen, der Denkmalpflege oder in der Sozialhilfe. Die Palette ist also recht breit. Im Gegensatz zu Frau Rothenbühler sehe ich mich aber weniger als Sheriff, sondern vor allem als erste Ansprechstelle und Ombudsperson mit einem offenen Ohr für Gemeinden, Behörden und die Bevölkerung.

Rothenbühler: Die Aufgabe der Statthalterinnen besteht nicht allein im Zuhören. Sie haben die Gesetze anzuwenden, nebstdem haben sie Vermittlerfunktionen.

Im ersten Wahlgang war der Abstand vom ersten zum zweiten Platz mit 15 000 Stimmen doch recht gross. Frau Rothenbühler, wie wollen Sie dies noch aufholen?

Rothenbühler: Nach unseren Analysen vom 13. Juni haben wir festgestellt, dass die Aussichten für den zweiten Wahlgang gut sind. In 63 von 76 Gemeinden des Verwaltungskreises Bern-Mittelland habe ich am meisten Stimmen erhalten. Bereits im ersten Wahlgang haben mich die FDP und die SVP sowie bedeutende Verbände unterstützt, inzwischen auch die GLP, die Mitte, die EDU und deren Jungparteien. Sie bringen damit klar zum Ausdruck, nach 20 Jahren Statthalter von Rot-Grün eine Veränderung herbeiführen zu wollen.

Frau Kirchen hat von den Parteien lediglich SP und Grüne auf ihrer Seite. Reicht dies?

Kirchen: Die Ausgangslage hat sich seit dem ersten Wahlgang nicht verändert. Ich habe in allen grossen Gemeinden sowie der Agglomeration die Mehrheit und in der Stadt Bern gar das absolute Mehr erreicht. Es ist ein super Resultat und hat gezeigt, dass ich auch ausserhalb der rotgrünen Wählerbasis die Menschen abholen kann. Das motiviert mich für den zweiten Wahlgang, ich bin sehr zuversichtlich. Aber es wird kein Spaziergang.

Die Jungfreisinnigen warnen fast wie in feudalistischen Zeiten vor einer «roten Landvögtin». Welche Rolle spielt Ihr parteilicher Hintergrund?

Rothenbühler: Wie meine breite Unterstützung verdeutlicht, spielt meine Parteizugehörigkeit in der Tat keine Rolle. Viel wichtiger für die Auslegung und Anwendung der Gesetze wie auch für die persönlichen Kontakte mit der Bevölkerung, der Wirtschaft und den Verwaltungen ist die Gesinnung, der Werdegang und das Wertesystem der Kandidatinnen. Als Verwaltungsrätin eines Start-up-Unternehmens und Mitglied der Berner KMU kenne ich die Bedürfnisse unseres Gewerbes.

Ihre Unterstützer setzen darauf, dass Sie KMU- und gastronomiefreundlicher agieren als ihr Vorgänger. Verspüren Sie Druck?

Rothenbühler: Nein, überhaupt nicht. Hingegen glaube ich, dass wir in den nächsten Jahren mehr über Baugesuche zu befinden haben, weil nach der Corona-Zeit mehr Menschen das Bedürfnis nach einem «Hüsli» in der Agglomeration oder auf dem Land verspüren. In der Stadt wiederum steigt das Bedürfnis nach Pop-up-Bars, um der Gastronomieszene unter die Arme zu greifen. Für solche Anliegen habe ich grosses Verständnis. Ich würde jedem Gesuch eine Chance geben und meinen Handlungsspielraum zugunsten des Bürgers und der Wirtschaft ausnutzen.

Kirchen: Es erstaunt mich schon, dass nur eine Freisinnige als KMU- und gastronomiefreundlich angesehen wird. Von den ursprünglich drei Kandidaturen bin ich die Einzige mit Berufslehre und habe jahrelang Vollzeit und später während der Studienzeit in der Gastronomie und im Hotelfach gearbeitet. Zu diesen Bereichen habe ich eine sehr grosse Nähe. Das macht mich sehr dienstleistungsfreundlich. Und auch ich bin Verwaltungsrätin, zwar nicht von einem Start-up, aber von einer AG. Nicht zuletzt arbeite ich als selbstständige Anwältin in der Privatwirtschaft. Ich weiss, was es heisst, jeden Franken verdienen und sich auf dem Markt bestätigen zu müssen. Mein Vater hatte eine Baufirma. Ich kenne die Sorgen der Bewilligungsnehmer im Gastro- und Baubereich.

Positionieren Sie sich ebenso baubewilligungsfreundlich?

Kirchen: Als Bewilligungsbehörde stehe ich Baugesuchen grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Dabei gilt es allerdings, die gesetzlichen Bestimmungen
einzuhalten. Ich weiss, dass es im Bauwesen immer um viel Geld geht und deshalb alle froh sind, wenn die entsprechenden Verfahren effizient und zügig durchgeführt werden. Es liegt mir viel daran, dass das Regierungsstatthalteramt die entsprechende Dienstleistung professionell erbringt.

Neben Ihren fachlich unbestrittenen Qualifikationen sind auch menschliche Qualifikationen gefragt. Nun hat Frau Rothenbühler ebenfalls noch Gelegenheit für Werbung in eigener Sache.

Rothenbühler: Neben meiner beruflichen und politischen Erfahrung denke ich, eine hohe Sozialkompetenz mitbringen zu dürfen. Aufgrund meiner Ausbildung in der Compliance und in der Korruptionsprävention habe ich immer wieder mit Menschen zu tun. Ich bin sehr bürgernah und engagiere mich in verschiedenen Vereinen sowie in der Kirche oder der Jugendarbeit. Als Regierungsstatthalterin ist man in vielen Momenten die Person der ersten Stunde und muss bereit sein, mehr als 100 Prozent zu leisten. Zudem muss man sowohl für die städtischen als auch die ländlichen Gebiete ein offenes Ohr haben. Dies kenne ich sowohl aus Köniz, wo ich im Gemeindeparlament zweite Vizepräsidentin bin, wie auch aus dem Emmental, wo wir einen Bauernhof besitzen. Von dort weiss ich, dass die Bedürfnisse auf dem Land komplett anders sind als in der Stadt. Wie bereits in den letzten Wochen werde ich auch bis am 29. August bei Strassenaktionen und Auftritten in Parteien, Vereinen und Organisationen den Kontakt mit den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern in der Stadt und auf dem Land suchen.

Frau Kirchen, wie bestreiten Sie den Schlussspurt im Wahlkampf?

Kirchen: Vor dem ersten Wahlgang habe ich eine grosse Velotour gemacht und war viel in den Aussengemeinden präsent. Im zweiten Wahlgang kann ich diesen Effort nicht leisten und fokussiere mich deshalb auf die Gemeinden, die ich bereits gewonnen habe. Denn anders als am 13. Juni, als zusätzlich die Agrarinitiativen mobilisierten, wird die Wahlbeteiligung viel niedriger sein, auch in der Stadt. Es wird auch für mich schwierig sein, die Wählerschaft zu motivieren. Ich möchte die Menschen aber dennoch mit Präsenz vor Ort und Gesprächen davon überzeugen, dass es wichtig ist, zu wählen.

 

Dieses Interview erschien ursprünglich im Berner Landboten.