Mit Sonnenbrille und einem Eistee wartet die russische Theaterstudentin Mariia Kramar vor dem Progr im Schatten: «Ich fühle mich nicht besonders wohl in der Hitze.» Nicht ganz überraschend: Aufgewachsen in Wladiwostok, lebte sie später in Moskau und St. Petersburg. Sie spricht mit fester Stimme und lässt ihre Botschaften ruhig ausklingen. Eine gewisse Angespanntheit ist ihr aber anzumerken – wegen des Krieges und den Vorurteilen gegenüber in der Schweiz lebenden Russ*innen. Seit etwas mehr als drei Jahren lebt sie in Bern und macht den Master Expanded Theatre an der hiesigen Hochschule der Künste.
Zuvor war sie lange in Moskau und St. Petersburg als Kuratorin einer renommierten Kunststiftung tätig. Ihr Fokus galt der Erinnerungspolitik und Gedenkkultur. Als sie die Vorzeichen des Krieges spürte, meint sie: «Irgendwann wurden die politische Lage und die Staatsideologie so erdrückend, dass ich keinen Kompromiss mehr finden und nicht mehr ehrlich zu mir selbst sein konnte.»
Reenactment als Prinzip
«Was ich heute in Bern auf die Bühne bringen kann, wäre in Russland undenkbar», sagt sie. Denn ihre Masterproduktion «Theatre of The Accused» ist eine kritische Aufarbeitung der sowjetischen Agitationsprozesse der 1920er-Jahre – inszenierte Schauprozesse, die der ideologischen Erziehung dienten. Ihre Performance hat den Anspruch, ein Reenactment, also möglichst nahe den damaligen Gegebenheiten zu sein. Parallelen zur Gegenwart, so lässt sie durchblicken, seien durchaus vorhanden.

Nur über ihre tiefgründige Recherche gelangte sie an die Originaldokumente dieser Schauverfahren. Der unveränderte, aber auf Englisch übersetzte Text dieser Protokolle bildet die Grundlage der Performance.
Mehrere Tage verbrachte Mariia Kramar damit, das Ensemble in die historische Tiefe einzuarbeiten. «Ich habe detailliert erklärt, was das frühe sowjetische Russland war, wie diese Prozesse funktionierten und warum sie stattfanden.» Inszenatorisch arbeitet Kramar mit Reduktion: wenige Tische, Stühle, ein Raum. Sie setzt auf Sprache, Musik und Licht, um Wirkung zu erzielen. Die Aula im Progr sei als Spielort ideal: «Die Prozesse fanden oft in Schulen statt.»
Gerichtsverfahren ähneln Theater
Was sie an den sowjetischen Schauprozessen besonders fasziniert, ist die Schnittstelle von Macht, Recht und Inszenierung. «Ein Gerichtsverfahren ist selbst eine Art Theater», sagt sie. «Es gibt ein Publikum, eine Bühne, es gibt Figuren mit Rollen und Dramaturgie.» Für Kramar liegt darin ein doppelter Vorgang: Jede Verhandlung versucht, ein vergangenes Ereignis zu rekonstruieren – und bleibt letztlich eine Konstruktion. «Wir wissen nie genau, was wirklich geschah. Trotzdem spielen wir es nach, deuten es, verarbeiten es. Das ist die eigentliche Kraft – und auch die Gefahr.»
Mit ihrer Masterproduktion «Theatre of The Accused» will sie nicht nur an Vergangenes erinnern, sondern Mechanismen sichtbar machen, die auch heute für viel Gewalt sorgen. Dass sie es auf die Bühne bringen kann, begreift sie nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Verantwortung.
Dieser Artikel ist zuerst in der Berner Kulturagenda erschienen.