Vor mehreren Jahren war ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich dringend therapeutische Hilfe brauchte. Es war schwer genug, mir das einzugestehen. Von meinem damaligen Arbeitgeber erlebte ich in dieser Zeit einen wenig unterstützenden Umgang mit meiner Situation und spürte deutlich, wie sehr psychische Probleme noch immer stigmatisiert werden.
Ein weiterer Belastungspunkt war es, einen Therapieplatz zu finden. Ich kämpfte mich durch einen riesigen, ermüdenden bürokratischen Dschungel von Webseiten, Formularen und Versicherungsfragen, zusätzlich zu unzähligen ausgebuchten Psycholog*innen und Wartefristen von bis zu einem halben Jahr. Immer wieder stellte sich mir auch die Frage: Kann ich mir diese Hilfe überhaupt leisten?
Es wäre undenkbar, mit einem gebrochenen Bein sechs Monate auf eine Behandlung zu warten. Genau das passiert jedoch bei psychischen Erkrankungen.
Ich bin nicht die Einzige. Viele Freund*innen und Bekannte von mir haben ähnliche oder noch schlimmere Erfahrungen gemacht. Menschen, die dringend psychologische Unterstützung brauchen, scheitern am System. Ueli Stocker, Mediensprecher der Initiative «Psychische Gesundheit für alle», spricht von einer akuten Versorgungskrise: «Die WHO sagt, dass im Jahr 2030 die psychische Gesundheit der grösste Belastungsfaktor für unser Gesundheitssystem in westlichen Ländern sein wird. Wir sind dem nicht gewachsen.» Rund zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung hat mittelgradige bis schwere depressive Symptome, etwa 18 Prozent ist durch psychische Probleme beeinträchtigt. Doch nur etwa zehn Prozent ist in Behandlung. Ein grosser Teil der Betroffenen erhält keine Hilfe, weil es nicht genug Plätze gibt, Therapeut*innen überlastet sind und die Bürokratie blockiert.
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Aus diesem Grund ruft die Initiative «Psychische Gesundheit für alle» am Samstag, 16. August, zur bewilligten Demonstration in Bern auf. Der Zusammenschluss von Fachpersonen, Studierenden und Engagierten will ein klares Signal an Politik, Krankenkassen und Öffentlichkeit senden: Psychotherapie muss für alle zugänglich und bezahlbar sein.
Dazu braucht es kostendeckende und faire Tarife, die psychologische und psychiatrische Arbeit gleich vergüten. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden. Die Kantone sollen sich an den hohen Ausbildungskosten der Psycholog*innen beteiligen, um den Fachkräftemangel zu entschärfen. Bessere Arbeitsbedingungen sind nötig, damit Fachpersonal nicht ausbrennt und die Behandlungsqualität leidet. Und schliesslich braucht es echte Solidarität mit Betroffenen, also mehr Unterstützung und Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das bedeutet, psychische Gesundheit sollte denselben Stellenwert haben wie körperliche Gesundheit.
In der Schweiz erlebt jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens eine psychische Erkrankung. Doch Psychische Gesundheit ist keine private Schwäche. Sie ist eine gesellschaftliche Verantwortung.
Ueli Stocker bringt es auf den Punkt: «Im somatisch-medizinischen Bereich wäre es undenkbar, mit einem gebrochenen Bein sechs Monate auf eine Behandlung zu warten. Genau das passiert jedoch bei psychischen Erkrankungen. Es ist absurd und ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr Menschen mit psychischen Problemen noch immer stigmatisiert werden.»
In der Schweiz erlebt jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens eine psychische Erkrankung. Die Demonstration am 16. August in Bern ist längst überfällig. Das Thema ist so tabuisiert und stigmatisiert, dass selbst ich mich noch schwertue, offen zu sagen, welche Diagnose ich damals hatte. Doch Psychische Gesundheit ist keine private Schwäche. Sie ist eine gesellschaftliche Verantwortung.
Weitere Infos zur Demo am Samstag, 16. August um 14 Uhr in Bern finden sich hier.
Psychische Gesundheit ist keine private Schwäche, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung, schreibt Redaktorin Lucy Schön (Foto: zvg).
